Focus@Campus

Alternative Architekturschule

Betriebssysteme informeller Lernräume

Editorial

Betriebssysteme informeller Lernräume

von Katharina Lux

Unsere akademische Lehre ist in erster Linie institutionalisiert. Die Universität besteht aus Hierarchien und Ämtern, Lehrplänen und festgelegte Förderungen, dafür vorgesehene Gebäude und darin aufgeteilte Vortrags- und Arbeitsräume. Parallel zu dieser starr vorgegebenen Konstruktion finden vereinzelt Aktionen und Projekte statt, die auf Eigeninitiative, Selbstorganisation und Interdisziplinarität ausgerichtet sind. Getragen von motivierten Forschenden, Lehrenden und insbesondere Studierenden generieren diese Initiativen neuartige Typologien von Lernräumen, in denen Prozesse des gemeinsamen Denkens und Machens herausgearbeitet werden – Orte, an denen Experiment und Praxis fusionieren und neue (soziale) Kompetenzen angeeignet werden.

 Wie funktionieren solch selbstorganisierte Betriebssysteme im Lehrsektor? Welche neuartigen Prozesse und Methoden werden durch nicht institutionelle Formen des Lernens katalysiert? Und wie profitiert die Architekturausbildung davon?
 
In dieser Ausgabe beschäftigen wir uns mit informellen Lernlandschaften, die eine Alternative zur etablierten Architekturlehre bieten. Wir berichten über die Floating – einem von raumlaborberlin initiierten, temporären Campus, der 2018 auf einem Regenwasserrückhaltebecken in Berlin entstanden ist. Zwei Koordinatorinnen des Projektes informieren uns über diesen besonderen Ort, der eigene, dynamische Lern- und Arbeitsprozesse schafft. Ein Studio ganz ohne Fachgebiet, Professur oder Leitung? Wir haben von Studierenden, die sich genau dieser Herausforderung stellen, über ihre Erkenntnisse mit Studios in Selbstorganisation gesprochen und drei verschiedene Beispiele aufgezeigt. In dem Gastbeitrag „Informelles Lernen in Durchgangsräumen“ schildern Grégoire Farquet und Beatrix Emo den Ablauf und das Fazit des Workshops „Watercress“ an der ETH Zürich. Der in der „ARCH+ 249: Learning Spaces“ (September 2022) erschienene Artikel beschäftigt sich mit neuen Konzepten für Arbeitsräume, die informelle, kreative, nicht hierarchische Lernerfahrungen fördern.

Floating Learnscapes

Nicht institutionell und ständig im Wandel: Lernen und Lehren an der Floating Berlin

Ein Interview von Katharina Lux

Ausstieg im Kreuzberger Getümmel am Südstern, zehn Minuten in Richtung Tempelhofer Feld, an der Seite ein kaum auffälliges Schild mit Pfeil zur „Floating“. Gehe ich ein paar Schritte weiter, finde ich mich auf einem Zugangsturm, gar Aussichtsturm aus Stahltreppen wieder, der plötzlich einen weiten Blick auf Stege, Beete, Schilf, kleine Holz-, Reetbauten und Pavillon-Dächer aus Kunststoffblasen eröffnet. Personen bauen Installationen auf, flechten, pflanzen Bäume und tragen Dinge hin und her. Das Treiben und die Sprache der Architektur und des Ortes lassen bereits die offene und alternative Struktur dieses Projektes erahnen. 2018 ist hier, initiiert von raumlaborberlin, inmitten eines Regenwasserrückhaltebeckens die Floating entstanden, ein (wiederkehrend) temporäres, innerstädtisches Offshore-Labor für Visionen urbaner Praxis, das zum gemeinsamen Lernen und Vernetzen einladen soll.

