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Soziale Grundrisse

Hoffnungsträger Großwohnsiedlung

Editorial

Hoffnungsträger Großwohnsiedlung

von Sorana Radulescu

Jahrzehntelang verteufelt, in letzter Zeit vermehrt zelebriert: Großwohnsiedlungen erleben ein Revival. Zahlreiche Studien heben derzeit die verborgenen Vorteile dieser Stadtquartiere hervor und zelebrieren sie als Hoffnungsträger in der tief einschneidenden Wohnungskrise, die unsere Städte plagt. Die Siedlungen bieten nun mal eine bedeutende Reserve an Wohnungsbestand an. Wie sieht es jedoch mit der Lebensqualität aus? Idealerweise reproduzieren Großwohnsiedlungen die Qualitäten des verdichteten Innenstadtlebens – kurze Wege, gute Infrastruktur, Vielzahl an Dienstleistungen in unmittelbarer Nähe, öffentliche Räume, hohe Bewohner*innendichte, kulturelle Diversität etc. Doch allzu oft stehen genau die Flächen und Räume, die das soziale Experiment „Großsiedlung“ bestätigen sollten, brach.

Was katalysiert ein dynamisches Nachbarschaftsleben, den kulturellen und generationsübergreifenden Austausch, die Durchmischung der Aktivitäten und die Aneignung der Freiräume? Diese Fragen benötigen Antworten und die einst geprägten Lebensmodelle dürfen nun, ein paar Generationen später, hinterfragt werden. Aus diesem Grund haben es sich zunehmend mehr Städte europaweit zur Aufgabe gemacht, die Potentiale dieser einst verkommenen städtebaulichen Protagonistin zu eruieren. Der Druck durch den Mangel an Wohnraum steigt – und gleichzeitig dazu das Interesse an den facettenreichen Wohnquartieren.

In dieser Ausgabe widmen wir uns dem umfangreichen Themenbereich „Großwohnsiedlung“ indem wir konkrete Teilaspekte anhand von aktuellen Forschungsarbeiten beleuchten. Das Projekt „C/O_____ Forschen mit Kindern und Jugendlichen zur Wohnqualität in den Großwohnsiedlungen“ untersucht den räumlichen Alltag der jungen Generation in peripherischen Wohnquartieren und kommt am Beispiel des Berliner Ortsteils Neu-Hohenschönhausen zu wichtigen Erkenntnissen für eine langfristige Steigerung der Wohnqualität. Im Weiteren befasst sich das Forschungsprojekt „Public Space in European Social Housing (PuSH)“ mit fünf Wohnquartieren der Nachkriegszeit – ein Experimentierfeld für das Zusammenleben in der Diversität, soziale Kohäsion und kulturellen Austausch. Der Frage nach der Messbarkeit der Wohnqualität in Großsiedlungen gehen die Forscherinnen der Studie „Lebensqualität in Großwohnsiedlungen“ nach. Die Ausgabe schließt mit einem konkreten Fokus auf den Schweizer Systembau in dem interdisziplinären Projekt „System und Serie“ ab.

Wie wohnt es sich in Neu-Hohenschönhausen?

Ko-kreatives Erforschen von Lebensrealitäten in Großwohnsiedlungen an der TU Berlin

