Focus

Gräserner Nachwuchs

Stroh, Reet, Hanf und Seegras feiern Comeback

Editorial

Stroh, Reet, Hanf und Seegras feiern Comeback

von Katharina Lux

Im 21. Jahrhundert prägen organische, nachwachsende Baustoffe eine neue Ästhetik in der Architektur. Und was wächst gut nach? Gras. Das Bauen mit Gräsern – sei es mit Stroh, Schilf oder der ältesten Kulturpflanze Hanf – hat eine lange Tradition, die heute kaum sichtbar ist. Früher erkannte man die vorteilhaften Eigenschaften dieser Materialien: Sie dämmen gut, sind leicht, dicht, pflegeleicht und langlebig. Ein lokaler Baustoff, der kaum verarbeitet werden muss und vielfältig einsetzbar ist – ob als Dach- und Fassadendeckung oder als Wanddämmung.

Klingt nach dem besten Material der Welt? Jein – denn Gräser bringen als Baustoff auch Probleme mit sich. Zum einen sind sie nicht gleich zugänglich oder erfüllen anders als andere Materialien nicht jede Brandschutz-Norm. Stroh ist beispielsweise kostengünstig und vergleichsweise einfach zu bekommen, da es in der Landwirtschaft als Abfallprodukt anfällt.
Bei Reet hingegen ist die lokale Beschaffung heute deutlich schwieriger. Lange Lieferketten und fehlendes handwerkliches Know-how führen zudem oftmals zu höheren Aufwänden auf der Baustelle.

Wie können wir kulturelles Wissen und Praktiken aus der Vergangenheit anwenden und gleichzeitig neue bauliche Lösungen mit Gräsern finden?
Wo und wie können diese ökologischen Baustoffe in zeitgenössischen Projekte eingesetzt werden?

In dieser Ausgabe
widmen wir uns aktuellen Praktiken, Studien und Anwendungsbeispielen dieser nachwachsenden Ressource. 
Susanne Brorson untersucht an einem Eigenheimtyp aus der DDR über mehrere Jahre die Fassadenbekleidung mit verschiedenen Pflanzenarten aus dem Ostseeraum. Welchen Beitrag Dämmen mit Stroh und Hanf zur Erreichung der schweizerischen Klimaziele leisten kann, zeigt ein Forschungsprojekt der ETH Zürich zu nachhaltigen Renovierungsstrategien. Das Kollektiv Frugal Bauen hingegen widmet sich einem vergessenen Baustoff aus dem Meer und testet die Einsatzmöglichkeiten von Seegras anhand eines Wohngebäudemodells. V.-Prof. Anke Wollbrink und ihre Studierenden an der Hochschule Darmstadt erproben, wie traditionelle Bauweisen mit Schilfgras in die heutige Bauindustrie integriert werden können, und entwickeln Fertigteile aus Reet.

Mit den Jahreszeiten das Gewand wechseln

Fassadenbekleidung aus Pflanzen

Sorana Radulescu

Gras, Farn, Seegras, Schilf, Stroh, Heidekraut, Laub, Tannennadeln – denkt jemand an Baumaterialien? Als Susanne Brorson 2017 begann, die vernakulären Bautechniken des Ostseeraums zu erforschen, entdeckte sie die traditionelle Methode der Bekleidung von wetterexponierten Fassaden mit Naturmaterialien wieder. In ihrer Entwurfsforschung interpretierte die Architektin diese originelle Antwort auf die saisonalen Wetterschwankungen in den kalten Jahreszeiten schrittweise neu. Ihr Untersuchungsgegenstand: ein EW58 Haus – ein standardisierter Eigenheimtyp aus der DDR – auf der Ostseeinsel Rügen. Am sogenannten Experimentalhaus führte sie über mehrere Jahre(szeiten) empirische Untersuchungen durch, ein Großteil davon im Rahmen ihrer Lehre.

Ein Fassadenkleid für den Winter – Experiment „Seasonal Wall Dressing“

Die Wintergarderobe des Hauses komplettiert also ein Gewand aus Gräsern? Wissenschaftliche Studien zur Effizienz von saisonalen Fassadenverkleidungen liegen kaum vor, historische Aufzeichnungen belegen jedoch, dass sie im Ostseeraum weit verbreitet waren. Susanne Brorson entschied sich 2021, im Rahmen der „Seasonal Wall Dressing“-Studie diese Technik am Westgiebel des Experimentalhauses auszutesten.

