Focus@Campus

Norm und Abweichung

Standardisierung von Mensch und Baupraxis hinterfragt

Editorial

Standardisierung von Mensch und Baupraxis hinterfragt

von Sorana Radulescu

Der 35-jährige gesunde Mann setzt den Maßstab – dieser Ausgangspunkt für die Formulierung von Standards dient der Planungswelt weitestgehend noch als Referenz. Solange diese Persona die Vielfalt der vertretenen Nutzer*innen nicht widerspiegelt, ist die allgemeine Gültigkeit der daraus abgeleiteten Normen fraglich. Die architektonische Praxis ist stark reguliert, entweder durch explizite Gesetzte oder, auf impliziter Ebene, durch ungeschriebene Normen und Konventionen. Das labyrinthische Konstrukt von Normen, Standards und Vorschriften wirkt sich oft hemmend auf die Architektur aus – sowohl in der Planung als auch in der Umsetzung. Normen und Standards setzen idealerweise den Maßstab für Qualität und dienen der Vergleichbarkeit. Sind sie aber nur ein nützliches Planungs-Instrumentarium oder auch ein Vehikel zur Homogenisierung und Diskriminierung von gewissen Nutzer*innengruppen? Von wem und für wen sind die Standards formuliert? Welche eingefahrenen Muster liegen den Normen zugrunde, die infrage gestellt werden müssen?

In dieser Ausgabe nähern wir uns diesen Fragen anhand von drei Projekten. Wir starten mit einem neuen Blick auf das jahrelang unangefochtene Nachschlagewerk „Neufert Bauentwurfslehre“ und spannen den Bogen zur Gegenwart. Der Beitrag beinhaltet einen Bericht über Sarah Gunawans Arbeit in Lehre und Forschung, die eine kritische Betrachtung der diagrammatisch dargestellten Leitlinien, die auf subtile Weise die Produktion von Architektur über Jahrzehnte beeinflusst haben, propagiert. Kurzweilig und prägnant ist der nächste Beitrag: „Es wird wirklich Zeit für Unisex-Toiletten!“, meint Karin Hartmann im Interview über die diskriminierende Auswirkung von Normen und Standards in der Planung. Der dritte Artikel veranschaulicht die Auseinandersetzung mit Standards durch Ungehorsam. Prof. An Fonteyne leitet den Chair of Affective Architectures an der ETH Zürich und fordert ihre Student*innen auf, eingeprägte Konventionen kritisch zu hinterfragen. Ungehorsam ist eine Strategie, um die Auswirkung unsichtbarer Normen und zu erkennen und neu zu formulieren.

Teaserbild: Ausschnitt aus der Collage „NewNormals_Action Figures10“, Bild: Ruchita Chandsarkar und Arisha Shahid

Illusorische Objektivität

Eine kritische Auseinandersetzung mit Ernst Neuferts Bauentwurfslehre

Text von Natalie Pawlik

Was der Duden für die deutsche Rechtschreibung ist, scheint „der Neufert“ für die Entwurfspraxis zu sein: ein praktisches Werkzeug. Das 1936 erstmals veröffentlichte Standardwerk „Bauentwurfslehre“ liegt heute in der 43. Auflage vor und wurde in 22 Sprachen übersetzt. Seit über 80 Jahren ist das Buch vor allem in  Architekturbüros im deutschsprachigen Raum, aber auch darüber hinaus omnipräsent. Demnach erscheint es nicht weiter verwunderlich, dass beispielsweise der Stadtsoziologe Walter Prigge in seinem Buch „Urbanität und Intellektualität im 20. Jahrhundert“ nicht etwa Le Corbusier oder Mies van der Rohe, sondern Ernst Neufert als wohl einflussreichsten Architekten des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Dennoch ist die vermeintliche Objektivität von Nachschlagewerken wie der Bauentwurfslehre kritisch zu hinterfragen – zum einen aufgrund ihrer Entstehungs- und Verbreitungsgeschichte und zum anderen aufgrund der darin eingeschriebenen diskriminierenden Strukturen.


