Editorial
Umnutzung monofunktionaler konsumorientier Strukturen
Editorial
Umnutzung monofunktionaler konsumorientier Strukturen
Rund sieben Monate lang wurde aus einem ehemaligen Geschenkartikelladen im Einkaufszentrum WILMA Shoppen in Berlin-Charlottenburg ein experimenteller Lern- und Lehrraum. Von Dezember 2021 bis Juni 2022 nutzten FU Berlin, TU Berlin, HU Berlin und Charité – Universitätsmedizin die 380 Quadratmeter große Ladenfläche, um einen neuen Raum für den Dialog zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft zu eröffnen. Von Panel-Diskussionen und Vorträgen bis zu Science-Slams und Reparaturcafés: Bei vielfältigen Veranstaltungen konnten Besuchende der Shoppingmall aus dem Habitus des Konsums ausbrechen und an gesellschaftlich relevanten Debatten wie soziale Stadtentwicklung, Zukunft der Lehre an den Universitäten oder nachhaltiger Konsum und Produktion teilnehmen.
Das Forschungsprojekt Mall Anders des Berliner Exzellenzverbundes Berlin University Alliance wurde von der Stabsstelle Transdisziplinäre Lehre der TU Berlin initiiert, kuratiert und ausgewertet. Das NBL (Natural Building Lab) der TU Berlin war für die Gestaltung, Umsetzung und Programmleitung zuständig, die in Zusammenarbeit mit Studierenden erfolgte.
Vom Einzelhandel zum Realexperiment
Infolge der Corona-Pandemie waren viele Einkaufszentren von Leerstand betroffen – so auch das WILMA Shoppen in Berlin. Ein Einzelhandelsgeschäft für Geschenkartikel sah sich im Zuge dessen gezwungen, Insolvenz anzumelden. Die ehemaligen Betreiber*innen ließen kurzerhand die gesamte Innenausstattung zurück: Regale, Beleuchtung, Kassensysteme, Waren. Im Rahmen eines Seminars des NBL verwendeten Studierende das vorgefundene Material, um eine räumliche Infrastruktur für die Ladenfläche zu entwerfen und zu bauen, die für unterschiedliche Arten von Veranstaltungen flexibel nutzbar sein sollte. Das Projekt sollte so dem Anspruch des NBL gerecht werden, Wissensproduktion außerhalb des akademischen Rahmens zu ermöglichen. Nach einer sechswöchigen Bauphase öffnete die Mall Anders am 01. Dezember 2021 ihre Glasfassade für Besucher*innen.
Ein Ort für transdisziplinäre Wissensproduktion
Die Initiator*innen des Projekts verfolgten das erklärte Ziel, dem Wechselspiel pluraler Wissensressourcen Raum zu geben, unterschiedliche Wissensformen aufeinandertreffen zu lassen und Interaktionen zu ermöglichen, die andernfalls nicht zustande gekommen wären. Unter den Nutzer*innen befanden sich vor allem Studierende, Personen aus Spitzenforschung und Zivilgesellschaft sowie Künstler*innen. Die Lern- und Interaktionsformen, die in dem umfunktionierten Ladenlokal stattfanden, waren vielfältig.
Die Veranstalter*innen haben rückblickend grob vier Arten der Raumnutzung identifiziert. Im Alltagsbetrieb fand kein angekündigtes Programm statt. Während dieser Zeit stand ein Teammitglied an der Rezeption, um Besucher*innen zu betreuen und Fragen zu beantworten. Eine weitere freie Nutzungsform ist das sogenannte „Offene Haus“. Hierbei dienten die Räumlichkeiten als ein öffentlich zugängliches Co-Working-Space. Interessierte konnten so den Studierenden, Künstler*innen und Wissenschaftler*innen bei ihrer Arbeit über die Schulter schauen. Akteur*innen aus dem Wissenschafts- und Kulturbetrieb nutzten die Mall Anders oftmals als Austausch- und Reflexionsforum für Workshops und Tagungen. Maßgeblich wurde das Programm jedoch von kuratierten Veranstaltungen bestimmt, die explizit auf Interaktion ausgerichtet waren. Dabei kündigten die Kooperationspartner*innen ihr Vorhaben über die Online-Präsenz des Projekts an und planten und gestalteten das Event eigenständig.