Zunächst entwickelte sie ein modulares Fassadensystem aus 1 × 1 Meter großen Lärchenholzrahmen, die sie mit einem Hakensystem an die Wand schraubte. An jedem Rahmen befestigte sie anschließend mit Hanfschnur jeweils eine Pflanzenart. Das System der „vorgefertigten“ Module scheiterte jedoch an ebenjener Befestigungsart.

Spätsommerliche DesignBuild-Experimente

Im nächsten Sommer baute sie ein neues Fassadengerüst aus vertikalen Holzlatten in einem Abstand von etwa 50 cm, dazwischen spannte sie Drähte. Das gesamte Konstrukt fungierte als fassadengroßer Webstuhl, an dem die biogenen Materialien eingeflochten und gewebt werden konnten. Eine handwerklich-künstlerische Aufgabe, der sich 15 Studierende der RISEBA University in Riga und der Hochschule Wismar im Rahmen einer Sommerschule im August 2022 stellten. Sie arbeiteten mit Reet, Seegras, Seggengräsern, Wacholder, Farn, Heidekraut und sogar Erbsenstroh aus dem Garten. Dadurch optimierten sich die ästhetische Qualität der Bekleidung und die Dämmwirkung, mit einer deutlichen Verbesserung des thermischen Komforts im Herbst und Winter. Die Webstuhl-Variante erwies sich als kostengünstige und einfach umzusetzende Möglichkeit, um eine saisonale Isolierung mit Pflanzen unterschiedlicher Qualität zu schaffen.

Im Rahmen des „harvest & care“-Workshops 2023 überarbeiteten Studierende der HafenCity Universität Hamburg das überwinterte Fassadenkleid und entwickelten ein modulares System. Die einzelnen Module aus Kieferholzlatten umwickelten sie mit biogenen Materialien und befestigten sie mit Schnüren zwischen den vertikalen Lärchenlatten des Fassadengerüsts. Die überlappten Modulelemente erhöhen die Dämmwirkung und leiteten Schlagregen ab. Im September 2024 knüpften Studierende der Royal Danish Academy aus Kopenhagen an diese Arbeiten an: Sie integrierten Gräser von nahegelegenen Feuchtwiesen, um das saisonale Kleid für die kommende Wintersaison bereitzustellen.

Bau-, Hand-, Garten- oder Care-Arbeit?

Ein Fassadenkleid, das mit den wechselnden Wetterlagen entsprechend an- und abmontiert bzw. erneuert wird, zelebriert den Turnus der Jahreszeiten. Wetter- und saisonabhängig erfordert die Fassade Pflege und Wartung – eine Kombination aus Garten- und Care-Arbeit für das eigene Haus. Die Web- und Flechttechnik hat vielmehr eine sinnlich-handwerkliche und weniger eine bauliche Couleur. Dieser Ansatz stärkt die Beziehung zum Haus und zu der Region, aus der das Naturmaterial beschaffen wird. Eingesetzt wird übriggebliebenes oder frei verfügbares Material. Insgesamt eine umwelt- und ressourcenfreundliche Option, die praktisch keinen Abfall generiert. 

Weiter zu erforschendes Potenzial

Die saisonale Fassade befreit sich von der Annahme, dass Baumaterialien möglichst langlebig und robust sein sollten und zelebriert das Leichte, Temporäre, Instabile und Wechselhafte. Susanne Brorson war es wichtig, bautechnologisch frei zu experimentieren und aus den Varianten Erkenntnisse abzuleiten. Die Mischung macht's: Je nach frei verfügbaren Naturmaterialien, ändert sich das Fassadenmuster. Zwar wirkt sich der heterogene Pflanzenmix positiv auf das Erscheinungsbild aus, erschwert jedoch das Messen der Dämmfähigkeit. Auf Basis des Vergleichs zu begrünten Fassaden kann allerdings eine Verbesserung der Dämmleistung um 10–20 Prozent erwartet werden. 

Durch die kollektive Weiterarbeit an dem Experiment des „Seasonal Wall Dressing“ konnte die Architektin jedes Jahr das Fassadenbekleidungssystem optimieren. Das Forschungsprojekt führt sie weiter. Mal sehen, wie die nächste Winterkollektion aussieht.