Ambivalenter Entstehungskontext der Neufert'schen Bauentwurfslehre

Sowohl der Bauentwurfslehre selbst als auch ihrem Autor haftet eine nicht zu leugnende Ambivalenz an, denn der Erfolg von Autor und Werk – obgleich praktisches Entwurfswerkzeug – fußt maßgeblich auf dem politischen Kontext der 1930er- und 40er-Jahre. Neufert studierte von 1919 bis 1920 am Bauhaus und war anschließend in leitender Position unter Walter Gropius beschäftigt. In enger Zusammenarbeit mit Gropius beteiligte er sich unter anderem an der Planung der neuen Bauhausgebäude und der Meisterhäuser in Dessau. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten plante Neufert die Auswanderung in die USA. Aufgrund des großen Erfolges seiner Bauentwurfslehre entschied er sich jedoch dazu, in Deutschland zu bleiben.

1939 wurde er von Albert Speer beauftragt, das industrielle Bauwesen zu rationalisieren. Vier Jahre später wurde Neufert Reichsbeauftragter für Baunormung und ein Jahr darauf Mitarbeiter in Speers „Arbeitsstab für den Wiederaufbau bombenzerstörter Städte“. Die nationalsozialistischen Machthaber schätzten und förderten Neufert und seine Bauentwurfslehre. Das NS-Regime machte sich den darin verkörperten Organisations- und Rationalisierungswillen zu eigen, der im Sinne der rechtsradikalen Ideologie steht. Nach dem Zweiten Weltkrieg knüpfte Neufert an seine architektonischen Anfänge an. Die streng funktionalistischen Entwürfe aus dieser Zeit sind von der Formensprache des Bauhauses geprägt.

Problematische Standards

Die Bauentwurfslehre, die der Autor bis zu seinem Tod 1986 selbst überarbeitete, ermöglichte ihm eine erfolgreiche Karriere in der NS-Zeit. Vor diesem Hintergrund muss man sich fragen, ob ein Buch, das bei den Nationalsozialisten auf derartige Anerkennung traf, heute unreflektiert als Standardwerk verwendet werden sollte. Sind die darin dargestellten Normen wirklich so neutral, wie man auf den ersten Blick annehmen würde? Oder werden mit der Verwendung solcher Nachschlagewerke sogar unbewusst problematische Strukturen reproduziert?

Das Buch ist in einem Kontext zunehmender Rationalisierung, Typisierung und Industrialisierung im Bauwesen als Hilfsmittel für Architekt*innen und Studierende entstanden. Neben detaillierten Abbildungen enthält die Bauentwurfslehre Maßangaben, die Planenden als abstrakte Richtlinien dienen sollen. Die Problematik solcher Nachschlagewerke liegt darin, dass sie eine vermeintliche Objektivität suggerieren – die Abbildungen vermitteln den Eindruck neutraler Bausteine, derer man sich für den eigenen Entwurf bedienen kann. Dabei finden sich tatsächlich problematische Darstellungen zum Beispiel im Hinblick auf Geschlechterrollen, den menschlichen Körper oder angemessene Verhaltensweisen in der Bauentwurfslehre wieder.

Eine animierte Kritik architektonischer Nachschlagewerke

Die Architekturforscherin Sarah Gunawan setzt sich in ihrer Arbeit und ihrer Lehre mit der Problematik von Nachschlagwerken wie der Bauentwurfslehre auseinander. Gunawan kritisiert am „Neufert“ vor allem das Menschenbild, das darin als vermeintliche Norm der Entwurfspraxis zugrunde gelegt wird. Folgt man der Neufert’schen Bauentwurfslehre ist der „normale“ Mensch ein junger, gesunder, heterosexueller, weißer Cis-Mann, dessen Körper als Grundlage für die darin propagierten Proportionen dient. Dies ist dahingehend problematisch, da marginalisierte Personengruppen nur wenig bis keine Berücksichtigung finden. Beispielsweise werden Frauen vor allem beim Verrichten häuslicher Tätigkeiten dargestellt. Auch Ältere oder körperlich beziehungsweise kognitiv Beeinträchtigte werden kaum gezeigt. Gunawan zufolge wird durch die unreflektierte Verwendung derartiger Nachschlagewerke die darin enthaltenden Ideale hinsichtlich Körper und Raum fortgeschrieben.