Irritation im Konsumstrom
Kaufhäuser und Einkaufszentren sind in erster Linie Orte des Konsums. Sie sind darauf ausgelegt, Menschenmassen anzulocken und zum Kauf zu verführen. Befürworter*innen argumentieren, dass sie Orte wirtschaftlicher Revitalisierung und Foren städtischer Öffentlichkeit sind. Heute stehen sie oftmals in der Kritik, unter anderem kleinteilige Stadtstrukturen zu verdrängen und der Vielfalt des Einzelhandels zu schaden. Als Stadtteilcenter ist das WILMA Shoppen zwar auch, aber nicht ausschließlich dem Einkauf verschrieben. Es beherbergt außerdem Nahversorgung, Gastronomie, kommunale Services und Sporteinrichtungen. Die Unterbringung universitären Arbeitens erschien den Initiator*innen von Mall Anders daher als anschlussfähige Erweiterung.
Das Projekt hinterfragt indirekt die Daseinsberechtigung und die Funktion von Einkaufszentren. Die dort stattfindenden Veranstaltungen setzen voraus, dass die Besucher*innen nicht nur als Kaufkraft, sondern als Mitgestalter*innen der Einrichtung betrachtet werden. Dies führte unweigerlich zu Konflikten mit anderen Ladenbetreiber*innen. Sie nahmen das Angebot der Studierenden als störende Irritation im Konsumstrom wahr.
Lernerfahrungen der Initiator*innen
In der siebenmonatigen Zeit ihres Bestehens fanden in der Mall Anders über 250 Veranstaltungen statt, deren Themenspektrum breit gefächert war. Nach den sieben Monaten stellte sich die Frage, welche Lernerfahrungen Nutzer*innen, Besucher*innen und Initiator*innen aus dem Projekt mitnehmen. Um das herauszufinden, hat das Universitätsteam Passant*innen und Nutzer*innen befragt sowie Reflexionsworkshops durchgeführt. Im Großen und Ganzen bewerteten sie das Projekt durchaus positiv. Die Mall Anders wurde als ein überraschendes Lern- und Begegungsangebot wahrgenommen, das eingeübte Raumerwartungen aufbricht. Die Veranstalter*innen berichteten darüber, dass sie an die Grenzen ihrer Sprachfähigkeit gestoßen sind. Wie erzähle ich von meiner Forschungsarbeit, wenn ich nicht vor Wissenschaftler*innen spreche? Wie erschließe ich meine Zuhörer*innenschaft, wenn ich nicht weiß, welche Hintergründe sie mitbringt? Dies sind Fragen, mit denen sich die Referierenden zwangsläufig auseinander setzen mussten. Für das Projektteam bestand eine zentrale Lernerfahrung in der Gestaltung der räumlichen und sozialen Schwelle zwischen innen und außen. Dabei galt es unter anderem Zugänglichkeit zu signalisieren, Neugier zu wecken und gleichzeitig die Sorgen von Vereinnahmung auszuräumen.
Das Projekt erwies sich als komplexes Unterfangen, die das Team vor einige Herausforderungen stellte. Was ursprünglich als Serviceleistung der Universitätsmitglieder für die Gesellschaft mit dem Ziel der Wissensproduktion und -kommunikation intendiert war, stellte sich als wertvolle Lernerfahrung für die Universitäten selbst heraus. Nicht nur seitens der Gesellschaft muss sich etwas ändern, damit ein transdisziplinärer Lernort erfolgreich betrieben werden kann. Auch die Wissenschaftskommunikation muss dahingehend weiterentwickelt werden, dass akademische Inhalte auch fachfremden Personen und Nicht-Wissenschaftler*innen zugänglich gemacht werden.
„Alles unter einem Dach“ – Das Motto der großen Warenhäuser, die ihren Ursprung im 19. Jahrhundert hatten, ist Programm: von Nähgarn und Tintenfüller bis zu Koffer und Bekleidung sind unterschiedliche Sortimente an einem zentralen, mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbaren Ort erhältlich. Meist in Kombination mit Supermarkt, Ärztezentrum, Post oder Apotheke. Unter einem Dach befindet sich sowohl die Beratung und Fürsorge der Verkäufer*innen als auch derjenigen, die Logistik und Technik der Großstrukturen instandhalten und pflegen. Nicht selten entstehen langjährige Beziehungen zwischen Kund*innen und den Mitarbeitenden. Das wurde kurz vor der Schließung des Galeria-Warenhauses in Braunschweig deutlich. Der Eingangsbereich und die Schaufenster waren mit hunderten gelben Blättern beklebt, auf denen die Stadtbewohner*innen ihre Gefühle und Gedanken zur Schließung des Hauses im Herbst 2020 zum Ausdruck brachten. Teilweise handelte es sich um Bedauern für die Mitarbeitenden, teilweise waren es sehr persönliche Nachrichten, und manche schrieben: „Hier hatten wir doch alles unter einem Dach“ oder „Wo sollen wir jetzt hingehen?“.
