Mehr als Masse: Literatur zum Erbe der Nachkriegsmoderne

Sie machen einen großen Teil des europäischen Gebäudebestands aus und finden in der Denkmalpflege bisher relativ wenig Beachtung: Bauwerke der Nachkriegsmoderne. Vier Bücher, in denen es um die Architektur der Nachkriegszeit geht, stellen wir euch in diesem #BookChat vor.

Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges musste binnen kurzer Zeit viel gebaut werden. Ein beachtlicher Teil unseres heutigen Gebäudebestandes stammt aus dieser Zeit. Die Zeugnisse der jüngeren Vergangenheit werden im Alltag oft nur beiläufig wahrgenommen und sind in den seltensten Fällen vor Zerstörung und Abriss geschützt. Hinzu kommt, dass vor dem Hintergrund der aktuell geführten Nachhaltigkeitsdebatten das Erbe der Nachkriegsmoderne zunehmend auf dem Prüfstand steht. Angesichts der Herausforderungen des Klimawandels werden beispielsweise Energiebilanz und Wirtschaftlichkeit dieser Gebäude im Betrieb kritisiert. Dass es sich bei den Bauwerken der 1950er- bis 1970er-Jahre dennoch um ein erhaltenswertes Erbe handelt, zeigen die folgenden Publikationen.

Reallabor Nachkriegsmoderne

Der umfangreiche Gebäudebestand der Nachkriegsmoderne wurde nicht selten unter Einsatz wenig erprobter Fertigungstechniken errichtet. Die gesellschaftlichen Utopien dieser Zeit und ihre architektonische Manifestation wurden bereits in einigen Ansätzen erforscht. Der praxisorientierten Bauforschung hingegen fehlen verbindliche Strategien zur Erfassung und Bewertung von Konstruktionen, Materialien und Bauweisen. An dieser Stelle setzt dieses Buch an, das für das DFG-Netzwerk Bauforschung Jüngere Baubestände 1945+ herausgegeben wurde. Die Publikation zeigt auf Grundlage laufender Projekte des Netzwerks, bestehend aus Wissenschaftler*innen der Disziplinen Architektur, Denkmalpflege, Kunst- und Bautechnikgeschichte und Bauingenieurswesen mögliche Perspektiven für den Umgang mit dem jüngeren Bauerbe auf.


Auf vier Einführungstexte – unter anderem von Prof. Silke Langenberg – folgen vier Hauptkapitel. Im ersten Teil geht es um Bestandserfassung und -dokumentation, im zweiten Teil werden Entscheidungswege in Bauforschung und Denkmalpflege nachgezeichnet. Der dritte Teil ist den Potenzialen von Großstrukturen gewidmet, und schließlich versammelt der vierte Teil vier Case Studies. Im breiten Themenspektrum der Textbeiträge spiegelt sich der schiere Umfang des Untersuchungsgegenstandes wider. Dieser Sammelband eignet sich vor allem für einen ersten Überblick über die facettenreichen Aspekte im Umgang mit dem Bestand der Nachkriegsmoderne.

The Renewal of Dwelling

Die durch den Zweiten Weltkrieg bedingte Wohnungsnot führte zu einem Bauboom. In der relativ kurzen Phase von 1945 bis 1975 wurde eine Masse an dringend benötigten Wohnungsbauten aus dem Boden gestampft, die heute tendenziell kein gutes Ansehen genießen. Eine Neubewertung der architektonischen Qualitäten dieser Bauten unternehmen die Herausgeber*innen des vorliegenden Buches Elli Mosayebi und Michael Kraus. Auf knapp 400 Seiten arbeiten sie die große Vielfalt, innovative Konzepte und die Experimentierfreude heraus, die vielen Bauten aus dieser Zeit zu eigen ist. Dies tun sie auf zweierlei Art: erstens anhand eines Archivs beispielhafter Wohnbauten in Porto, Lyon, Köln, Leeds, Liverpool, Manchester, Sheffield, Oslo, Zagreb und Athen sowie zweitens anhand einer Textsammlung, die Aspekte des Wohnungsbaus der untersuchten Städte vertieft. Die Publikation überzeugt nicht zuletzt durch das ansprechende Layout, die hochwertigen Fotografien und die präzisen Plandarstellungen. Das historische Material wurde von Studierenden der Technischen Universität Darmstadt im Rahmen des Forschungsseminars „Wohnen in Europa“ gesammelt und von den Herausgebenden umfassend überarbeitet. Im vergangenen Jahr wurde das Buch mit dem „DAM Architectural Book Award 2023“ ausgezeichnet.