Dämmen mit Stroh und Hanf

Forschungsprojekt zu nachhaltigen Renovierungsstrategien

Natalie Pawlik

In der Schweiz werden heute noch ein Großteil der Gebäude mit fossilen Energieträgern wie Öl oder Gas beheizt. Zudem entstanden 70 Prozent des heutigen Bestands vor Einführung strengerer Energieeffizienzstandards. Damit die Schweiz ihre Klimaziele erreichen kann, sind energetische Gebäudesanierungen unabdingbar. Eine Studie an der ETH Zürich hat gezeigt, dass die besten Ergebnisse jedoch nicht allein durch den Austausch von Heizsystemen erzielt werden können. Biobasierte Dämmstoffe wie beispielsweise Stroh oder Hanf können einen wichtigen Beitrag hinsichtlich der Reduktion von Umwelteinflüssen durch den Bausektor leisten. Geleitet wurde die Studie von Dr. Alina Galimshina und den Professoren Bruno Sudret und Guillaume Habert. Die Untersuchung erfolgte in Kooperation mit der Westschweizer Fachhochschule und der Technischen Hochschule Chalmers.

Zwei Hebel für einen nachhaltigeren Bestand

Energetische Gebäudesanierungen umfassen in der Regel zwei Hauptmaßnahmen: Zum einen werden fossile Heizungen durch Heizsysteme, die mit erneuerbaren Energien betrieben werden, ersetzt. Zum anderen wird der Energieverbrauch des Gebäudes durch eine entsprechende Dämmung der Gebäudehülle gesenkt. Dabei gilt es, zahlreiche, teils unvorhersehbare Variablen zu beachten – etwa mögliche Klimaveränderungen, die Lebensdauer der Materialien, die Höhe der Energiekosten, die Instandhaltung durch Eigentümer*innen oder das Nutzer*innenverhalten. Die Renovierung sollte so erfolgen, dass über den gesamten Lebenszyklus hinweg möglichst wenig Treibhausgasemissionen entstehen. Um die optimale Renovierungsstrategie zu finden, muss der gesamte Lebenszyklus analysiert werden – von der Produktion der Baumaterialien über den Bau und Betrieb bis hin zu einem potenziellen Rückbau. Die Untersuchungen zeigten, dass die Dämmstoffe eine entscheidende Rolle hinsichtlich der Klimaauswirkungen eines Gebäudes spielen.


Auf den Dämmstoff kommt es an

Untersucht wurden sechs Gebäude, die zwischen 1911 und 1988 errichtet wurden und den gesamten renovierungsbedürftigen Schweizer Gebäudebestand repräsentieren. Die Forscher*innen berechneten für diese Bauwerke, wie viel Treibhausgas-Emissionen über einen 60-jährigen Lebenszyklus ab Sanierung entstehen. Dabei analysierten sie einerseits den Ersatz der bisherigen Heizung durch eine Gasheizung, eine Holzpelletheizung und eine Wärmepumpe sowie den Einbau einer Wärmedämmung unterschiedlicher Dicke aus herkömmlichen Dämmstoffen beziehungsweise alternativen Dämmstoffen wie Stroh oder Hanf. Letztere haben den entscheidenden Vorteil, dass sie im Herstellungsprozess viel weniger Energie benötigen, eine geringere Treibhausgasbelastung verursachen und während ihres Wachstums sogar CO2 aus der Atmosphäre binden. Ihr Nachteil liegt in den vergleichweise hohen Einbaukosten und der größeren Dicke, die für optimale Dämmung nötig wäre. Zum Vergleich: Für eine optimale Dämmung der sechs exemplarischen Bauwerke wird bei konventionellen Dämmstoffen eine Materialdicke von 0 bis 10 Zentimetern benötigt, während bei den alternativen Materialien eine Dicke von 20 bis 70 Zentimetern notwendig ist.