Video: Sarah Gunawan

Die Forscherin macht darauf unter anderem in ihrer Lehre aufmerksam. Gemeinsam mit Studierenden hat sie beispielsweise die Serie „Action Figures“ erarbeitet. Im Rahmen dieses Workshops wurden Collagen angefertigt, in denen sich die Studierenden mit alternden Körpern und den Vorurteilen, die damit assoziiert werden, auseinandersetzten. In dem unabhängigen Forschungsprojekt „Animating Neufert ‚Normals‘ “ deckt Gunawan die diskriminierenden Strukturen auf, die in der Bauentwurfslehre eingebettet sind. Das Ergebnis sind kurze animierte Clips der Zeichnungen. Durch das Bewegtbild werden sexistische und altersfeindliche Tendenzen offensichtlich. Auf diesem Projekt baut die Untersuchung „Decentering Norms“ auf, die ebenfalls in Kooperation mit Studierenden entstanden ist. In diesem Zusammenhang wurden Seiten aus der Bauentwurfslehre mit rotem Stift auf die Bedürfnisse einer Person, die von einer altersbedingten Krankheit betroffen ist, umgeschrieben. Gunawans Arbeit sensibilisiert dafür, dass Bücher wie die Bauentwurfslehre, die Studierenden häufig als praktisches Werkzeug an die Hand gegeben werden, stets kritisch hinterfragt werden sollten.  

Über Roma
ROMA ist die führende Marke für Sonnenschutzsysteme mit höchstem Anspruch an Funktionalität, Ästhetik und Langlebigkeit. Als mittelständisches Unternehmen mit über 1.500 Mitarbeitern ist unsere wichtigste Erkenntnis in mehr als 40 Jahren Unternehmensgeschichte: Wohnen beginnt vor dem Fenster. Mit ROMA Rollladen, Raffstoren und Textilscreens haben Sie die Möglichkeit, das Raumklima, die Lichtstimmung und die Privatsphäre zu gestalten, denn kein anderes Element eines Gebäudes hat darauf mehr Einfluss als der Sonnenschutz.

Es wird wirklich Zeit für Unisex-Toiletten!

Karin Hartmann über Diskriminierung durch Normen

Ein Interview geführt von Sorana Radulescu

Karin Hartmann ist Architektin und Autorin. Sie schreibt, spricht und forscht zu Baukultur und Architektur aus intersektional-feministischer Perspektive: für sie ein Schlüsselthema zur Bewältigung der Klimakrise. Ihre jüngste Publikation „Schwarzer Rolli, Hornbrille. Plädoyer für einen Wandel in der Planungskultur“ (2022, JOVIS Verlag) ist ein präziser und tiefgründiger Einschnitt in den Status quo des Berufsstandes, mit dem Ziel, das eintönige, nicht mehr zeitgemäße Narrativ zu korrigieren. Wir haben uns mit Karin Hartmann über die diskriminierenden Folgen der eingeprägten Standards und Normen unserer Branche unterhalten.

Wie macht sich die männliche Perspektive (und Dominanz) in der Formulierung der Standards im Bauwesen spürbar?

Noch vor wenigen Jahren zierten Frauen im 1950er-Jahre-Outfit den Neufert – immer dort, wo es um Care ging, tauchten sie auf, putzten das Bad, oder sie standen in der Normküche. Sie zu entfernen oder durch männlich gelesene Personen zu ersetzen, war sicherlich zeitgemäß, aber die gesamten Systemgrundrisse und illustrierten Verordnungen als verstetigtes Praxiswissen von Männern sind ja noch da. Ich frage mich schon, wie ein von Frauen entwickelter und fortgeschriebener Neufert aussehen würde – sicherlich anders. 

Welche Auswirkungen hat der Normierungsbedarf auf Nutzer*innengruppen, die dem Standard nicht entsprechen – Frauen, ältere Menschen, körperlich beeinträchtigte Personen usw. ?

Wie etwas normiert wird, wird an einer Bandbreite festgemacht. Das ist in unserer Gesellschaft der gesunde, 35-jährige Mann, also ein kleiner Teil der Bevölkerung. Die Frage ist: Was unterliegt dem Normierungsbedarf und wird so relevant, dass es normiert werden soll? Hier wäre eine geschlechtersensible Untersuchung interessant. 

