Editorial
Wie aus Abfällen Baustoffe werden
Editorial
Wie aus Abfällen Baustoffe werden
Katrin Mees ist für drei Verbände tätig: Sie leitet die Abteilung Nachhaltiges Bauen und Umwelt des Zentralverbands des Deutschen Baugewerbes e. V. (ZDB) und ist außerdem im Deutschen Abbruchverband sowie in der Bundesgemeinschaft Recycling-Baustoffe aktiv. In ihrer Tätigkeit vertritt sie kleine und mittelständische Unternehmen, die die Kreislaufwirtschaft im Bau ermöglichen. Schon während ihres Architekturstudiums hat sie sich mit der Rückbauplanung von Zechenstandorten beschäftigt. Seitdem setzt sie sich für einen pragmatischen und lukrativen Umgang mit unseren Ressourcen ein.
Wie hat Sie Ihre erste Arbeitserfahrung geprägt?
In der Rückbauplanung von Zechenstandorten habe ich früh gelernt, wie man Bausubstanz bewertet und mit Schadstoffen umgeht. Schon damals haben wir versucht, alles, was nicht schadstoffbelastet war, aufzubereiten und wiederzuverwerten. Es war interessant für mich, als ich später im Verband feststellen musste, dass die Materialien, die ich in den 1990er-Jahren bewertet habe und ganz selbstverständlich versucht habe wiederzuverwerten, um Kosten zu reduzieren und Ressourcen zu schonen, jetzt in einem ganz anderen Kontext gesehen werden. Vor allem Boden gilt heute direkt als Abfall, wenn ich eine Bodengrube aushebe und das Bodenmaterial außerhalb der Baustelle verwenden möchte. Das war in den 1990er-Jahren nicht so.
Was verbirgt sich hinter dem Begriff „Abfall“?
Der Begriff „Abfall“ ist oft mit Angst, Misstrauen und Unsicherheit verbunden. Wenn man nicht genau weiß, wie man mit etwas umgehen soll, regelt man es lieber streng, um nachweisen zu können, dass man keine Fehler gemacht hat. Nehmen wir die Erde von einer Baustelle: Sobald ein Laster den Boden aufnimmt, wird er umgehend als Abfall deklariert. Das Auto, das diese Erde transportiert, muss ein A-Schild haben, braucht eine Sondergenehmigung und eine*n qualifizierte*n Fahrer*in. Das heißt, eine Behörde muss im Vorfeld zwei Genehmigungen aussprechen. Diese Logistik und Bürokratie muss man mitdenken. Es wäre viel einfacher zu sagen, ich nenne den Boden erstmals gar nicht „Abfall“. Ich prüfe ihn zuerst. Dann muss ich ihn vielleicht nicht gleich deponieren, sondern kann ihn weiterverwerten.
Bleiben wir mal beim Beispiel Boden. Von welchen Mengen sprechen wir denn?
Die Bauwirtschaft verursacht etwa 40 Prozent des gesamten Abfallaufkommens, also rund 220 Millionen Tonnen pro Jahr. Das ist aber kein großer Haufen Dreck, auf dem vergammelte Bananenschalen herumliegen. Davon entfallen etwa 120 Millionen Tonnen auf Boden und Steine, ca. 30 Millionen Tonnen auf Schlacken und Aschen und rund 70 Millionen Tonnen auf Gesteinskörnung aus dem Rückbau. Das ist alles Mineralik, die beispielsweise im Tiefbau einsetzbar wäre.
Klingt doch unkompliziert. Was hindert uns daran, es so zu machen?
Seit einem Jahr haben wir die Ersatzbaustoffverordnung (ErsatzbaustoffV), die diesen Stoffstrom von 220 Millionen Tonnen regelt und dafür mögliche Einbauweisen definieren soll. Die Idee ist gut: Materialien, die aus dem Kreislauf herausgenommen werden, sollen im Labor auf Schadstoffe geprüft werden. Aufbauend auf den Materialkennwerten leiten sich geeignete Einbauweisen ab. Leider wird ein Großteil dieser Materialien nicht beauftragt, weil sie weiterhin als Abfall gelten und dann eher deponiert werden. Dadurch bleibt vieles ungenutzt, obwohl es als Baustoff geeignet wäre.