Text von Johannes Medebach

Wie gestaltet sich der räumliche Alltag für junge Menschen in den Großwohnsiedlungen an unseren Stadträndern? Dieser Frage versucht das Forschungsprojekt „C/O_____ Forschen mit Kindern und Jugendlichen zur Wohnqualität in den Großwohnsiedlungen“ an der Technischen Universität Berlin nachzugehen. Der „Chair for Urban Design and Urbanization (CUD)“ und das „Fachgebiet Planungs – und Bauökonomie/Immobilienwirtschaft“ (pbi) betreuen die Forschungsarbeit, welche auf Grundlagen Citizen Science bzw. Bürger*innenforschung basiert, die Aylin Akyildiz (pbi), Karoline Fahl (pbi) und Steffen Klotz (CUD) durchführen. Im Rahmen des Seminars „Komplexe Wohnrealitäten“ haben Studierende im Sommersemester 2022 ein Ausstellungskonzept realisiert, um die Zwischenergebnisse der bisherigen Forschung einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Im Vorfeld machte sich das Forschungsteam auf in den Osten Berlins, um in der zu DDR-Zeiten errichteten Satellitenstadt Neu-Hohenschönhausen in direkten Kontakt zu den dort wohnenden Kindern und Jugendlichen zu treten. Ziel war es, die Lebensrealitäten der jungen Bewohner*innen in direkter Zusammenarbeit und durch experimentelle Mappings zu erfassen. Durch diese Forschungsmethode entstanden visuelle und auditive Produkte, wie beispielsweise Zeichnungen oder Interviewaufnahmen der Beteiligten. 

Aus der Wohnungsnot heraus

Lange klang das Wort „Wohnungsnot“ nach einem Relikt aus Nachkriegszeiten. Zurzeit ist sie jedoch, gerade in den Großstädten, bittere Realität. Mitte des vergangenen Jahrhunderts hieß die Antwort in fast allen größeren Ballungsgebieten der BRD und DDR auf den Wohnungsmangel: Stadtsatteliten auf der grünen Wiese. Durch präfabrizierte Bauteile konnten schnell und kostengünstig große Volumen an Wohnraum geschaffen werden, was den Neubauvierteln im Volksmund den Namen „Plattenbausiedlung“ gab. Die Ausführung und Belegungspolitik unterschied sich allerdings stark in beiden Teilen Deutschlands - und somit auch die Akzeptanz. In der DDR waren die Wohnungen in den Neubauten wegen ihres, im Vergleich zur vernachlässigten Altbaustruktur im Lande, hohen Komforts bis zuletzt begehrt. In Westdeutschland standen die neuen Quartiere teilweise noch während ihrer Errichtung, seit Beginn der 1970er Jahre, unter heftiger Kritik. Stimmen aus den Medien, und seit dem Aufkommen der Postmoderne auch von Architekturschaffenden selbst, trugen zu einer Stigmatisierung dieser Form der Stadterweiterung bei. Zu unpersönlich und kalt seien die seriell produzierten und gestapelten Wohneinheiten, der entstandene Stadtraum zu monströs, den menschlichen Maßstab gänzlich ignorierend. So geriet die „Platte“, als an den Lebensrealitäten vorbeigeplant, in Verruf. Das Konzept verkam zum Symbol für gescheiterte Stadtplanungsvisionen – man ließ die Siedlungen links und rechts der Städte einfach liegen. Ein Interesse an- und eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem vermeintlichen Auslaufmodell gab es dann einige Jahrzehnte nicht mehr. Heute scheint man angesichts des drängenden Bedarfs an Wohnungen langsam die Berührungsangst vor der Großwohnsiedlung zu verlieren. Das Forschungsprojekt entstand daher aus dem Gedanken heraus, die bisher verborgenen Qualitäten dieser Siedlungen durch die Dokumentation der Wohnrealitäten herauszufiltern, um dieses Wissen für die Weiterentwicklung und die Gestaltung bestehender und neuer Wohnquartiere nutzen zu können. Diese gesammelten Erkenntnisse ermöglichten es den beteiligten Stadtforscher*innen, auf die aktuellen Bedürfnisse (vor allem junger) Bewohner*innen präziser einzugehen. 