Initiatorin der Aktion war die Betriebsratsvorsitzende von Galeria Braunschweig Ute Jordan. Mit ihr sprachen wir einige Monate nach der Schließung im Rahmen des Seminars „Warenhaus Andershaus“ am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt, TU Braunschweig. Sie erzählte und von einer WhatsApp-Gruppe mit ca. 80 ehemaligen Mitarbeitenden, von denen bisher nur fünf eine neue Anstellung gefunden hätten. In der Gruppe, so Jordan, tauchte immer wieder der Impuls auf, das Haus in Selbstverwaltung weiterzuführen. Als die Schließung bekannt wurde, fehlte es jedoch an Unterstützung.
Signa Holding, Eigentümer von Galeria Karstadt Kaufhof, plante 2020 deutschlandweit die Schließung von 47 Filialen und die Entlassung von 4.000 Mitarbeitenden. Auch aktuell sind weitere 47 Schließungen in Gange – bald werden von ursprünglich 172 Warenhäusern 2020 nur noch 82 übrig sein. Der Konzern ist ein Immobilienkonzern, der die Warenhäuser sukzessive seit 2014 aufkaufte. Wo er auch im Besitz der Immobilien ist, werden die Gebäude zu Büros umgebaut, wo es andere Eigentümer*innen gibt, stehen die Gebäude leer oder werden umgenutzt. Doch eines ist klar: Der Immobilienkonzern ist nicht an Warenhäuser oder der Nahversorgung interessiert. Das ist ein Grundproblem, denn es besteht eine Abhängigkeit der sorgenden, städtischen Infrastruktur von den Konzern-Interessen. Wenn die Warenhäuser in Zukunft Räume einer gemeinwohlorientierten Nahversorgung bleiben sollen, steht die Eigentumsfrage im Zentrum des zu lösenden Problems.
Seither gibt es eine breite Auseinandersetzung mit der Zukunft der Warenhäuser. Viele Entwürfe und Überlegungen zur Umnutzung und zum Umbau der großen Häuser gehen aber nicht mehr von Versorgungsinfrastrukturen aus bzw. von Orten, die Menschen mit Gütern des täglichen Lebens versorgen. Ausgangspunkt des Seminars hingegen war das „Andershaus“ – ein Warenhaus, das die Versorgung anders und als Teil des städtischen Zusammenlebens organisierte: gemeinwohlorientiert, klimagerecht, sozial gerecht. Dabei wurden zwei Dinge als vorhanden verstanden: der gebaute Raum mit seinem gesellschaftlichen Nutzungszweck – der zentralen Versorgung – und der soziale Raum mit den Menschen, die diesen instandhielten, umsorgten, belebten und ihre Lohnarbeit verrichteten: den Mitarbeitenden. D. h., es gab eine gewisse Verweigerung, die Entscheidung Signas, diese Menschen auf die Straße zu setzen und einen enormen Leerstand im Stadtzentrum zu hinterlassen, hinzunehmen. Das Gespräch mit Ute Jordan bestätigte diese Position, denn ebenso wie das leerstehende Gebäude verschwinden auch Menschen, ihre Geschichten, ihr Wissen und ihre Ideen nicht einfach. Wie also könnte weiterhin Nahversorgung, aber auch Arbeit, Austausch, gesellschaftliche Vielfalt, Kultur und demokratische Teilhabe im leerstehenden Warenhaus ermöglicht werden?