Die Mischung macht's

Die Untersuchungen der Forscher*innen zeigen, dass der Austausch von Öl- und Gasheizungen durch Wärmepumpen oder Holzpellet-Heizungen entscheidend ist, um Treibhausgas-Emissionen wirksam und kostengünstig zu senken. Außerdem ist der Einsatz von biobasierten Materialien zum Beispiel in Form von Strohballen, Hanfmatten und Hanfbeton sehr vorteilhaft. Vor allem hinsichtlich der sukzessiven Dekarbonisierung der Energieversorgung fallen die Treibhausgas-Emissionen, die bei der Herstellung konventioneller Dämmmaterialien entstehen, stärker ins Gewicht. Eine Kombination dieser beiden Faktoren kann dazu führen, dass sich bis zu 87 Prozent der Treibhausgas-Emissionen eingesparen lassen. Die ETH-Studie hebt sich von ähnlichen Untersuchungen ab, da sie künftige Ungewissheiten hinsichtlich des klimabedingten Temperaturanstiegs, die Entwicklung der Energiepreise und das Nutzer*innenverhalten berücksichtigt. Dies ist dem Forschungsteam durch den Einsatz geeigneter mathematischer Werkzeuge und Techniken des maschinellen Lernens gelungen.

Aus der Forschung in die Praxis

Ausgehend von der Studie stellt sich unvermeidlich die Frage: Wie kann man den Einsatz biobasierter Dämmstoffe für die Praxis skalierbar machen? Noch wird der Nutzung pflanzlicher Baustoffe mit Skepsis begegnet. Kritiker*innen werfen den Materialien hohe Kosten beim Einbau vor. Die späteren Einsparungen hinsichtlich der Betriebskosten werden dabei häufig vernachlässigt. Außerdem bleibt aufgrund der erheblich größeren benötigten Dämmstoffe die Frage, ob überhaupt genügend Stroh nachwachsen kann, um den Bedarf nachhaltig zu decken.

Untersuchungen dazu belegen, dass lediglich zehn Prozent der Strohmenge, die nachhaltig entnommen werden kann, ausreichen, um den gesamten Gebäudebestand in der Europäischen Union zu renovieren. Das Team der ETH spricht sich klar für eine Kombination von nachhaltigen Heizsystemen und biobasierten Dämmstoffen aus und hat sich zum Ziel gesetzt, ihre Erkenntnisse Architekt*innen, Planer*innen und Baufachleuten zugänglich zu machen. Dies soll unter anderem in Form von Diskussionsveranstaltungen geschehen. Zudem entsteht eine Website, auf der es ein Tool geben soll, mit dem sich Sanierungsstrategien bezüglich ihrer Klimafreundlichkeit vergleichen lassen.

Seegras: Ein vergessener Baustoff im neuen Licht

Das Kollektiv Frugal Bauen erprobt Seegras

Luisa Knödler

Fun Fact: Wusstet ihr, dass die Radio City Music Hall in New York und das Walter Gropius House in Lincoln einst mit Seegras gedämmt wurden? Seegras hat eine lange, fast vergessene Tradition als Baustoff, die vielfältig war. Anfang des 20. Jahrhunderts verkaufte es Samuel Cabot in den USA als Wärme- und Schalldämmstoff. Das Produkt, bekannt als Cabot’s Quilt, bestand aus getrocknetem Seegras, das zwischen zwei Lagen schweren Papiers genäht wurde. Doch in den 1930er-Jahren schrumpften die Seegraswiesen in Nordamerika und Europa aufgrund einer Plage um knapp 90 Prozent. Cabot’s Company stellte 1942 die Herstellung von Cabot’s Quilt ein. Schließlich geriet das Wissen über die Verwendung von Seegras ab den 1950er Jahren mit der Verbreitung künstlicher Dämmstoffe in Vergessenheit. 

Wie Læsø seit 400 Jahren der Feuchtigkeit trotzt

Heutzutage rückt Seegras dank seiner ökologischen Vorteile wieder in den Fokus. Yannik Fehmerling und Naima Mora vom Architekturkollektiv Frugal Bauen untersuchen das Potenzial von Seegras als nachhaltiges Baumaterial. Den Auftakt ihrer Arbeit bildete eine Exkursion zur dänischen Insel Læsø. Sie suchten den Austausch mit lokalen Dachdecker*innen, um traditionelle Verarbeitungsmethoden zu erlernen. 