Vom eigenen Wohnzimmer bis in die Ausstellung

Zu Beginn des Projektes galt es, die Orte auszumachen, an denen sich junge Menschen in Neu-Hohenschönhausen aufhalten. Die Forschenden begaben sich also in die vorhandenen Jugendclubs und ließen sich von den dort angetroffenen Kindern und Jugendlichen die alltäglichen räumlichen Bewegungen innerhalb der Siedlung auf einer Karte markieren. Schnell zeigten sich grafisch Schwerpunkte. Dazu gehörten zum einen die Jugendclubs selbst. Jedoch als Spitzenreiter der rund 120 Teilnehmenden stellte sich die Shoppingmall „Linden-Center“ heraus. Dieser Ort ist eine zentrale Anlaufstelle für viele Neu-Hohenschönhausener*innen. Vom 04. bis zum 09. Juli 2022 fand schließlich dort, gemeinsam mit den Studierenden des Seminars „Komplexe Wohnrealitäten“, die Installation der bisherigen Ergebnisse statt. Neben den Mappings haben die Beteiligten, deren Alterspanne vom Kind bis zum Mittzwanziger reichte, in separaten Zeichnungen ihre Wohnrealität abgebildet. Es gelang den Kindern sich auf der Karte zu verorten, vor allem ÖPNV Stationen dienten als Orientierungspunkte.  Mit großer Souveränität fertigten mitunter schon die Jüngsten Grundrisse und Planzeichnungen ihrer eigenen Wohnung und Lieblingsorte an. Es zeigte sich ein reges Interesse der Mitwirkenden, sich mit den Forschenden und Studierenden auszutauschen, so Steffen Klotz. Die Freude der Kinder war groß als man die eigene Zeichnung in der Ausstellung im Einkaufszentrum wiederentdecken konnte. 

 

Zusammen Wissen schaffen

Während der Veranstaltung im „Linden-Center“ waren nun alle Anwesenden aufgerufen, am Projekt mitzuwirken und ihr Wohnumfeld zu skizzieren. Dabei fiel den Projektbetreuer*innen auf, dass auch hier vorrangig die jüngeren Menschen gewillt waren, sich durch die angebotenen Methoden auszudrücken. Das Projekt zeigte, dass die Informationen dieser Zielgruppe aufschlussreich für die Erforschung der bisher nur unzureichend untersuchten Lebensrealität in Großwohnsiedlungen sein kann. Erfahrungswerte schienen auf diese Art und Weise niedrigschwellig und mit Spaß für alle Beteiligten tradiert werden zu können. Das Seminar und die Feldversuche stellten erst einen Baustein von „C/O_____ Forschen mit Kindern und Jugendlichen zur Wohnqualität in den Großwohnsiedlungen“ dar. In weiteren Schritten möchte das Forschungsteam bis 2024 die eingeholten Ergebnisse evaluieren und das Projekt weiterführen — Wenn möglich, auch wieder mit Unterstützung der Studierenden. 


Vom Zusammenleben vor der Wohnungstür

Internationales Forschungsprojekt zum öffentlichen Raum in Großwohnsiedlungen

Text von Maximilian Ludwig

Wo finden in Großwohnsiedlungen Begegnungen statt? An welchen Orten kommen hier Menschen zusammen?  Welche politischen und ökonomischen Verhältnisse, welche Akteur*innen und Praktiken gestalten die öffentlichen Räume mit? Diesen Fragen widmete sich ein multidisziplinäres Forschungsteam der Universität Kopenhagen, der Norwegian University of Life Sciences, der ETH Zürich und der Universität Neapel Federico II. 2019 wurde das Forschungsprojekt mit dem Namen Public Space in European Social Housing” (PuSH) begonnen und schon bald, im Herbst 2022, soll es abgeschlossen sein.

Die Wissenschaftler*innen aus den Feldern Architektur, Landschaftsarchitektur, Stadtplanung, Architekturgeschichte, Anthropologie und Soziologie untersuchten ausgehend von ihren Hochschulstandorten lokale Großwohnsiedlungen der Nachkriegsjahrzehnte. Weitere Unterstützung kam von außerhalb der akademischen Welt: Eine Fotografin, Wohnungsbaugesellschaften sowie NGOs haben ihren Beitrag geleistet. Finanziert wurde das Projekt vom Forschungsprogramm Humanities in the European Research Area (HERA) der Europäischen Kommission zur Förderung der Integration.