Passiert es in anderen Industriebranchen ähnlich?
Auch in anderen Branchen wird alles, was den Produktionskreislauf verlässt, als Abfall bezeichnet. Wir brauchen generell eine andere Denkweise – in Kreisläufen. Materialien – egal, ob Glas, Textil oder Plastik – sollten nach Ende eines Lebenszyklus geprüft und, wenn geeignet, aufbereitet und für den nächsten Lebenszyklus wiederverwendet werden, ohne erst Abfall zu werden. Als Abfall sollten nur jene Stoffe gelten, die bei der Prüfung schadstoffbelastet sind. Nur diese sollten dann deponiert werden.
Als Abfall gelabelt zu werden, klingt wie ein Todesurteil für einen Baustoff. Lässt sich das vermeiden?
Wir haben das Kreislaufwirtschaftsgesetz, das für jeden Stoffstrom ein Verwertungsverfahren verlangt. Wenn ein Stoff, unschädlich für Mensch und Umwelt, geeignet, marktfähig und rechtskonform ist, dann ist das sogenannte Abfallende nach Kreislaufwirtschaftsgesetz erreicht. Das könnten wir mit allen Produkten machen. Aktuell wird jedoch alles, was aus einem Bauwerk zurückgebaut wird, sofort als Abfall deklariert, bevor es geprüft wird.
Nun regelt die ErsatzbaustoffV 35 Materialklassen, von denen laut dem Entwurf zur Abfallendeverordnung des Umweltministeriums nur sechs das Abfallende erreichen sollen. Unabhängig von den Laborprüfungen, Materialkennwerten oder geeigneten Einbauweisen. Wieso?! Das ergibt doch keinen Sinn! Das führt dazu, dass viele einbaubare Materialien auf Deponien landen und für Bauaufgaben Primärmaterial verwendet werden muss. Und wie hoch ist der Bedarf? Um die 585 Millionen Tonnen pro Jahr. Wir hätten schon die 70 Millionen Tonnen Gesteinskörnung, die man in den Kreislauf zurückführen könnte – 13 Prozent von dem, was wir pro Jahr brauchen. Wir könnten immerhin 13 Prozent substituieren und schmeißen davon ein Großteil weg! Das ist ineffizient und verschwenderisch.
Derzeit wird gutes Material entsorgt, weil die öffentliche Hand keine Recyclingbaustoffe ausschreibt oder noch schlimmer sogar Alternativangebote mit RC-Material ausschließt. Obwohl wir Baustoffe zu 97 Prozent wiederverwenden könnten, fehlen oft die nötigen Aufträge von der öffentlichen Hand. Unternehmen exportieren diese Materialien nach Holland oder Dänemark, wo sie genutzt werden. Die Kreislaufwirtschaft Bau funktioniert nur, wenn es einen Markt dafür gibt, und die Menschen, die diese Materialien herstellen damit ihren Lebensunterhalt verdienen können.
Wofür genau braucht man die 585 Millionen Tonnen Baumaterial im Jahr?
Die Klimawende muss gebaut werden, und dafür brauchen wir Straßen, Brücken, Tunnel, Kabelgräben und andere technische Bauwerke. Gute infrastrukturelle Grundlagen sind entscheidend, um CO₂-Einsparungen zu ermöglichen. Der Abrieb von Reifen auf schlechten Straßen erhöht den CO₂-Ausstoß, unabhängig vom Fahrzeugtyp. Auch lokale Lieferketten hängen von gut instand gehaltenen Straßen ab. Letztendlich wird die Bio-Milch nicht mit einem Lastenfahrrad, sondern mit einem Auto in den Biomarkt gebracht.