Im Zuge der Begründung der baulichen Struktur ist der Floating e.V. entstanden, der die Wasserinfrastruktur als kulturellen und sozialpolitischen Ort reaktiviert.  Mit unterschiedlichen Partner*innen, Universitäten und Akteur*innen entwickelt der Verein wiederkehrende Programme für das Projekt und ergründet stetig, wie auf dem saisonalen Gelände mit Nachbar*innen, Freiwilligen und Gästen im Einklang mit Flora und Fauna gearbeitet werden kann. Wir haben mit Kristin Lazarova und Antonia Schlaich gesprochen, die uns als organisierende und in den Prozessen beteiligte Personen das Konzept und die von außen zunächst undurchsichtige Infrastruktur dieses besonderen Lernortes nähergebracht haben. Kristin Lazarova koordiniert seit Mai 2022 das „Learnscape“-Programm, dass es Studierenden-Gruppen möglich macht, mit oder ohne Lehrpersonen verschiedenste Lernveranstaltungen an der Floating zu organisieren und Praktiken des co-, un- & relearning kennen zu lernen. Antonia Schlaich hat u.a. als freie Mitarbeiterin bei raumlaborberlin ebenfalls im Vorjahr am Programm mitgewirkt und ist derzeit weiterhin organisierend für die Floating im Einsatz.

Wie würdest Du die „Floating“ und ihr Konzept beschreiben? Wie können wir uns die Infrastruktur dieses besonderen Ortes hier vorstellen?

Kristin Lazarova: Bei der Frage könnte man bereits beim Namen beginnen „Floating Universtiy“. Das Wort University wurde gestrichen – aus rechtlichen Gründen, aber auch, um neue Möglichkeiten und Praktiken jenseits institutionalisierter Wissensproduktion abzubilden. Die Floating ist ständig im Wandeln und im Werden, das durch die menschlichen und nicht menschlichen Akteur*innen, die den Ort formen, entsteht. Im Kern wird hier gemeinsam gelernt. Und zwar praxisnah und praxisorientiert, spielerisch und experimentell, indem sich alle Beteiligten mit verschiedenen Themen auseinandersetzen, die direkt mit dem Areal verbunden sind. Das betrifft zum einen den Begriff der Naturkultur und die Verschmelzung von dieser Dualität. Andererseits geht es hier um die Transformationen von Räumen in der Stadt, um Multikodierung von Flächen, um urbane Praxis, Klimaschutz, Biodiversität, Boden, Ressourcenknappheit, Wassermanagement etc. Das Gelände ist eigentlich ein Regenwasser Rückhaltebecken, mit dem die Floating koexistiert und diesen Raum als Lernplattform nutzt, ohne die ursprüngliche Funktion der Infrastruktur zu verhindern. Zudem ist der Ort auch offen für verschiedene Programmierungen: Es gibt eine Basis-Infrastruktur, und es gibt Personen, die dann teilweise Programme selbst organisieren oder Menschen dabei helfen, sich einzubringen und Teil des Netzwerks zu werden.

Antonia Schlaich: Für mich hat die Floating eine stark sinnliche Intention. Durch die alternative und vor allem temporäre Architektur will sie zeigen, was in der Stadt noch so möglich ist. In vielen Programmen wird in Möglichkeitsfeld geboten, bei denen Gruppen einfach herkommen, diese Strukturen nutzen, sogar zum Teil selbst erweitern und sich generell von diesem Ort inspirieren lassen können. Wie baut man einen Raum auf, der für die Gemeinschaft, also für das Zusammentreffen von verschiedenen Personen konzipiert ist? Wir versuchen es durch Konzepte wie der offenen Küche im Mittelpunkt des Geländes und haben das Gefühl, dass es funktioniert. Interessanterweise läuft man oft unbewusst an diesem Ort inmitten von Kleingärten, Friedhof und Sportplätzen vorbei. Sogar Leuten aus der Nachbarschaft kennen dieses Projekt meist nicht. Sowas ist irgendwie selten in der Stadt – so ein Ort, bei dem sich die Natur ziemlich viel zurück erobern kann.

Es versammeln sich verschiedenste Formate, Lehr- und Lerninhalte in der Floating. Wie würdet ihr die Struktur beschreiben, und was sind essenzielle Unterschiede zu einer Universität und ihrer institutionellen Lehre?