Faszinierend bleibt, welchen hohen Stellenwert Autos, ihre Wege und Abstellflächen in unserer gebauten Umwelt haben, dabei sind nur ca. 2/3 der Autonutzer Männer, bei der Vorliebe für teure Autos ist die Geschlechterbalance noch ungünstiger. In manchen regionalen Bauordnungen muss pro 30 m2 Bürofläche ein Stellplatz bereitgestellt werden. Mit den Zu- und Abfahrten ist das in Summe dann das halbe Haus. Diese Fläche wird erstellt, um ein privates Luxusgut zu schützen, das andere Menschen und das Klima gefährdet – eine großzügige Subvention via Baunorm. Doch nicht nur das, die Stellplatzmaße in den Untergeschossen bedingen das Stützenmaß und gliedern das ganze Gebäude und seine Fassaden – und mustern unsere öffentlichen Räume. Niemand hinterfragt, welche Kollateralentscheidungen dies mit sich bringt und ob es nicht andere, bessere Verwaltungsgebäude gäbe.

Wie müssten Planende denken und agieren, um möglichst inklusiv, für alle Zielgruppen gerecht zu entwerfen und zu bauen? 

Viele Studien zeigen, dass diverse Teams die besten Ergebnisse erzielen. Aus meiner Sicht ist die Anforderung, Planende sollten sich in alle Lebenslage versetzen eine Überschätzung und gleichzeitig eine Überforderung. Niemand kann sich so detailliert in die Lebensrealität eines*einer anderen hineindenken. Das beste Beispiel sind die Männer selbst: Die Planung ist ja nicht nur durch die Perspektive von weißen cis Männern geprägt, sondern diese sind oft Väter. Nur wirkt diese Erfahrung offenbar nicht tief in die Planung hinein, ansonsten gäbe es in Bezug auf Care weniger Versäumnisse. Diese Beobachtung geht zusammen mit der statistischen Verteilung von Care-Arbeit, die unabhängig von Kindern vorrangig bei Frauen liegt. Menschen planen also offenbar nicht, was sie nicht erleben. Und hier sind wir „erst“ bei binären Geschlechterrollen – die Realität ist ungleich komplexer.

Führen bestimmte Regeln und Normen im Bauwesen zu diskriminierendem Verhalten? Können Sie ein paar Beispiele nennen?

Für Erstaufnahmeeinrichtungen gibt es nach einer relativ kurzen Zeit der Realisierung schon Erfahrungswerte, wie deeskalierender gebaut werden kann. Ein Beispiel ist, für Gemeinschaftsräume jeweils zwei Ausgänge vorzusehen, sodass Konfliktparteien sie getrennt verlassen können. Beim Bau von Gefängnissen werden uneinsehbare Bereiche vermieden, um Wärter vor Übergriffen bestmöglich zu schützen. Wie ist es analog bei Krankenschwestern oder Altenpflegerinnen? Sie sind in ihrem Alltag einer hohen Gefahr von sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Werden ihre Belange in der langen Tradition des Krankenhausbaues angemessen berücksichtigt? Eher weniger. Das beste Beispiel aber bleibt die Toilette. Seit Jahrzehnten werden Witze über die Schlangen vor Frauentoiletten gemacht. Dabei müssen Frauen statistisch in ihren fruchtbaren Jahren öfter zur Toilette und verbringen dort aus Gründen jeweils auch mehr Zeit. Die DIN und Arbeitsstättenrichtlinien sehen jedoch eine Planung vor, die ihnen im Vergleich zu Männern weniger Toilettengänge ermöglicht. So verbringen Frauen weiterhin viel Zeit mit Warten. Es wird wirklich Zeit für Unisex-Toiletten!


Über ROMA
ROMA ist die führende Marke für Sonnenschutzsysteme mit höchstem Anspruch an Funktionalität, Ästhetik und Langlebigkeit. Als mittelständisches Unternehmen mit über 1.500 Mitarbeitern ist unsere wichtigste Erkenntnis in mehr als 40 Jahren Unternehmensgeschichte: Wohnen beginnt vor dem Fenster. Mit ROMA Rollladen, Raffstoren und Textilscreens haben Sie die Möglichkeit, das Raumklima, die Lichtstimmung und die Privatsphäre zu gestalten, denn kein anderes Element eines Gebäudes hat darauf mehr Einfluss als der Sonnenschutz.