Ursprünglich verantwortlich für den Schweizer Forschungsteil war Dr. Marie Glaser, die ehemalige Leiterin des ETH Wohnforums (englisch: Centre for Research on Architecture, Society & the Built Environment – ETH CASE).  

Heute besteht das Team am ETH Wohnforum aus der Sozial- und Kulturanthropologin Dr. Eveline Althaus, die im November 2021 die Projektleitung übernommen hat, und der Sozialwissenschaftlerin Leonie Pock. Ebenso haben am Projekt die Ethnologin und Kulturwissenschaftlerin Liv Christensen und die Ethnologin und Stadt- und Wohnforscherin Angela Birrer mitgearbeitet. 

Fünf Fallstudien

Europaweit entstanden in den Nachkriegsjahrzehnten Wohngebiete dieser Art im Dreieck zwischen enormem Wirtschaftswachstum, der dafür erforderlichen Menge an geringbezahlbaren Arbeitskräften und dem damit einhergehenden Bedarf an günstigen Wohnungen. Bezogen wurden sie oftmals von Personen mit geringen Einkommen, die zum Teil als sogenannte „Gastarbeiter*innen“ nach West- und Nordeuropa gelangten.

Das Wohngebiet Fjell im Großraum Oslo, Farum Midtpunkt am Rand von Kopenhagen und Lotto O im Osten Neapels wurden von den Forscher*innen der Partneruniversitäten genau untersucht. Hinzu kamen zwei Schweizer Fallstudien: Tscharnergut in Bern und das auf Basis der dort gesammelten Erfahrungen gebaute Telli in Aarau. Telli wird schon seit längerem an der ETH untersucht: Eveline Althaus hat im Rahmen ihrer Dissertation bereits eine Hausbiografie zu einem dortigen Wohnungsbau verfasst (siehe Infobox).

Beobachtungen in Tscharnergut und Telli

Der Fokus im Rahmen des Forschungsprojekts PuSH lag auf öffentlichen und kollektiven Räumen sowie Begegnungsorten (englisch: sites of publicness) im Hinblick auf die Politiken und Praktiken, die diese hervorgebracht haben und von denen sie geprägt werden. Teil des Projekts war eine fotografische Dokumentation der Areale (siehe Infobox). Cristina Ferraiuolo hat die Forschung an der ETH und auch der anderen Teams als unabhängige Fotografin begleitet. Festgehalten wurden Räume und Szenen des Lebens zwischen den Wohnscheiben: auf den Plattformen und Laubengängen, auf Spiel- und Sportplätzen, in Minigolfanlagen und Streichelzoos, in Werkstätten und Quartierszentren. 

Neben den Beobachtungen vor Ort führte das Team der ETH über 60 Interviews mit Bewohnenden, Quartiersakteuren sowie Mitarbeiter*innen von Verwaltung, Wohnbauträgern und städtischen Behörden. Hinzu kamen Dokument- und Medienanalysen und Kartierungen. Im Fokus standen sowohl Einrichtungen in Innenräumen als auch in Außenräumen, die gemäß den in den 1950er- bis 1970er-Jahren verbreiteten Planungsgrundsätzen als ausgedehnte, durchgrünte Freiräume zwischen hochverdichteten Blöcken und Türmen angelegt wurden. 