Kristin Lazarova: Die Floating ist räumlich ganz anders als Lerninstitutionen. Zum einem schon alleine, weil man draußen ist und nicht in einem vom Wetter geschützten Raum. Im Juli ist es viel zu heiß, und im November kann man eigentlich kaum noch dort sein. Durch die offene Struktur ist es zum anderen aber auch ein Ort, der einlädt, sich spielerisch mit ihm auseinanderzusetzen und zu interagieren. Weiterhin wünschen wir uns, dass die Nutzer*innen, verschiedenste Lerngruppen etwa, sich in Eigenorganisation um sich selbst und den Ort kümmern. Der Verein kümmert sich zum Beispiel nicht um die Verpflegung der Gäste auf dem Gelände. Das heißt natürlich, dass dadurch auch neue und unerwartete Situationen entstehen. Ganz anders, als wenn man an der Uni ist und einfach zur Kantine geht. Den Leuten macht es hier Spaß, gemeinsam zu kochen oder sich darum zu kümmern, dass alle gute Laune haben. Dieser „Care-Aspekt“ steht plötzlich im Vordergrund, der vielleicht in einem institutionellen Raum und Rahmen nicht so präsent wäre.

Anders als bei der parallelen Raumanordnung an der Uni, lässt die räumliche Situation der Floating den direkten Kontakt zu anderen Gruppen oder gleichzeitig stattfindenden Veranstaltungen zu - wir hören, sehen, spüren, riechen, was um uns herum passiert. Damit ist die Situation viel niederschwelliger. Alle Beteiligten sind zudem auch schneller mit anderen Lehrmethoden konfrontiert. Dieses Phänomen beschreiben wir auch als „cross pollination“, was so viel bedeutet, dass über sich natürlich kreuzende Wege Blüten bestäubt werden. Das passiert hier auch mit den Lerngruppen, die gleichzeitig vor Ort sind. Dadurch kommen schnell unterschiedliche Disziplinen zusammen wie beispielsweise Akteur*innen aus der Nachhaltigkeitsforschung mit anderen aus Tanz und Bewegung oder der Anthropologie und Stadt-Geografie. Das eröffnet verschiedene neue Perspektiven, die Gemeinsamkeiten haben.

Antonia Schlaich: Für die Städtebau- und Architekturlehre ist das hier natürlich besonders. In der Uni sind die Leute immer an einem gewohnten Ort, entweder in einem Hörsaal oder in einem Studio, wo man sich dann hinsetzt und zuhört. Hier wird man aber schnell mit eingebunden, muss den Küchendienst machen und unterhält sich. Was macht ihr eigentlich gerade da drüben? Darf ich auch mithelfen? Das ist eigentlich genau das Schöne daran, und ich glaube, das hilft dem Lernen und Verstehen von Architektur.

Wie beeinflusst dieses alternative Konzept der Floating die Lehre?

Kristin Lazarova: Hier wird auch aus der Praxis heraus gelernt und gelehrt. Im Gegensatz zum rein akademischen Bereich findet an der Floating das Lernen auf so viele verschiedene Art und Weisen statt. Zum Beispiel gibt es Gruppen, die sich mit Kompost auseinandersetzen. Da kommen Expert*innen zum Einsatz, die nicht im institutionellen Rahmen lehren, sondern ihr Praxiswissen in Form von Workshops weitergeben. Es wird nicht erst gelernt und dann praktiziert, sondern man lernt durch das Machen. Dadurch wird der konventionelle akademische Weg umgedreht. Durch die intuitive Eigeninitiative wird erst im Nachhinein versucht, Schlussfolgerungen zu ziehen. Diese Herangehensweise ist sehr spannend.

Wie geht es weiter? Was habt ihr vor, und wie lässt sich mit dieser temporären, sich wandelnden Struktur für die Zukunft planen?