Im Mittelalter entwickelten die dänischen Inselbewohner*innen eine einzigartige Technik zur Nutzung von Seegras, um langlebige und widerstandsfähige Dächer zu decken. Hierbei drehten sie aus einem Seegrasballen einzelne Zöpfe, die sie anschließend reihenweise an die unteren drei Dachlatten wickelten, bis eine Art Wall entstand. Darauf schichteten sie loses Seegras, bis das Dach mehrere Dutzend Tonnen wog. Diese Aufgabe erfüllten hauptsächlich Frauen, während die Männer auf See waren. Das langlebige Seegras bewährte sich durch seine außergewöhnlichen Eigenschaften: Es ist feuchtigkeitsresistent, schwer entflammbar dank seines hohen Salzgehalts und widerstandsfähig gegen Pilze und Schimmel. Auf Læsø wenden Dachdecker*innen dieses traditionelle Wissen bis heute an, allerdings nur für Erhaltungsarbeiten der historischen Tanghäuser. 

Vom Strand zum Dach: Frugal Bauen setzt auf Seegras

Aus ihren Studien ergaben sich drei zentrale Prozesse für die Nutzung von Seegras:

  • Sammeln: Seegras wird idealerweise nach Herbststürmen zwischen November und März geerntet. Es darf weder austrocknen noch mit Algen verunreinigt sein. 
  • Trocknen: Eine gründliche Trocknung ist entscheidend, um Schimmelbildung zu vermeiden. Nur vollständig getrocknetes Material eignet sich als Baustoff.
  • Verarbeiten: Die richtige Verarbeitung ist unerlässlich, beispielsweise das traditionelle Drehen von Seegrassträngen. Eine richtige Technik sorgt für die nötige Stabilität und Langlebigkeit des Materials.

Auf Basis der Forschungsergebnisse entwickelte Frugal Bauen erste 1:1 Mock-ups, um Seegras als Fassaden- und Dachmaterial zu testen. Seit Anfang 2023 testen sie die Seegrasfassade an einem Haus in Scharbeutz, nahe Lübeck, auf Witterungsbeständigkeit. Zur Veranschaulichung der Ergebnisse entstand ein kleiner Entwurf, der anhand des 1:50 Modells eines Wohngebäudes die Einsatzmöglichkeiten von Seegras zeigt. 

Das Gras der Meere: Ein Baustoff mit Potenzial

Trotz seiner vielen Vorteile bleibt Seegras ein Nischenmaterial. In Deutschland gibt es nur wenige Händler, die es anbieten, obwohl jährlich tausende Tonnen an die deutschen Küsten gespült werden. Statt dieses Potenzial zu nutzen, entsorgen Gemeinden das angespülte Seegras häufig, um die Strände für den Tourismus sauber und geruchsfrei zu halten. Lediglich in der Landwirtschaft findet es in einigen Küstenregionen als Dünger begrenzte Verwendung. Für Frugal Bauen ist klar: Damit Seegras als Baustoff etabliert werden kann, braucht es klare Regularien. Größere Langzeittests über fünf bis zehn Jahre können weitere Erkenntnisse zu einer flächendeckenden Nutzung liefern. Gerade in Küstenregionen könnte Seegras ein nachwachsender, alternativer Baustoff sein – ressourcenschonend und mit einer faszinierenden Geschichte.

Inspiration und Innovation
Fundermax arbeitet intensiv mit Universitäten und Fachhochschulen an konkreten Entwürfen und umzusetzenden Projekten. Durch die Möglichkeit, ein Projekt von Anfang bis Ende selbst zu gestalten und zu realisieren, bekommen die Studierenden bereits wichtige Praxiserfahrung und können Ihre Visionen mit innovativen Materialien in den Projekten realisieren.

Revolution Reet

Planen und Bauen mit Schilfgrasfertigteilen an der Hochschule Darmstadt

Katharina Lux

Reet als Baustoff, neu entdeckt: Was früher als Material der ärmeren Bevölkerung galt, feiert heute eine Renaissance in der Architektur. Warum ist das so? Reet punktet nicht nur durch hervorragende Materialeigenschaften, sondern auch durch seine geringe Energiebilanz und den minimalen Arbeitsaufwand – Emissionen entstehen hauptsächlich beim Transport. Ähnlich wie Lehm und Holz könnte dieses nachhaltige Naturmaterial wieder eine bedeutende Rolle in der modernen Bauindustrie spielen. Wie lässt sich Reet in zeitgenössische Bauprozesse integrieren?