Die Forschenden stießen auf Annahmen von Vertreter*innen aus der Wohnungswirtschaft, Planung und Verwaltung darüber, wie sich Gemeinschaften in Wohnsiedlungen bilden sollten. In dem komplexen Gefüge wurden bald die Sozialarbeiter*innen als Schlüsselfiguren erkannt. Sie halfen einerseits, die top-down zur Verfügung gestellten Angebote und Dienstleistungen an die Gemeinschaften in den Vierteln heranzutragen. Andererseits versuchten sie – bottom-up – nachbarschaftliches Engagement zu stärken und einzubinden. Die Wissenschaftler*innen stellen fest, dass der Umgang mit der Diversität der Bewohnenden, vor allem in Bezug auf Sprachvielfalt, Alterung und verschiedene Einkommenssituationen für die Wohnungsbaugesellschaften und Quartierszentren herausfordernd ist. Aus den Fallstudien geht jedoch auch hervor, dass sie kollektiven und öffentlichen Räume in diesem Baubestand zu einem lebendigen und von Bewohnenden geschätzten Wohnumfeld beitragen können. Voraussetzung dafür ist, dass diese Räume instand gehalten, gepflegt und von gemeinschaftsbildenden Maßnahmen begleitet werden, die die Menschen und ihre unterschiedlichen Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen.

Ausstellungen als Austauschplattform

Um die Themen ihrer laufenden Forschung zu vermitteln, organisierten die Wissenschaftler*innen vier thematische Ausstellungen. Gewidmet waren sie jeweils einem Fokus: Dem (bau-)kulturellen Erbe, demokratischen Prozessen, Formen der Informalität oder Politiken und Praktiken in Zusammenhang mit den öffentlichen Räumen in den untersuchten Großwohnsiedlungen. Eine Abschlussausstellung präsentierte Ende April 2022 in Kopenhagen die fünf Fallstudien. Das Ausstellungsformat diente als Basis für die interne Zusammenarbeit und für Diskussionen während der gemeinsamen Workshops.
Neben Postern, Plänen, Modellen und Broschüren, die an den vier Hochschulen zu sehen waren, wuchs eine Online-Ausstellung auf der Webseite des Forschungsprojektes heran (siehe Infobox). Hier erhält eine breitere Öffentlichkeit Einblick in die laufenden Arbeiten. Nach Projektabschluss werden alle Ergebnisse und Publikationen weiter zugänglich sein. 

Das vielfältige Material, das aus dem multidisziplinären Team heraus entstand – Fotos, Videos, Zeichnungen, analytische Karten und Diagramm – kann leicht online verbreitet werden. So besteht die Hoffnung, mit weiteren Beteiligten in den Wohnsiedlungen, aus Planung und Politik, von NGOs und internationalen Forschungsstellen ins Gespräch zu kommen. Außerdem stehen die Wissenschaftler*innen den Menschen und Organisationen in den Quartieren, mit denen sie im Projektverlauf Kontakte knüpfen konnten, bei Anliegen weiter zur Verfügung.

Messbare Wohnqualität

Eine Studie der Frankfurt University of Applied Sciences

Text von Johannes Medebach

Eine Studie an der Frankfurt University of Applied Science, unter der Leitung von Prof. Dr.-Ing. Maren Harnack, Dr.-Ing. Natalie Heger und Mag. Ruth Schlögl am „Forschungslabor Baukultur und Siedlungsbau der Nachkriegsmoderne“ widmet sich der Frage, wie Forschende die Wohn– und Lebensqualität in Großwohnsiedlungen besser mess- und vermittelbar machen können. Das Projekt „Lebensqualität in Großwohnsiedlungen“ versucht neben objektiven auch subjektive Faktoren, aus Sicht der Bewohner*innen zu inkorporieren. So soll sich die Datenlage für deren künftige Entwicklung verbessern.  In einem Feldversuch in der Siedlung Brückenhof in Kassel haben die Beteiligten die neue Methode erprobt. Als Kooperationspartner agierte die GWH Wohnungsbaugesellschaft mbH Hessen, der zahlreiche Großwohnsiedlungen in diesem Bundesland gehören. Dieser Siedlungstyp stellt eine nicht zu unterschätzende Ressource vor dem Hintergrund unser Wohnraumdebatten dar. So liegen mehr als die Hälfte der deutschen Mietwohnungen in Mehrfamilienhäuser der Baualtersklasse 1949-1978.