Kristin Lazarova: Wie es weitergehen kann, ist einerseits sehr komplex und gleichzeitig noch unklar. Es ist letztlich eine politische Frage. Die Fläche gehört dem Land, verwaltet von der Tempelhof-Projekt GmbH und ist gleichzeitig der einzige Projektbestandteil des Tempelhofer Flughafens, der sich im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg befindet. So gibt es verschiedenste Perspektiven auf den Ebenen des Bezirks, Senats und aus den zuständigen Fachämtern Umwelt, Sport und Stadtentwicklung, auf die zukünftige Entwicklung der Fläche. Jedoch werden auch das Potenzial und die Wirkung dieses informellen Campus auf die Stadt bemerkt. Dadurch, dass Flächen in Berlin immer knapper und Räume für alles gebraucht werden, geraten auch hier gewisse Nutzungsansprüche in Konkurrenz miteinander. Es werden sowohl Grünräume, Sportflächen als auch graue Infrastrukturen wie solch ein Regenwasserrückhaltebecken gebraucht, aber auch offene und selbstorganisierte Experimentierräume - Freiräume im weitesten Sinne - und da muss man in Zukunft sehen, wie solche Flächen multicodiert funktionieren, und wie solche Nutzungen im besten Fall koexistieren können.

Das Learnscapes-Programm selbst entwickelt sich auch von Jahr zu Jahr weiter. Im Sommer haben wir noch einmal das Netzwerk an Lernenden, Studierenden und Lehrenden im Rahmen des LearnPeaks-Symposiums zusammengebracht, um gemeinsam die Erfahrungen vor Ort zu reflektieren und uns über experimentelle Praktiken des Lernens, aber auch über Zukunftsperspektiven auszutauschen. Wie gelingt nicht hierarchische Selbstorganisation in einer Lerngruppe? Was braucht es an Institutionen und an Transformationen, bzw. was kann man von der Floating lernen und wieder an die Uni zurückbringen? Und was genau bräuchte es für eine Floating „Community of Practice“? Was ich hierbei sehr spannend fand, ist, dass die Teilnehmer*innen die Notwendigkeit solcher Transformations- und Lernorte betonen und sich auch gewünscht haben, eine Art „Assembly“ zu organisieren. Dort könnte sich das Netzwerk, das Akteur*innen und Institutionen aus Berlin, Europa und weltweit durch die Floating und das Programm verknüpft, etwa einmal im Jahr treffen und gemeinsam die Floating Learnscapes weiter formen. Es ist noch einmal sichtbar geworden, welche Bedeutung die Floating für die städtische und gesellschaftliche Transformation hat und haben kann, für Personen mit und ohne akademischen Hintergrund, aus der Nachbarschaft oder aus anderen Ländern, für Lernende und Praktiker*innen, Menschen und Nicht-Menschen, Jung und Alt, als Ort des Austauschs und des gemeinsamen Lernens.

Ein Studio in Selbstorganisation

Wenn Studierende die Lehre übernehmen – Drei Initiativen im Vergleich

Text von Sorana Radulescu

Hierarchisch, starr und unidirektional – dieser Unterrichtsstil dominiert nach wie vor weitgehend die Hochschulstrukturen. Demnach lernen Studierende von ihren Lehrkräften, die wiederum über die zu vermittelnden Inhalte und Aufgaben alleinig bestimmen. Was passiert aber, wenn die Rollen getauscht werden, die Studierende in den Vordergrund rücken und damit auch die Verantwortung übernehmen? Mit welchem Lerneffekt kann man rechnen, und mit welchen Erwartungen geht man so ein Projekt an? Anhand von drei durch Studierende organisierte und umgesetzte Lehrveranstaltungen an der Universität Kassel, TU Berlin und ETH Zürich lässt sich ein Modell erkennen und erklären. Der gemeinsame Nenner: Wunsch nach Autonomie.