Das Konzept der Warenhäuser können wir jedoch auch nicht ohne Weiteres kritiklos übernehmen. Anders als im 19. Jahrhundert sind wir heute mit den Konsequenzen kapitalistischer Konsum-, Produktions- und Extraktionslogiken konfrontiert: Die Klimakatastrophe ist bereits Gegenwart, und die Verantwortlichkeit liegt im Globalen Norden, der seit Jahrhunderten die Ausbeutung des Planeten und der Menschen im Globalen Süden vorantreibt. Ein Weitermachen ist auch im Einzelhandel und in der Nahversorgung nicht mehr möglich und verlangt nach einer grundlegenden Transformation. Daher beschäftigten wir uns im Seminar mit Theorien des Postwachstums (Degrowth), des Transformationsdesigns sowie der Gemeinwohl- und der Solidarischen Ökonomie. Ausgehend von der einfachen Feststellung, dass „[u]nendliches Wachstum […] auf einem endlichen Planeten nicht möglich“ ist (Schmelzer/Vetter 2019), fragten wir, wie sich Versorgungsinfrastrukturen, also Warenhäuser verändern müssen. Wie kann Nahversorgung anders hergestellt, organisiert, betrieben und verwaltet werden? Was, wenn nicht Trends, sondern Bedarfe im Zentrum stünden, nicht Wachstum, sondern Ökologie, nicht Konsumieren, sondern Versorgen, nicht Eigentümer, sondern Arbeitnehmende und Stadtbewohner*innen?
Meine These für das Seminar war: Wir brauchen ein Andershaus!
Das Andershaus ist ein Haus der Versorgung, dem eine ökologische Wachstumskritik und eine feministische Raumpraxis zugrunde liegt. Nicht das Kaufen steht primär im Vordergrund, sondern auch das Reparieren, das Selbstherstellen, das Tauschen. Nicht das Bauen oder Umbauen steht im Vordergrund, sondern die „Kleinen Eingriffe“ (Nägeli/Tajeri, 2016), die Fürsorge für den Bestand, die Pflege und die Instandhaltung. Es ist auch ein Haus, in dem die Frage des Bedarfs an erster Stelle steht, in dem Formen der Solidarischen Ökonomie erprobt werden können, und in dem Demokratie und Teilhabe einen integrativen Bestandteil ausmachen. Es ist ein selbstverwaltetes Haus, in dem diejenigen, die beraten und verkaufen, die reparieren und instandhalten, die tauschen und kaufen, darüber entscheiden, wie das Haus verwaltet wird, wie es sich entwickelt und ihr Gespür und Wissen für die tatsächlichen Bedarfe und Notwendigkeiten einsetzen.
In einer kollektiv erarbeiteten Studie beschäftigten sich die Studierenden mit der Geschichte der Warenhäuser, um nach Spuren des Gemeinwohls zu suchen, sie sprachen mit Mitarbeitenden und Menschen aus der Stadtverwaltung – und sie betrachteten das Haus kurz vor, während und kurz nach der Schließung. Sie entwickelten eine Beziehung zur Gegenwart und Vergangenheit des Hauses, um die Verwobenheiten, Affekte und Komplexitäten zu begreifen, die ein solcher Akt der Schließung mit sich bringt. Die Studie war zugleich die Grundlage für ein weiteres Seminar „Degrowth Lifestyles“, in dem die Teilnehmenden den Stadtbewohner*innen die Idee des „Andershauses“ mit dem Slogan „Austausch statt Kaufrausch“ vorstellten und diskutierten. Die Gespräche und Reflexionen resultierten in einer dreiteiligen Podcast-Reihe und zeigen, dass das Fundament für ein Andershaus als kollektives, gemeinwohlorientiertes Gebäude bereits da ist.
Innenstädte sind von der Krise der Kaufhäuser stark betroffen. Laut der Publikation „Neueröffnung nach Umbau“ der Baukultur Nordrhein-Westfalen haben Warenhäuser in Siedlungen unter 100.000 Einwohner*innen keine Zukunftsperspektive. Es folgen Schließung, Leerstand, Verwahrlosung. Von dieser Situation sind nicht nur die Handelskonzerne und Immobilieneigentümer betroffen, sondern auch die Kommunen.
Ein Konsortium gebildet aus dem Fachgebiet Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Dortmund in Kooperation mit der Arbeitsgruppe Ressourceneffizientes Bauen der Ruhr-Universität Bochum und dem Projektentwickler Landmarken AG widmet sich im Rahmen eines Forschungsprojektes der Frage nach der nachhaltigen Nachnutzung von Kaufhausimmobilien. Sie betrachten den Bestand als Ressource für die Entwicklung von zukunftsweisenden Nutzungsstrategien.