Ermittlung eines verständlichen Wohnqualitätsindexes

Als Datenbasis nahmen die Forscherinnen die sogenannten „Quartiersprofile“ der GWH Wohnungsbaugesellschaft mbH Hessen zur Hand. Diese vorhandenen Daten sind allerdings nach Angaben der Forschenden wenig praxistauglich, da die Inhalte lediglich über lange Fließtexte und kaum visuell vermittelt werden. Zudem sei die Perspektive der dort wohnenden Bevölkerung nicht berücksichtigt. Das Forschungsprojekt setzt hier an: Neue Kategorien sollen definieren, was die Lebensqualität in Großwohnsiedlungen ausmacht. Daran sind Indikatoren geheftet, die eine Messung ermöglichen sollen. Eine dieser gekoppelten Konstellationen ist beispielsweise die übergeordnete Kategorie „Freiräume“, an die sich die Indikatoren „Grünflächen“, „Orientierung“, „Aufenthaltsqualität“ und „Spielplätze“ andocken. Erklärtes Ziel der Studie ist es, die erhobenen Daten so zu visualisieren, dass sie leichter verständlich in Handlungsräume für die Quartiersentwicklung überführt werden können. In einem Kreisdiagramm sind dann die Kategorien mit den Indikatoren zu einem Wohnqualitätsindex zusammengefasst, aus dem sich relativ einfach ablesen lässt, in welchen Bereichen die Siedlung Verbesserungsbedarf hat. So können dann in der letzten Stufe des Projektes Planer*innen Handlungsfelder für die Praxis ableiten.

Testfeld Brückenhof

Parallel zum Forschungsprojekt setzten sich die Studierende des Master-Studiengangs „Umweltmanagement und Stadtplanung in Ballungsräumen (UMSB)“ in einem interdisziplinären Entwurfsprojekt mit dem Fallbeispiel der Siedlung Brückenhof in Kassel auseinander. Für die Themenbereiche „Kreislauf“, „Zusammenleben im Quartier“ und „Bildung und Kultur“ haben sie strategische Zukunftsszenarien für das Jahr 2030 erarbeitet.

Damit der Wohnqualitätsindex nicht nur auf statistisch ablesbaren Daten fußt, wie etwa dem Mietpreis, haben die Forschenden einen Bewertungskatalog mit offenen und geschlossenen Fragen entwickelt. Der Fragebogen soll subjektive Empfindungen der Bewohner*innen zu ihrem Wohnumfeld einfangen – zum Beispiel ob sie sich in der Nachbarschaft wohlfühlen. Dafür hat sich das Forschungsteam auf die Zusammenarbeit mit den Studierenden des Fachbereichs „Soziale Arbeit und Gesundheit“ eingelassen. Im Dezember 2021 testeten sie den Fragebogen in der Gemeinschaft der Brückenhof Siedlung. Die Befragung zeigte, dass die Mieter*innen durchaus bereit sind, an einem solchen Projekt mitzuwirken. Wichtige Erkenntnisse konnten die Forschenden zusätzlich mit Gesprächen nach Ausfüllen des Bogens erlangen. Die dort erprobte Methodik soll künftig auch in weiteren Großwohnsiedlungen zum Einsatz kommen.