In Kassel bestimmen Studierende die Ausrichtung des unkonventionellen Seminars „Less:on“ des Fachgebiets Architekturtheorie und Entwerfen, in Berlin treffen sich Lehrkräfte und Master-Studierende am Fachgebiet Natural Building Lab (NBL) auf Augenhöhe, und in Zürich experimentiert eine junge Gruppe am Lehrstuhl „NEWROPE“ mit einem selbstorganisierten Studio, dem „SOS“. Die Gespräche mit Lernenden und Lehrenden haben uns ermöglicht, die Ziele, Strukturen und Herausforderungen des Modells zu erkennen.

Initiative ergreifen

Wo fängt es an? Wer ergreift die Initiative für das neuartige Lehrformat und skizziert den Rahmen dafür? Auch wenn die Planung und Durchführung einer selbstorganisierten Lehrveranstaltung primär in der Verantwortung der Studierenden liegen, erweist sich der Rückhalt eines Lehrstuhls als fundamental. Die strukturelle Einbettung in ein Fachgebiet setzt den Rahmen und legitimiert gleichzeitig den neu entstandenen Kurs. Die drei benannten Fachgebiete und deren Mitglieder unterstützen das Format und ermöglichten dessen Zustandekommen.

Das SOS entstand beispielsweise aus der Auseinandersetzung des Lehrstuhls NEWROPE mit neuartigen Lernumgebungen und Lehrarten. Zu diesem Thema wurde im Sommersemester 2022 in Zusammenarbeit mit Momoyo Kaijima und Grégoire Farquet von dem Lehrstuhl für „Architectural Behaviorology“ das Studioprojekt „Learning Spaces“ durchgeführt. Die gesammelte Erfahrung führte zu der Idee eines selbstorganisierten Lehrformats. Das Grundgerüst für das ergebnisoffene Projekt haben die Lehrenden zusammen mit Studierenden und Mitgliedern des Vereins „architektura“ über den Sommer 2022 definiert. Die Findungsphase warf essenzielle Fragen auf: Wie geht man mit dem Widerspruch um, die Rahmenbedingungen für ein Studio, bei dem eigentlich nichts vorgegeben sein sollte, definieren zu müssen? Wie schafft man eine Struktur, die ausreichend Orientierung und Sicherheit für ein Projekt bietet, das sich am Ende selbst organisieren muss? Als kreative Antwort auf diese Fragen entwarfen die Initiator*innen unter anderem ein Kartenspiel, das den Studierenden bei der Themenauswahl, Gruppenbildung, Organisation und Ideenfindung half.

Untereinander und voneinander

Der Fokus eines selbstorganisierten Studios liegt nicht primär auf Leistung und Ergebnis, sondern auf dem Prozess und auf den Inhalten, die sich die Lernenden aneignen möchten. Die enge Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung der Kommilitonen sind daher stärker gefragt. In den drei oben genannten Lehrveranstaltungen arbeiten die Studierenden eng zusammen. Miteinander reden, bauen, debattieren oder sogar kochen – in den Räumen der Fakultät oder bei informellen Treffen außerhalb der Universität wird das Teamgefühl gestärkt. Diese Organisationsart fördert das solidarische Beisammensein, relativiert den sonst stark eingeprägten Konkurrenzinstinkt, und das gemeinsame Arbeiten wird intensiver erlebt. Die Teilnehmenden sind überzeugt, dass man durch diese Art der selbstorganisierten, gemeinschaftlich betriebenen Lehre mehr voneinander lernt als in einer klassischen Struktur. Ein höheres Maß an Reflexion und der direkte Austausch untereinander ergänzen und kompensieren die Betreuung durch die Lehrenden.

Rollen, Lernziele und Erwartungen

Wenn das Feedback der Kommiliton*innen einen neuen Stellenwert erhält, wie lassen sich die Erfahrung und das Wissen der Lehrkräfte ausgleichen? Die Lehrenden am NBL stellen, so die Studierenden, den „ideologischen Kompass“ dar. Sie übernehmen eine Beratungsrolle, indem sie, wenn gefragt, auf ihre Expertise zurückgreifen. Sie liefern spezifischen Input in Form von Ideen, Empfehlungen oder konkreten Detail-Lösungen. Das aber nur, nachdem sichergestellt wurde, dass die Studierenden selbst reflektiert und sich untereinander geholfen haben. An dem Fachgebiet „NEWROPE“ fungieren die von ihrer Rolle befreiten Lehrkräfte als Ansprechpartner*innen. Die größere Autonomie der Studierenden geht einher mit einem höheren Maß an Vertrauen vonseiten der Lehrenden. 