Von monofunktional zu funktionslos
Groß, aber nicht imposant; leicht erkennbar, jedoch undifferenziert; zugänglich und dennoch introvertiert – Ähnlich wie die Massenware auf den Regalen wurden auch die Kaufhäuser schnell zu einem Massenprodukt. Sie sprachen die Umgangssprache, und ihre stereotype Architektur entwickelte sich aus dem Kaufverhalten der Konsument*innen. Während Kaufhäuser in den 70er Jahren den Höhepunkt ihrer Attraktivität feierten, sind sie heute – oft leerstehend und weitestgehend monofunktional – zu problematischen Elementen im Stadtbild geworden. Was einst auf einer symbiotischen Beziehung zwischen Handel und Stadt basierte, hat sich vielerorts zu einem parasitären Verhältnis entwickelt.
Leerstand mit Potenzial
Was nun mit den leerstehenden Gehäusen? Dieser komplexen Frage widmet sich das 2022 gestartete inter- und transdisziplinäre Forschungsprojekt „Bestand als Ressource // Klima- und ressourceneffiziente Drittverwendung von Einzelhandelsgroßimmobilien der 1950er bis 1970er Jahre“. Wie der Titel es schon verrät, ist das Ziel, städtebaulich-funktionale Fragen des Nutzungswandels mit technischen Fragen des ressourceneffizienten Umbaus und der Bilanzierung und wirtschaftlichen Fragen der Immobilienprojektentwicklung zusammenzuführen – so Nina Hangebruch, Leiterin des Projektes vonseiten der TU Dortmund.
Das Abreißen dieser oft denkmalgeschützten Bauten ist keine Alternative. Aufgrund ihrer Größe und strategischen Lage sind Warenhäuser wichtige Ankerpunkte in der Stadt, die einen komplexes soziales, urbanes und bauliches Geflecht bilden. Somit weisen sie großes Potenzial für die Weiternutzung auf. Anhand von Fallbeispielen bereits umgenutzter Kaufhäuser will das Forschungsteam die baulichen, technischen, wirtschaftlichen und ökologischen Parameter identifizieren, aus denen sich im nächsten Schritt die konkreten Maßnahmen für die baulich-funktionale Neuausrichtung der Immobilien herleiten.
Ausgangspunkt Neue Höfe
Das ehemalige Karstadt-Kaufhaus in der nordrhein-westfälischen Kleinstadt Herne war der letzte Bau des Architekten Emil Fahrenkamp. Seit 2009 stand das Gebäude, dessen Fassade und Traggerüst denkmalgeschützt sind, leer. Die Stadtentwicklungsgesellschaft entwarf 2014 für das Gebäude und den davorliegenden Platz ein umfassendes Quartierskonzept. Anschließend wurde die Immobilie mit dem Auftrag zur Sanierung und Umnutzung an die Landmarken Neue Höfe Herne GmbH verkauft.
Zu den Herausforderungen des Umbaus zählten die Alleinstellungsmerkmale, die die Kaufhäuser der 60er und 70er Jahre leicht erkennbar machen: geschlossene Fassaden, große Raumtiefen, das Erschließungskonzept. Die Fassadengestaltung diente der schnellen Erkennbarkeit der Marke des Hauses, der fehlende Blickbezug zur Straße führte zu Orientierungslosigkeit im Innenraum – ungeeignete Merkmale für eine Umprogrammierung des Bestandsgehäuses. Im Dialog mit dem Denkmalschutz konnten die neuen Eigentümer bauliche Maßnahmen, die für die neue Nutzung notwendig waren, durchführen. So wurden von oben zwei Lichthöfe in das Gebäude integriert und neue Fensteröffnungen in die Fassade eingebaut. Durch die zahlreichen neuen Funktionen – Büros, Gastronomie, Handel und Sport –, die sich angesiedelt haben, sind eine ganztägige Bespielung der Immobilie und die Neubeschäftigung von rund 500 Angestellten möglich.
Das Herz von Herne pulsiert wieder, mit neuem Blut in den Adern und anscheinend mit neuen Impulsen für die Innenstadt. Über die langanhaltende positive Auswirkung solcher Maßnahmen wird das Forschungsteam des Projektes „Bestand als Ressource“ noch bis 2026 weiterforschen.