System und Serie

Interdisziplinäres Forschungsprojekt zum Schweizer Systembau der 1940er- bis 1970er-Jahre

Text von Natalie Pawlik

Ursprünglich zur Linderung der Wohnungsnot konzipiert, gerieten sie im Laufe der Zeit in den Verruf, unbewohnbar oder gar menschenverachtend zu sein – seriell gefertigte Großbauten und -siedlungen der Nachkriegsmoderne haben nicht gerade das beste Image. Dass es sich bei den aus vorproduzierten Bauteilen zusammengesetzten Gebäuden um einen interessanten und erhaltenswerten Forschungsgegenstand handelt, zeigt das interdisziplinäre Projekt „System und Serie“ des ICOMOS Suisse, der Schweizer Unterorganisation des International Council on Monuments and Sites (ICOMOS). Erklärtes Ziel der aus sieben Ressorts zusammengesetzten Arbeitsgruppe ist unter anderem die systematische Erfassung von Bausystemen und Systembauten, die in der Schweiz entwickelt und realisiert wurden. Darüber hinaus liegt das Augenmerk auf die sozial- und architekturgeschichtliche Bedeutung dieser Bauten. Das Forschungsteam möchte gleichzeitig die Chancen ihrer Erhaltung beziehungsweise Umnutzung beleuchten und in diesem Zusammenhang die Reparaturfähigkeit, die Instandsetzung und die energetische Optimierung seriell gefertigter Bauten und Bauteile untersuchen. An dem Forschungsprojekt sind Expert*innen verschiedener geisteswissenschaftlicher und technischer Disziplinen von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, der Universität Bern, der Hochschule München, der Technischen Universität Darmstadt und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften beteiligt. Die Forschungsergebnisse werden in einer Publikation und in einer Online-Datenbank veröffentlicht.

Von der Sozialutopie zum unliebsamen Überbleibsel

Die Industrialisierung der Baubranche hat bereits im frühen 20. Jahrhundert eingesetzt. Als wichtige Bewegung in den 1910er- bis 1930er-Jahren ist beispielsweise das „Neue Bauen“ zu nennen, deren Ziel es war, durch Rationalisierung und Typisierung sowie durch den Einsatz neuer Werkstoffe und einer sachlich schlichten Gestaltung eine neue Form des Bauens zu etablieren, bei der Sozialverantwortung eine wichtige Rolle spielt. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte das Bauen mit seriell präfabrizierten Bauteilen einen Boom. Gründe dafür waren zum einen die herrschende Wohnungsnot und zum anderen ausgereiftere Methoden der Vorfertigung, des Transports und der Montage als noch vor ein paar Jahrzehnten. Nach 1945 wurden große öffentliche Bauten wie Schulen, Gemeindehäuser und Kliniken, aber auch Industrie- und Wohnbauten sowie ganze Großsiedlungen oft als Systembauten konstruiert. 1973 bereitete die Ölpreiskrise und ihre ökonomischen Folgen dem Bauboom ein Ende. Die Arbeitsgruppe „System und Serie“ hat den Zeitraum 1940er- bis 1970er-Jahre für ihre Untersuchungen definiert, da in dieser Zeit die meisten Systembauten entstanden sind. 

Heute sind die Schweizer Systembauten vom Abriss bedroht. Wurden sie ursprünglich zur Linderung der Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet, so werden sie heute oft unter diversen Gesichtspunkten negativ bewertet. Seit 2017 befasst sich die Forschungsgruppe damit, die Schweizer Bausysteme und die dazugehörigen Systembauten zu inventarisieren, ihre historische Bedeutung herauszuarbeiten und Ansätze zum denkmalpflegerischen Umgang und zur möglichen Weiter- oder Umnutzung dieser Bausubstanz zu formulieren. Neben der Erforschung, zielt das Projekt auf die Vermittlung dieser Bauwerke und ihrer Bedeutung sowie auf die Erhaltung eines wichtigen Abschnitts der Schweizer Architekturgeschichte ab.