Ein Studio in Selbstorganisation setzt die Freiheit in der Themenauswahl voraus. Unsere Gesprächspartner*innen haben uns vermittelt, sich dadurch stärker mit den ausgewählten Themen identifizieren und entsprechend leidenschaftlicher handeln zu können. Am NBL bestimmen die Teilnehmenden der Master-Klasse ihr eigenes Projektthema, das sich in einen politischen, klima- oder gemeinwohl-orientierten Kontext einordnen lässt. In Kassel haben die Studierenden dieses Mal den inhaltlichen Schwerpunkt der traditionsreichen Vortragsreihe „Fusion“ mitdefinieren können. An der ETH durften die SOS-Teilnehmenden nicht nur das Thema des Studios, sondern dessen Struktur, Inhalte und Arbeitsmedium infrage stellen. In ihren Augen ermöglicht diese Ergebnisoffenheit ein maximales Ergründen.

Mit der Verlagerung des Schwerpunkts auf den Prozess ändern sich die Lernziele und Erwartungen. Allzu selten legt der klassische Unterricht Wert auf die Sozialkompetenzen. Besonders stark ließ sich aus den Gesprächen heraushören, dass das selbstorganisierten Experiment, ein Akquirieren neuer, wertvoller Fähigkeiten ermöglicht: Anderen zuzuhören, eigene Meinungen durchzusetzen, sich selbst und Kolleg*innen zu evaluieren und letztendlich auch freizulassen und auf Kontrolle zu verzichten.

Erfolgreich, aber nicht für alle

Die größere Autonomie der Studierenden geht einher mit einem höheren Maß an Vertrauen, in sich selbst und vonseiten der Lehrenden. Mit dem Auflösen der zentralen Rolle der Lehrkraft entfällt auch die neutrale Position der Moderation, implizit auch eine äußere Einschätzung der Gruppendynamiken. Der Bedarf nach Betreuung wird weniger transportiert und erkannt. Somit genießen die Teilnehmer*innen eines selbstorganisierten Studios die Freiheit meistens mit Vorbehalt. Eine starke Disziplin ist gefragt, um der lauernden Gefahr der Prokrastination zu widerstehen. Dass diese Form des Arbeitens nicht alle Architekturstudierenden anspricht, ist nicht überraschend. Zahlreiche Student*innen brauchen Anweisungen, eine klare Struktur und Vorgaben, an die sie sich halten können. Besonders herausfordernd wird es, wenn man als Organisator*in zusätzliche Aufgaben wie Finanzierungsanträge, Budgetkontrolle oder Bereitstellung der Infrastruktur koordinieren muss.

Haben die Lehrformate in Kassel und Zürich noch einen experimentellen Ansatz, hat sich das Master-Kolloquium in Berlin bereits etabliert. Die Studierenden wissen inzwischen, worauf sie sich einlassen und was sie erwartet. Das Modell eines selbstorganisierten Studios ist nicht für alle Student*innen gleich bereichernd und kann bestehende Lehrmethoden nicht gänzlich ersetzen. Die drei besprochenen Projekte leben von den Beteiligten, die sie initiieren, tragen und erfolgreich weiterführen.