Eingeprägte Konventionen hinterfragt

Ein Studio zum ungehorsamen Planen an der ETH Zürich

Text von Sorana Radulescu

„Disobedience – Dwelling on Standards“ nennt sich das Entwurfsthema, mit dem sich Prof. An Fonteyne und ihre Studierenden im Wintersemester 2022/23 auseinandersetzten. Der Titel verweist bereits auf das Spannungsfeld, das die Aufgabenstellung aufbaut. Die in Brüssel ansässige Architektin leitet den Chair of Affective Architectures an der ETH Zürich, an dem das Format der Entwurfsstudios als „Denkraum“ konzipiert ist – ein Raum der kollektiven Reflexion im Umgang mit transdisziplinären Haltungen, Methoden und Perspektiven. 

Normierte Qualität hinterfragt

Die architektonische Praxis ist stark reguliert, entweder explizit durch Vorschriften oder implizit durch ungeschriebene Muster. Normen des Komforts, der architektonischen Erhaltung, Vorgaben der ökologischen Leistung, Standards des Wohnungsmarktes – alle beeinflussen und steuern den Planungsprozess. Sie resultieren aus gesundem Menschenverstand, der Forschung, der guten Praxis, aber auch der Lobbyarbeit. Sie sind sowohl politisch als auch technisch. Indem man versteht, wie man sie nutzt und hinterfragt, entwickelt man eine kritische Haltung – davon ist An Fonteyne überzeugt. In dem Entwurfsprojekt „Disobedience – Dwelling on Standards“ stellte sie ihren Studierenden die Frage: Inwiefern kann man Qualität regulieren? Dadurch fordern die Lehrenden ihre Student*innen auf, neue Kriterien zur Definition von Wohnqualitäten zu formulieren, die sich nicht unmittelbar aus einem Normenwerk ableiten.

Das Gerüst der impliziten und expliziten Normen

Das Studio zielte darauf ab, den Studierenden die Handlungsfähigkeit des Architekturberufs zu verdeutlichen. Ein Beruf, der oft in Gefahr läuft, in einem Geflecht von Regeln und Vorschriften zu erstarren. Obwohl sie unsichtbar sind, bestimmen letztendlich diese Vorschriften, wie Menschen leben, wohnen und sich Räume aneignen. 

Die Lehrenden wiesen auf den Unterschied zwischen impliziten und expliziten Normen und Standards hin. Implizit sind diejenigen Standards, von denen wir als Individuen geprägt sind und die in unsere Planungsentscheidungen einfließen. Das Nachschlagewerk „Träume von Räumen“ des französischen Schriftstellers George Perec eröffnete den Studierenden die Möglichkeit, eingefahrene Konventionen anders zu betrachten und das Leitprinzip der Organisation des menschlichen Alltags in zeitlichen und räumlichen Abfolgen zu hinterfragen. Perecs Beobachtungen offenbaren die Absurdität bestimmter Normen und deren Einfluss auf bestimmte Lebensweisen. Des Weiteren konfrontierten sich die Teilnehmenden des Studios mit den expliziten Standards, die in Regeln und Vorschriften verankert sind und mit spezifischen Vorstellungen von Schutz und Qualität einhergehen. Oft sind es gerade diese Standards, die einer spezifischen Qualität im Wege stehen. 

Eine Exploration des Vorgefundenen

In Antwort auf den steilen Zürcher Trend zur Nachverdichtung wählten die Lehrenden vier Bauplätze aus, auf denen der Ausbau bestehender Strukturen neue Qualitäten hervorbringen könnte. Bestehende Gebäude dienten hierfür als Raumspeicher, um über facettenreiche Formen des Zusammenlebens nachzudenken. Die sinnliche Erforschung der Sites durch Zeichnen, Lesen, Riechen, Hören, Berühren sowie durch den direkten Kontakt zu den Anwohnenden half den Studierendenteams, ein gutes Verständnis für die untersuchten Orte zu entwickeln. Der Umgang mit den bestehenden Gebäudestrukturen warf spannende Fragen nach dem Wert eines Gemeinschaftsraums, dem Anspruch nach Komfort oder der Annäherung und Bewegung im Raum auf. In diesem Zusammenhang konnten die Studierenden auch erkennen, wo anfallende Vorschriften und Normen hilfreich oder kontraproduktiv wirkten. 