Sieben Ressorts für einen interdisziplinären Ansatz

Inhaltlich gliedert sich die Arbeitsgruppe in insgesamt sieben Ressorts: Soziologie, Architekturgeschichte, Architektur und Konstruktion, Energie und Bauphysik, Baustatik, Denkmalpflege sowie Publikation und Wissenstransfer. Jedes Ressort nähert sich dem Forschungsgegenstand aus einer anderen Perspektive. Dadurch soll der Forschungsgegenstand möglichst ganzheitlich und mit entsprechender Fachexpertise in der Tiefe beleuchtet werden. Beispielsweise kann der Schweizer Systembau der 1940er- bis 1970er-Jahre aus soziologischer Perspektive als soziales Projekt der Nachkriegszeit und als Ausdruck eines damals neuen Verhältnisses zwischen Mensch, Gesellschaft und Technologie begriffen werden. Die soziologische Herangehensweise an das Thema basiert auf der Annahme, dass die gebaute Umwelt, ihre Planung und öffentliche Diskussion als ein Brennglas verstanden werden können, durch das ein damals vorherrschendes, visionäres oder zu optimierendes Menschenbild sowie ideale Gesellschaftskonzepte studieren lassen, heißt es auf der Website des Ressorts. Die Abteilung „Architekturgeschichte“ widmet sich unter anderem den Vorläufern der im Forschungsprojekt untersuchten Systeme und Bauten, die zum exponentiellen Anstieg der industrialisierten Architektur geführt haben. Die Arbeit stützt sich auf die Schriften zeitgenössischer Architekt*innen und Großunternehmer*innen wie Max Bill, Fritz Haller oder Ernst Göhrer. Das „Architektur und Konstruktion“-Team beleuchtet die konstruktive Bandbreite der Projekte im vorgegebenen Untersuchungszeitraum. Anhand konkreter Beispiele ordnet das Ressort konstruktive und architektonische Aspekte den verschiedenen Konzepten zu und arbeitet ihre Nähe zu internationalen Strömungen der Zeit heraus. Charakterisierungen der vorhandenen Materialien, hygrothermische Untersuchungen der Wandaufbauten und Analysen systembedingter Wärmebrücken werden in der Abteilung „Energie und Bauphysik“ durchgeführt. Das Ressort „Baustatik“ prüft exemplarisch fünf ausgewählte Systembauten auf ihre vorhandene Tragsicherheit mit dem Ziel nachhaltige Gesamtlösungen für die jeweiligen Bausysteme zu erarbeiten. Was genau macht den Zeugniswert eines Systembaus aus? Mit dieser Frage beschäftigt sich das Ressort „Denkmalpflege“. Auf den Erkenntnissen der zuvor genannten Ressorts soll eine Methodik für den denkmalpflegerischen Umgang mit dem Untersuchungsgegenstand formuliert werden. Schließlich ist für die Publikation und Vermittlung der Forschungsergebnisse das Ressort „Wissenstransfer“ verantwortlich. Neben der analogen Abschlusspublikation soll es eine Online-Datenbank zu dem Schweizer Bausystem und den daraus entstandenen Systembauten geben.

Nachschlagewerk und Praxisleitfaden

Die im Sommer 2022 erscheinende Abschlusspublikation „System & Serie. Systembau in der Schweiz – Geschichte und Erhaltung“ hat die Arbeitsgruppe einerseits als Nachschlagewerk zu Schweizer Systembauten und Bausystemen erdacht. Sie soll einerseits Denkmalpflege-Fachstellen von Bund, Kantonen und Gemeinden sowie Planungs- und Architekturbüros als Überblick über den Bestand der Schweizer Systemarchitektur dienen. Wissenschaftliche Essays zur Geschichte und zur Bedeutung des Systembaus sowie ausführliche Porträts von Schweizer Bausystemen und in der Schweiz errichteten Systembauten machen sie zudem zu einer interessanten Quelle für die universitäre Forschung und das Studium der Architektur, der Denkmalpflege und verwandter Fachrichtungen. Außerdem soll sie planenden Fachleuten aus der Architektur, dem Ingenieurwesen, der Denkmalpflege und weiteren angrenzenden Fachbereichen als Praxisleitfaden zur Erhaltung und Pflege von Systembauten dienen.