Informelles Lernen in Durchgangsräumen

Eine Wiederveröffentlichung aus „ARCH+ 249: Learning Spaces“ (September 2022)

Gastbeitrag von Grégoire Farquet und Beatrix Emo

Wie lassen sich neue Konzepte für Lernräume entwickeln, die informelle, kreative, nicht-hierarchische Lernerfahrungen fördern? Wie werden Lernende zu Ko-Kreator*innen von Wissen statt zu Konsument*innen von Information? Wie kann Raum selbst Lernprozesse verändern, und umgekehrt, wie lassen sich innovative Lernformate in der Architektur zukünftiger Universitäten räumlich umsetzen? Dies sind einige der Kernfragen, die den einwöchigen experimentellen Watercress Workshop begleiteten, der im September 2019 vom Lehrstuhl für Architectural Behaviorology und dem Lehrstuhl für Cognitive Science der ETH Zürich organisiert wurde.

Der Workshop fand im ikonischen HIL-Gebäude von Max Ziegler und Erik Lanter aus dem Jahr 1976 statt, in dem große Teile der Architekturfakultät in der Außenstelle Hönggerberg-Campus am Stadtrand von Zürich untergebracht sind. Im Erdgeschoss des HIL-Gebäudes gibt es einen langen, breiten Gang, der als Eingangs- und Ausstellungsfoyer dient, sowie zu einem Seitenflügel und zu diversen Erschließungen führt. Obwohl dieser Gang relativ hell und direkt von außen zugänglich ist, wird er kaum genutzt beziehungsweise ist seine Hauptfunktion sehr auf die eines Durchgangsraums beschränkt. Beim Watercress Workshop ging es vor allem um die temporäre Umwandlung dieses Ganges in einen mit Leben erfüllten informellen Lernraum, wobei Konzept und Gestaltung in einer interdisziplinären Gruppe von Studierenden entwickelt werden sollten. Mit relativ wenigen Mitteln, wie beispielsweise Restmaterialien aus früheren Ausstellungen und aus der Mensa ausgeliehenen Tabletts, realisierten die Teilnehmer*innen einen kleinen hängenden Garten mit Kresse als zentralem Element, um einen offenen Transformationsprozess für den Raum anzustoßen. Der hängende Garten bot den Studierenden einerseits die Gelegenheit, selbst Hand anzulegen und gemeinsam eine 1:1-Raumintervention zu bauen. Andererseits war er ein Katalysator für andere nicht planbare informelle Aktivitäten, die aus der Neugierde der Nutzer*innen heraus entstanden und zu immer weiteren Beteiligungen animierten. Alle, die durch den Gang liefen, waren eingeladen, sich zu beteiligen – man konnte die Kresse gießen, ernten und bei der Abschlussveranstaltung auch essen. Darüber hinaus war der hängende Garten auch ein unaufdringlicher Raumteiler, der den Gang in Zonen mit unterschiedlichem Maß an Offenheit und Intimität gliederte. Diese Raumqualitäten ergaben sich aus einem Gestaltungsprozess, bei dem wissenschaftliche Beobachtungsmethoden eingesetzt wurden, um Aufschluss darüber zu gewinnen, wie Menschen den Raum nutzen (siehe den Beitrag von Beatrix Emo und Christoph Hölscher in der ARCH+249-Ausgabe). Eine einfache axonometrische Zeichnung zeigt die Verbindungen zwischen beobachteten Verhaltensmustern und neuen räumlichen Rahmenbedingungen auf. Anzahl, Ort und Aktivitäten der Nutzer*innen, wie sie in der Zeichnung festgehalten wurden, gründen auf Verhaltensbeobachtungen.

Basierend auf den Erfahrungen des Watercress Workshop verfolgten Studierende in mehreren Studien die Idee weiter, das Potential anderer Zirkulationsräume auf dem gesamten Campus zu untersuchen. Sie entwickelten darüber hinaus auch Gestaltungslösungen, die informellere Nutzungen bestehender Räume ermöglichen könnten. Die Reaktivierung eines wenig genutzten Schwellenraums war Inspiration für Studierende und Lehrende gleichermaßen, das brachliegende Potential von Durchgangsräumen zu erforschen, um zufällige Interaktionen sowie eine Mischung aus Lernen und Diskussionen zu ermöglichen, damit Arbeit und Vergnügen nebeneinander Platz finden und unerwartete Gelegenheiten für neue kreative Lehr- und Lernformate entstehen.