Von der diskreten Einbettung der Interventionen auf den jeweiligen Bauplätzen bis hin zur Erwägung tagesspezifischer Routinen und häuslicher Einrichtungsdetails zeugten die resultierenden Projekte von einem hohen Maß an Sensibilität. Die Zweierteams entwickelten ihre Entwürfe vom städtebaulichen bis hin zum feinkörnigen Detailmaßstab. Das Verständnis für den Ort, für die Auswirkung der baulichen Eingriffe, für die Materialität und Details lassen sich in den erarbeiteten Formaten – in den Plänen sowie in den Modellen – konsequent spüren. 

Aufruf zum Ungehorsam

Das Team am Chair of Affective Architectures hatte es sich zur Aufgabe gemacht, (angehende) Architekt*innen auf die Tragweite scheinbar nützlicher Vorschriften aufmerksam zu machen. Aber wie lassen sich die vorgegebenen Standards hinterfragen? Die Chance liegt im subtilen Ungehorsam.

Der Ungehorsam mag im Widerspruch zur Position der Architekturschaffenden stehen, die berufsbedingt lösungsorientiert, kompromissfreudig und pflichtbewusst sind – betonte An Fonteyne in der Einführung der Entwurfsaufgabe. Ein ungehorsames Verhalten bietet jedoch Möglichkeiten: Einerseits die Standards des Wohnungsmarktes infrage zu stellen, andererseits aber auch zuzulassen, dass man scheitert und Risiken eingeht – insgesamt eine befreiende und erhellende Haltung, die den kreativen Prozess katalysiert und die Strenge der Normen relativiert. Das Studium von Referenzprojekten – unter anderem der Wohnkolonie für alleinstehende Frauen im Letthof, der Rotach-Häuser oder dem Atelierzentrum Gockhausen – verhalf dem Verständnis, dass Ungehorsam auch auf leise und subtile Art stattfinden kann. Die untersuchten Gebäude veranschaulichten, wie ihre technische und soziale Leistung von äußeren Bedingungen und Vorgaben beeinflusst wird.

Eine transdisziplinäre Betrachtung

Parallel zum Entwurfsprojekt „Disobedience – Dwelling on Standards“ fand am Lehrstuhl die Vortragsreihe „You're Not My Type“ statt, die das Leitmotiv des Ungehorsams anhand der Positionen zahlreicher Gäste weiter deklinierte. Dadurch entstand ein wertvoller transdisziplinärer Austausch zu den Kernfragen: Wofür stehen die (Bau)Normen eigentlich? Welche Projektnarrative und Typologien produzieren oder erzwingen sie? Welche Arten von Architekturen werden möglich, wenn wir uns entscheiden, ungehorsam zu sein? Internationale Architekt*innen, Kurator*innen und Forscher*innen wie Giovanna Borasi, Khensani de Klerk, Anne Lacaton oder Anna Puigjaner lieferten wertvolle Einblicke in verlockende Methoden des Ungehorsams, um Architekturen entstehen zu lassen oder zu erhalten.

Über Roma
ROMA ist die führende Marke für Sonnenschutzsysteme mit höchstem Anspruch an Funktionalität, Ästhetik und Langlebigkeit. Als mittelständisches Unternehmen mit über 1.500 Mitarbeitern ist unsere wichtigste Erkenntnis in mehr als 40 Jahren Unternehmensgeschichte: Wohnen beginnt vor dem Fenster. Mit ROMA Rollladen, Raffstoren und Textilscreens haben Sie die Möglichkeit, das Raumklima, die Lichtstimmung und die Privatsphäre zu gestalten, denn kein anderes Element eines Gebäudes hat darauf mehr Einfluss als der Sonnenschutz.