Editorial
Vamp it up! Wenn der Bestand an seiner (Außen)wirkung arbeitet
Editorial
Vamp it up! Wenn der Bestand an seiner (Außen)wirkung arbeitet
Wer während der Architekturbiennale zwischen Arsenale und Giardini an der Wasserpromenade entlanggeht, stößt auf eine außergewöhnlich verhüllte Fassade: ein historisches Eckgebäude, verborgen hinter einer Schicht aus WDVS-Platten.
Schock! Empörung! Dann aber Neugier: Die künstlerisch inszenierte Fassadenbekleidung deutet selbst für Laien auf eine Botschaft hin. Der Estnische Beitrag zur 19. Architekturbiennale, „Let me warm you“, thematisiert die großangelegten Maßnahmen zur energetischen Ertüchtigung des nationalen Gebäudebestands. In Estland gleicht diese Initiative einem baulichen Marathon – mit weitreichenden, aber unausgeschöpften Implikationen für Architekt*innen.
Dicker, dichter, besser?
Die Kuratorinnen Keiti Lige, Elina Liiva und Helena Männa beleuchten mit ihrer Ausstellung Widersprüche: zwischen den klimapolitischen Zielen des Staats und dem Wohl der Gemeinschaften, zwischen technischen Lösungen und den Bedürfnissen der Bewohner*innen. Doch wie spiegeln sich diese Gegensätze in einer anonymen Schicht WDVS? Ausgangspunkt war die nüchterne Beobachtung des Teams: „Um den Klimawandel zu bewältigen, bringt die eine Hälfte der Welt immer dickere Isolierschichten an, während die andere Hälfte immer leistungsfähigere Kühlsysteme einsetzt.“
Die thermisch isolierte Fassade in Venedig, verkleidet mit vorgefertigten Paneelen, stellt zwei extreme Renovierungspraktiken gegenüber: Während Sanierungsmaßnahmen in Italien den historischen Bestand in Szene setzen, wird die Bausubstanz in Estland meist durch eine glatte, hermetische Schicht bedeckt.
Ein Wettlauf um energetische Zertifikate
Um bis 2050 klimaneutral zu werden, fördert die Europäische Union Ertüchtigungsmaßnahmen in ihren Mitgliedsstaaten. Rund 75 Prozent des europäischen Gebäudebestands gelten als thermisch ineffizient und verbrauchen etwa 40 Prozent der in Europa produzierten Energie. In Estland soll das LIFE IP BuildEST-Projekt die ambitionierten Klimaziele durch eine umfassende Renovierungsoffensive erreichen. Wie viele Länder des ehemaligen Ostblocks kämpft Estland mit einem hohen Anteil an Gebäuden aus der sozialistischen Ära: schlechte Bauqualität, hoher Sanierungsbedarf. Rund 14.000 Wohnbauten sind betroffen.
Der „Sanierungsmarathon“ folgt einem standardisierten Ablauf – ein bürokratischer Prozess, in dem Architekt*innen spät einsteigen und wenig Gestaltungsspielraum haben. Meist beschränken sich die Maßnahmen auf technische Lösungen: neue Heiz- oder Lüftungssysteme und eine isolierende Hülle. Diese senken zwar die Betriebskosten, verbessern aber insbesondere räumlich kaum die Lebensqualität in den betroffenen Siedlungen.
Neue Hülle, alte Probleme
In Estland sind rund 90 Prozent des Wohnraums in privater Hand – Sanierungen erfordern daher die einstimmige Zustimmung aller Eigentümer*innen. Während die energetische Optimierung mit messbaren Vorteilen punktet, bleiben die Potenziale für eine räumliche Weiterentwicklung oft ungenutzt. Eine vertane Chance, laut den Kuratorinnen, die eine Generation von Planenden vertreten, die sich um die Qualität dieser Eingriffe für die kommenden Jahrzehnte sorgen. „Let me warm you“ ist ihr Plädoyer für planerische Verantwortung in einem technokratischen Ertüchtigungsprozess. Denn trotz der vermeintlichen äußerlichen Verschönerung des Hauses bleibt die Wohnqualität unverändert.