Diese Frage beschäftigte Studierende der Hochschule Darmstadt unter der Leitung von Vertretungsprofessorin Anke Wollbrink. In einer Seminarreihe von 2023 bis 2024 analysierten sie die Eigenschaften und Potenziale des Materials, bevor sie im Wintersemester 2024/25 in einem Bauworkshop Reet und Holz zu Wand- und Dachelementen verarbeiten. So entstanden die Anfänge der sogenannten "ReetBAR" auf dem Campus, die noch dieses Jahr fertiggestellt wird.

Potenziale eines traditionellen Baustoffs

Schilfgras wächst schnell, bildet wertvolle Biotope, verbessert die Wasserqualität und bietet Tieren ein Zuhause. Der abgestorbene Teil der Pflanze wird jährlich durch neue Schösslinge ersetzt, geerntet und ohne Zusätze für Dächer und Fassaden genutzt. Nach einem eventuellen Rückbau ließe sich das Material einfach kompostieren.

Mit dem Ziel, diesen nachwachsenden Baustoff wieder in der Industrie zu integrieren, untersuchten die Studierenden im Seminar „KISS Smart Skin REET“ traditionelle und zeitgenössischen Bauweisen mit Reet – von deutschen Küsten bis zu Projekten in Dänemark und Frankreich. Sie analysierten Details wie Traufen und Sockel, den Lebenszyklus des Materials sowie seine Potenziale für den heutigen Einsatz. Das Ergebnis ist ein Reader, der als Basis für weitere Forschungen und die Umsetzung auf dem Hochschulgelände dienen soll.

Fertigteile mit dem Handwerk entwerfen

Darauffolgend entwickelten im Sommersemester 2024 weitere Studierende unter der Leitung von Professorin Anke Mensing erste Entwürfe für das sogenannte „BauLab“ – einen Experimentierbereich auf dem Campus. Ziel war es, mit Reet vorgefertigte, flexibel einsetzbare Elemente zu schaffen. Die Idee: Elemente, die wie Container überdachte Außenbereiche bieten, etwa für Arbeitsplätze oder als Materiallager.

Die „Prefab Reet“-Elemente sollten jedoch nicht nur in einer Reihe stehen können, sondern auch Bögen bilden, unter denen man arbeiten kann – vielseitig einsetzbar wie ein „fliegender Bau“ auf dem Campus. Besonderes Augenmerk lag dabei auf der Gestaltung der Traufe und der Details. Mit Unterstützung von Reet-Handwerker Marco Weichert entwickelten die Teams eine Unterkonstruktion und konnten dabei ihr handwerkliches Verständnis des nachwachsenden Materials vertiefen. Drei Studierende und eine der Lehrenden aus dem Team bauten im Sommer 2024 in der Werkstatt jeweils vier solcher Wand- und Dachelemente.

Vom Schilfhalm zur ReetBAR

Im Projekt ReetBAR sollten schließlich 30 Teilnehmende in einem Bauworkshop Planungs- und Bauprozesse praktisch umsetzen. Im Oktober 2024 fügten sie die Unterkonstruktion zu vier Fertigteilen zusammen und deckten sie mit Reet. Für die Umsetzung benötigten sie jedoch Material: Da deutsche Reetbestände meist in Naturschutzgebieten liegen, nutzten sie Reet aus Rumänien, was Diskussionen über Nachhaltigkeit und Lieferketten anregte. Aufgrund der reduzierten lokalen Verfügbarkeit besteht also noch Nachholbedarf für eine insgesamt gute CO₂-Bilanz.

Das Projekt offenbarte weitere Herausforderungen: Das dünne, kurze Reet erschwerte eine gleichmäßige Schichtdicke an den Verbindungsstellen. Mit Unterstützung von Professor Matthias Maier vom Fachgebiet Baukonstruktion und konstruktives Entwerfen entwickelten die Studierenden einen biegesteifen 3-Gelenk-Rahmen, ergänzt durch verleimte Verstärkungskeile. Durch die Zusammenarbeit mit Zimmerer- und Dachdeckerlehrlingen zementierten sie ihre handwerklichen Fähigkeiten. Im Dezember wird der zweite Bogen gesetzt – und die ReetBAR auf dem Campus fertiggestellt.