Es wird oft übersehen, was alles notwendig ist. Es wird gesagt, wir sollen nicht mehr bauen und nur Vorhandenes nutzen. Das ist eine gute Idee, aber wir müssen trotzdem pragmatisch vorgehen. Unsere Ressourcen sind begrenzt, ähnlich wie eine Kiste voller Legosteine im Kinderzimmer. Wenn diese Steine aufgebraucht sind, haben wir kein Material mehr. Daher sollten wir alles nutzen, was wir haben, und nichts verschwenden. Momentan werfen wir jedoch viele wertvolle Ressourcen – Legosteine – weg, obwohl sie für unsere Bauaufgaben dringend benötigt werden. Wir müssen daher sowohl Primärmaterialien verwenden als auch vorhandene Ressourcen optimal einsetzen.
Welche Aufgaben kommen auf die nächste Generation von Planenden zu?
Wir stehen aktuell vor zwei Hauptaufgaben. Wir müssen uns einerseits mit den Bauwerken aus der Vergangenheit auseinandersetzen. Gebäude ab Mitte des letzten Jahrhunderts enthalten oft Schadstoffe und Verbundmaterialien, die schwer in den Kreislauf zu führen sind. Andererseits müssen zukünftige Bauvorhaben selbstverständlich nachhaltig geplant werden, was junge Architekt*innen bereits verinnerlicht haben. In 30 Jahren, denke ich, werden wir nur noch nachhaltig planen und bauen.
Es ist wichtig zu verstehen, dass wir derzeit viele parallele Stränge bewältigen müssen. Abfall wird heute anders betrachtet als in 100 Jahren. Meine Großmutter, die 1902 geboren wurde, erzählte oft, dass sie damals keinen Abfalleimer im Haushalt hatten. Ich glaube, wir werden zu einem ähnlichen Mindset zurückkehren, weil das heutige Abfallaufkommen absurd ist. Wir müssen weg vom VERBRAUCHEN und hin zum BENUTZEN.
Wir müssen lernen, Abfall als wertvollen Rohstoff zu betrachten und ihn in den Kreislauf zurückzuführen. Alles, was wir verwenden, sollte als wertvoller Rohstoff wieder nutzbar sein.
Ob in der Lebensmittelproduktion, der Textilherstellung oder der Tierhaltung – bei den meisten industriellen Prozessen fallen Stoffe an, die ungenutzt bleiben, thermisch entsorgt, deponiert oder sogar exportiert werden. Dieser Umgang mit Materialien steht zunehmend in der Kritik, und ein Bewusstsein für einen ressourcenschonenden Umgang mit Roh- und vermeintlichen Reststoffen wächst. Vorreiter*innen sind hier wie so oft Hochschulen und Forschungsinstitute. Aber auch in der Produktentwicklung wird intensiv an Herstellungsverfahren gearbeitet, die aus Abfällen Wertstoffe werden lassen. Die Ausstellung „Blut und Staub“ im Gewerbemuseum Winterthur zeigt beispielhafte Ansätze für eine wertschätzende Nutzung von Rest- und Abfallstoffen.
Reststoffverwertung ist nichts Neues
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die Nutzung von sogenannten Sekundär- beziehungsweise Reststoffen in industriellem Maßstab nicht völlig neu ist. Beispielsweise kam Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich der natürliche Kunststoff Bois Durci auf, der aus fein pulverisiertem Holzmehl und Rinderblut besteht – beides industrielle Abfallprodukte. In den 1920er-Jahren wurde der Werkstoff, der vornehmlich zur Herstellung dekorativer Gebrauchsgegenstände zum Einsatz kam, schließlich von neuen industriellen Kunststoffen verdrängt. Ein anderes Material, das heute immer noch Verwendung findet und aus Reststoffen besteht, ist Polyvinylchlorid, besser bekannt als PVC. Ursprünglich wurde der Werkstoff entwickelt, um Chlor zu binden, bis er schließlich zum beliebtesten Kunststoff der Nachkriegszeit avancierte.