System und Serie

In unserer Focus-Ausgabe „Soziale Grundrisse“ berichteten wir bereits über das interdisziplinäre Forschungsprojekt zum Schweizer Systembau der 1940er- bis 1970er-Jahre „System und Serie“. Mit dem Projekt will eine aus sieben Ressorts zusammengesetzte Arbeitsgruppe des ICOMOS Suisse, der Schweizer Unterorganisation des International Council on Monuments and Sites (ICOMOS) Schweizer Bausysteme und Systembauten erfassen. Die vorliegende Abschlusspublikation des Forschungsprojekts ist einerseits ein Nachschlagewerk zu seriell gefertigten Bauten in der Schweiz, andererseits ein Leitfaden für den denkmalpflegerischen Umgang mit ihnen.

In dem Buch finden sich kurze Essays und Interviews zu Geschichte, Soziologie, Konstruktion, Bauphysik, Statik und Denkmalpflege des Systembaus. Dazwischen reihen sich 18 Porträts Schweizer Bausysteme-Hersteller, inklusive jeweils eines gebauten Beispiels. Abgerundet wird die Publikation von einem 36-seitigen Werkverzeichnis, in dem nach Angabe der Autor*innen alle zum Zeitpunkt der Drucklegung bekannten, in der Schweiz realisierten Systembauten tabellarisch aufgelistet sind. Auch dieses Buch hat den „DAM Architectural Book Award 2023“ gewonnen.

„Berlin kommt wieder“

Paul Schwebes und Hans Schoszberger gehören zu den prägenden Architekten im West-Berlin der Nachkriegsjahrzehnte. Karin Wilhelm, Johann Sauer und Nicole Opel widmen ihnen eine über 450 Seiten schwere Monografie, die kürzlich im Jovis Verlag erschienen ist. Die überaus erfolgreiche Zusammenarbeit der beiden Architekten dauert zwar nur zwölf Jahre, brachte jedoch eine für den kurzen Zeitraum erstaunliche Menge an Projekten hervor, wie ein Kartenausschnitt direkt ganz vorne im Buch verdeutlicht. Neben vielen historischen Fotos, Plänen und Dokumenten beinhaltet das Buch einen über 50-seitigen Werkkatalog und Texte. In den Texten widmen sich die Autor*innen unter anderem den Ku'damm-Theatern, ihren Arbeiten für die Gastronomiefirma Aschinger’s und der Entwicklung der Budapester Straße zur Hotelstraße Berlins. Das umfangreiche Bildmaterial lädt dabei zum Stöbern ein, aber auch die Texte sind wissenschaftlich fundiert und angenehm zu lesen. Das Buch ist eine klare Leseempfehlung für alle, die sich für die dichte Architekturgeschichte der West-Berliner Nachkriegszeit interessieren.

Am Freitag, dem 01. März 2024, stellen die Autor*innen ihre Publikation im Bücherbogen am Savignyplatz (Stadtbahnbogen 593, 10623 Berlin) vor. Die Veranstaltung wird von Architekturkritiker Niklas Maak, der auch schon in unserem Alumni-Podcast zu Gast war, moderiert und beginnt 19:30 Uhr. Die Veranstalter*innen bitten um vorherige Anmeldung per E-Mail.