Leerstand im Kaufhaus des Hamburger Stadtteils Ottensen: Wie kann die Geschichte eines solchen Ortes weitererzählt werden? Das Gebäude namens „Vivo“ wurde von 1998 bis 2003 als ökologisches Einkaufs- und Dienstleistungszentrum konzipiert und erbaut – als Kaufhaus hat es aber nie gut funktioniert. Um dem Bevölkerungszuwachs und den stark steigenden Schüler*innenzahlen der Hansestadt gerecht zu werden, wurde im Jahr 2019 beschlossen, das Gebäude zu einer zeitgemäßen, fünfzügigen Stadtteilschule umzunutzen. 2022 erhielt das Unternehmen agn den Generalplanungsauftrag für den Umbau – das städtische Immobilienunternehmen SBH I Schulbau Hamburg realisierte schließlich das Projekt im Namen der Hamburger Behörde für Schule und Berufsbildung. Um den nachhaltigen Umgang mit dem vorhandenen Gebäude zu gewährleisten, haben die Planenden auf die vorhandenen Flächen zurückgegriffen und Abrissarbeiten weitestgehend vermieden. Das Projekt sollte die bestehende Struktur revitalisieren und einen Beitrag zum öffentlichen Leben im Stadtteil leisten.
Vom Kaufhaus zum Bildungsbau
Die Idee, aus einem Kaufhaus eine Schule zu machen, entstand aufgrund des Bedarfs nach einer Stadtteilschule in Ottensen. Was wäre, wenn das Atrium zum Schulhof wird? Eine besondere Herausforderung in der Planung: Im Gegensatz zu anderen Schulen, die aufgrund des vorgegebenen Flächenprogramms geplant werden, entwickelt sich hier das Raumprogramm entsprechend der vorhandenen Fläche. Die Möglichkeit, bestehende Gebäude umzunutzen, betrachten alle Beteiligten als eine zukunftsweisende Lösung.
Ressourcenschonend transformieren
In Hamburg hat die Projektidee für den Erhalt des historischen Gebäudes in Ottensen großes Interesse geweckt. Der Stadtbaustein sollte nämlich nicht abgerissen, sondern bewahrt werden. Im Planungsprozess liegt der Fokus auf ressourcenschonendem Vorgehen und der Integration des Urban-Mining-Gedankens. Die Umsetzung eines Schulkonzepts in diesem besonderen Gebäude stellt eine einzigartige Herausforderung dar: Bei der Planung waren einige konstruktionsbedingte Hindernisse zu beachten, da das Gebäude vor zwanzig Jahren errichtet wurde. Aktuelle Anforderungen an Raum- und Bauakustik stellten hierbei eine weitere Herausforderung für die Planer*innen dar.
Offene Räume für freie Lernprozesse
Der von medium Architekten entworfene Gebäudebestand zeichnet sich durch eine vielschichtige und offene Struktur aus. Er erfüllt bereits Standards des nachhaltigen und recyclinggerechten Bauens dank seiner kompakten gläsernen Bauweise, Regenwasserspeichern, Betonspeicherdecken und trennungsfähigen Materialien. In der Umnutzung konnten also Abrisse weitgehend vermieden werden.
In der transformierten Schule dient der sogenannte „Marktplatz“ als Zentrum in der gläsernen Haupthalle, der von einem skulpturalem, freistehenden Treppenturm, der an einen Nierentisch denken lässt, inszeniert wird. Die Halle soll als multifunktionaler Ort und Gemeinschaftsfläche im Erdgeschoss genutzt werden können. Im ersten Obergeschoss dienen breite Galerien als Bewegungs- und Aufenthaltsflächen, während die schmaleren Galeriegänge im zweiten Obergeschoss durch ihre Nähe zum Glasdach natürlichen Lichteinfall haben. Statt herkömmlicher Klassenräume gibt es in der neuen Bildungseinrichtung „Lerncompartments“ – modulare Räume, die den Schülern als Rückzugsort dienen. Strukturiert wird nach Altersklassen und Lernstand, jedoch herrscht grundsätzlich Offenheit. Es wurden Zonen für Forschung und kooperativen Austausch zwischen Disziplinen der Technik, Kunst, Musik, Theater, Kultur und Geisteswissenschaften eingerichtet. Das offene, fächerübergreifende Lernkonzept findet in diesem flexiblen Bau die passende räumliche Umsetzung.