Verdrängte Werkstoffe, wiederentdeckt
Heute werden Materialien wie der Kunststoff Bois Durci im Produktdesign und an den Hochschulen neu erforscht. Nicht nur die Materialeigenschaften stehen dabei im Fokus, sondern ebenfalls der Nachhaltigkeitsaspekt. Ein Beispiel dafür ist das Projekt „Radical Matter“, das 2022 im Rahmen der Bachelorarbeit von Leonor Kotoun im Fach Design an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) entstand. Die Arbeit lotet auf experimentelle Art und Weise die ästhetischen und technischen Potenziale von Rinder- und Schweineblut aus, das in enormen Mengen in Schlachtbetrieben anfällt. Ein anderes Abfallprodukt aus der Fleischindustrie macht sich Souhaib Ghanmi zunutze: Knochen. Basierend auf seiner Bachelorarbeit im Fach Industriedesign an der École cantonale d’art de Lausanne (ECAL) entwickelte er organisch geformte Lichtschalter und Steckdosen, für deren Herstellung er Knochenmehl nutzt.
Ein wenig appetitlicher ist die Arbeit „From the Ashes“, die aus der Masterarbeit von Benedikt Peirotén im Fach Design through New Materials an der ELISAVA Barcelona School of Design and Engineering. Das Kaliumcarbonat für das Glas der von ihm gestalteten, mundgeblasenen Vasen wird aus Holzasche gewonnen, die er von Pizzerien bezieht. Des Weiteren wird für die Glasherstellung Natriumcarbonat benötigt, das er aus Muschelschalen herstellt, die in Restaurants als Abfall anfallen. Max Greiner arbeitet in seiner Bachelorarbeit im Fach Design an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule in Halle mit Hochofenschlacke, die ein Nebenprodukt der Eisen- und Stahlgewinnung ist. Er nutzt die Techniken Emaillieren, klassisches Glasblasen und Glasfusing, um aus der Schlacke ansprechende Designobjekte herzustellen.
Ausstellung im Gewerbemuseum Winterthur
Neben zahlreichen Studierendenprojekten zeigt die Schau im Gewerbemuseum Winterthur noch bis zum 01. September 2024 Forschungsarbeiten, Studien und experimentelle Projekte, in denen es um die wertschätzende Nutzung von Reststoffen geht. Die Ausstellung ist eine Kooperation des Museums mit dem Material-Archiv der ZHdK. Die Exponate veranschaulichen, dass als Abfall degradierte Materialien ein ästhetisches Potenzial haben, das nicht ansatzweise ausgeschöpft wird. Sie sollen auch auf die schiere Masse der ungenutzten Stoffe aufmerksam machen, die täglich weltweit produziert wird. Trotz ihrer hohen gestalterischen Qualität lassen die kreativen Ansätze die Betrachter*in mit einem mulmigen Gefühl zurück und dem Gedanken: Wäre schön, wenn wir das nicht brauchen würden.
Seit September 2022 arbeitet das Team von TUSCA7 im Rahmen eines LINA-Fellowships am Projekt „Common Waste – Common Resource“. Ziel des Projekts ist, Abfallsysteme grundlegend neu zu konfigurieren und lokale Recyclingmethoden sowie die natürliche Metabolik städtischer Ökosysteme zu stärken. Um einen Diskussionsraum zu diesem Thema zu eröffnen, hat das mehrheitlich aus Studierenden bestehende Team unterschiedliche Formate ins Leben gerufen: darunter zwei transdisziplinäre Forschungsseminare, Kompostierworkshops, Mikroskopie- und Technologieexperimente, öffentliche Vorträge und multimediale Kunstinstallationen.
Die Natur kennt keinen Abfall
Der menschliche Körper ist ein Superorganismus, der durch die Zusammenarbeit seiner Zellen und Mikroorganismen lebt. Materie gelangt in unseren Körper, wird Teil von ihm und verlässt ihn wieder, um sich zu wandeln und neu verarbeitet zu werden. In diesem natürlichen Kreislauf existiert unser Konzept von Abfall nicht und erweist sich als moderne Erfindung des Menschen. Daher würden wir in unserer Infrastruktur „organischen Abfall“ nicht vollständig ausschöpfen, wie es die Natur tut – Abfall beeinflusse unser Verständnis von Stoffwechselprozessen vielmehr negativ. Ein verkanntes Potenzial, findet das Team von TUSCA7, das deshalb den Umgang mit organischen Ressourcen im urbanen Raum hinterfragen will.
Vielschichter Denk- und Diskussionsraum
Von Februar 2023 bis März 2024 hat das kollektive Team dazu zwei interdisziplinären Forschungsseminare, sogenannte „X-Tutorials“, veranstaltet und lud Studierende aller Fachrichtungen ein, in einem Thinktank die Ströme von organischem Abfall im urbanen Kontext zu untersuchen. Unter der Leitung von Prof. Jörg Stollmann vom Lehrstuhl für Städtebau und Urbanisierung am Institut für Architektur (CUD) der Technischen Universität Berlin, hat das Kollektiv die Räume der Universität für physische Treffen, praktische Experimente und Filmvorführungen genutzt.
Die erste Ausgabe des Seminars im Sommersemester 2023 konzentrierte sich auf kulturelle, politische, strukturelle und wirtschaftliche Ökosysteme. Die zweite Ausgabe im Wintersemester 2023/24 befasste sich mit der Nachbarschaft aus mikroskopischer Perspektive und der Rolle des Menschen im Stoffwechselkreislauf – mit konkreten Workshops im Andreasviertel in Berlin. Hinzugezogen wurden zudem stetig verschiedenen Akteur*innen wie Wohnungsbaugesellschaften und die Abfallwirtschaft.
Parallel zum Seminar teilte TUSCA7 die gewonnenen Erkenntnisse europaweit auf Konferenzen und Workshops. Sie konzipierten zudem die Installation „Compost Canteen“, die auf dem Roskilde Festival, dem Kopenhagener Architekturfestival sowie dem GRASP Festival in Dänemark gezeigt wurde. Dort wurde kompostierbares Material vor Ort verarbeitet und mit Interessierten interagiert.
Bestandsaufnahme: Schwierige Logistik und die große Angst vor Abfall
Ziel dieser Projekt-Forschung ist zu verstehen, wie menschengemachte kulturelle Systeme funktionieren und wie die Natur lebt. In ihren bisherigen Diskussions- und Research-Formaten gewann das Team zahlreiche Erkenntnisse: Es stellte beispielsweise fest, dass die aktuelle Infrastruktur viel zu technokratisch ist, was den Abtransport von biologisch abbaubaren Materialien erschwert. Ein erarbeiteter Vorschlag sieht vor, innerhalb der Nachbarschaften Räume für die Biodegradation, etwa durch Kompostierung, zu gestalten. Durch Experimente und Austausch mit den Menschen in der Nachbarschaft sowie mit Expert*innen identifizierte das Team zudem jedoch ebenso Ängste und Vorurteile für solche Systeme sowie Bedenken bezüglich Schmutz, Nagetieren, Geruch, Volumen, Wartung, Beschaffung und Auslagerung organischer Materialien.
Aus diesen Erkenntnissen leitete das Team für die weitere Arbeit wichtige Fragen ab: Welche Kompostierungsmethoden können wir verwenden? Welche räumlichen Anforderungen müssen erfüllt werden? Welche Strukturen gibt es für die Wartung? Können wir zusätzliche Vorteile aus den verschiedenen Kompostierungsmethoden ziehen wie Wärme, Wassermanagement, Spaß, Lernen, Verbesserung der regionalen Lebensmittelproduktion und Reduzierung des Drucks auf die zentrale Abfallwirtschaft? Auf dieser Grundlage forscht das kollektive Team weiter – und lädt zu Diskussions- und Filmabenden zum Thema ein.
Eingesammelt, zerkleinert, vermischt, gepresst – Abfallstoffe wie Papier, Plastik und Stoffreste erhalten in Ziegelform ein neues Leben. Der Prozess vom Abfallprodukt bis zum fertigen Block ist komplex. Wie eine Wiederverwendung erfolgreich funktionieren kann, zeigt der „Gent Waste Brick“.
Viele Expert*innen – ein Brick
Für den Erweiterungsbau des Designmuseums in Gent (DING) entwickelte ein breit aufgestelltes Team einen passenden Fassadenziegelstein. Das neue Baumaterial sollte, um den Nachhaltigkeitsanforderungen des Neubaus zu genügen kohlenstoffarm sein und außerdem hell, um die blassen Töne der umgebenden Gebäude zu reflektieren. Jenen Voraussetzungen folgend entstand im Frühjahr 2021 der Prototyp eines weißen, „hyperlokalen“ Ziegels aus Bauabfällen: Der „Gent Waste Brick for DING“. Dieses Produkt ist das Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen dem Planungsteam des Museumsneubaus – dem britischen Architekturbüro Carmody Groarke und ATAMA (ehemals TRANS architectuur) –, den Kreislaufwirtschaftsspezialist*innen von Local Works Studio und dem Materialhersteller BC Materials.
Ansprüche an Design und Nachhaltigkeit vereinbart
Der Gent Waste Brick besteht zu 63 Prozent aus recyceltem Beton und Glas aus Genter Abfallströmen, mit regionalem Kalk als Bindemittel. Um den weißen Ton zu erzielen, werden alle Rohstoffe in einem lokalen Produktionszentrum sorgfältig ausgewählt und anschließend gepresst. Die Ziegel bleiben ungebrannt, was eine Karbonisierung unter atmosphärischen Bedingungen ermöglicht. Sie härten zwei Wochen in feuchter Umgebung aus und trocknen 60 Tage an der Luft, wodurch der Energieaufwand gering gehalten wird. Das Material gewinnt seine Festigkeit durch Mineralkarbonisierung – ein Prozess, bei dem Kalziumkarbonat mit Kohlendioxid aus der Luft reagiert. Über eine Lebenszeit von 60 Jahren erzeugt der Gent Waste Brick nur ein Drittel des Kohlenstoffs eines typischen belgischen Tonziegels, so die Hersteller. Demnach würde der Einsatz dieses Materials im Neubau des Designmuseums 107 Tonnen CO₂ einsparen.
Dort intervenieren, wo es Abfallströme gibt
Im September 2022 erhielt der Gent Waste Brick die Zulassung und Zertifizierung für die Fassaden des neuen Flügels des Designmuseums. Das Entwicklungsteam entwarf auch den Herstellungsprozess: ein sauberes, unkompliziertes Verfahren, das vor Ort in einer mobilen Verarbeitungsanlage durchgeführt werden kann – sogar von Einwohner*innen und Besucher*innen des Museums. Dies reduziert den Materialtransport drastisch und schärft das Bewusstsein für die Herkunft der Ressourcen. Durch das Neudenken traditioneller Herstellungsprozesse und die Nutzung lokaler Ressourcen und recycelter Materialien adressiert das Projekt komplexe Fragen der Kreislaufwirtschaft im Bauwesen. Es schlägt eine Brücke zwischen der Stadt, den Besucher*innen und der Welt des Designs – eine ganzheitliche Antwort im Ziegelformat.
Eine Blaupause für weitere Entwicklungen?
Der Waste Brick bietet eine lokale, maßgeschneiderte Lösung für eine konkrete Anforderung. Obwohl der industrielle Fertigungsprozess replizierbar ist, wirkt der Brick wie ein einzigartiges High-End-Designobjekt. Eine valide Antwort auf die Hilferufe der Baubranche?
Es macht Mut zu sehen, dass der Gent Waste Brick kein Einzelfall ist. Die Materialexperten von BC Materials und BC Architects & Studies reagieren oft auf Anfragen, Baustoffe aus lokalen Abfallströmen herzustellen. Besonders erwähnenswert ist ihre Zusammenarbeit mit Atelier LUMA an zwei Projekten: Für den Museumskomplex Lot 8 in der Nähe von Arles in Frankreich entwickelten sie eine Reihe von Materialien, darunter ein Algenputz auf Basis von biobasierten Stoffströmen und Reststoffen. Bei der Renovierung des EcoHanok-Gebäudes für die Gwangju-Biennale in Südkorea schufen sie einen gepressten Ziegel, der zu 70 Prozent aus Muschelresten besteht.