Die Ausstellung verlässt die technisch-messbare Ebene und adressiert die soziale Komponente durch architektonische Maßnahmen. Um koordinierte Entscheidungen zu treffen und langfristige Aneignung zu fördern, brauche es Austausch zwischen den Bewohner*innen – so die Kuratorinnen. Doch in den monofunktionalen Siedlungen fehle es an Begegnungsorten und damit auch an einem kollektiven Verständnis.
Lehre, Forschung und Bewusstsein
Keiti, Elina und Helena lehren und forschen an der Estonian Academy of Arts – wo sie sich gemeinsam mit Studierenden ganz ähnliche Fragen stellen. In den Entwurfsprojekten untersuchen sie verschiedene Maßstäbe – vom städtebaulichen Block, in dem es um Nachverdichtung mit bislang fehlenden öffentlichen Funktionen geht, bis hin zu baulichen Details, die mit modularen Systemen größere Balkone oder Gemeinschaftsflächen schaffen. Die Ausstellung in Venedig bot den Anlass, diese Projekte zu präsentieren.
In ihrer Forschung geht es den Architektinnen nicht nur um gestalterische Interventionen wie optimierte Grundrisse oder Gemeinschaftsräume, sondern auch um Bewusstseinsbildung. Eine Plattform soll mögliche Eingriffe visualisieren und die Nutzer*innen über die Maßnahmen aufklären. Denn nur, wenn alle mitgehen, kann der Sanierungsmarathon mehr werden als ein Wettlauf.
Was macht Architektur offen? Physische Zugänglichkeit und Transparenz sind nur ein Anfang. Wahre Offenheit entsteht in den Beziehungen, die Räume stiften. Das Zürcher Kollektiv 8000.agency – gegründet während des Architekturstudiums an der ETH Zürich von Oliver Burch, Jakob Junghanss und Lukas Ryffel – versteht Offenheit als Haltung. Seit 2020 widmen sie sich der Transformation bestehender Gebäude und formulieren eine klare These: Der Bestand ist kein Hindernis, sondern Ausgangspunkt. Statt Tabula Rasa setzen sie auf das Weiterbauen – durch Öffnen, Ergänzen und Anknüpfen.
Erschließung als Möglichkeitsraum
Im Rahmen des BSA-Forschungsstipendiums 2024 untersuchte das Kollektiv im Projekt „Offen erschlossen. Ansätze zum Weiterbauen“ die Rolle von Erschließungsräumen – nicht nur als Verbindungszonen, sondern als kommunikative Schwellenräume. Auslöser: der anhaltende Bauboom in der Schweiz, der makellose, aber oft wenig nachhaltige Neubauten hervorgebracht hat.
„Offen erschlossen“ – publiziert als Buch und mündend in einer Ausstellung – soll dabei mehr als ein räumliches Konzept sein. Es versteht Erschließung als Möglichkeitsraum. Laubengänge, Galerien und Vorzonen seien nicht nur funktionale Verbindungen, sondern erweitern und reorganisieren bestehende Strukturen. 8000.agency recherchierte dazu Beispiele, die genau das architektonisch umsetzten, wie z.b. offene Treppenhäuser, geschützte Arkaden und zugängliche Balkonschichten. Dabei standen drei Aspekte im Fokus: Wandelbarkeit, Mehrwertigkeit und Porosität – verstanden als Auflösung harter Grenzen zwischen Innen und Außen. Übergänge, die differenzierte Nutzungen und Aufenthalte ermöglichen.
Limmatwest: Verflechtung über Laubengänge
Ein Beispiel ist das Wohnprojekt Limmatwest, das zwischen 1988 und 1999 auf einem ehemaligen Industriegelände in Zürich entstand. In Ausdehnung und Typologie auf die angrenzende Flusslandschaft bezogen, prägt in der Anlage ein Netz aus Laubengängen die Erschließung. Diese bilden nicht nur Wege, sondern gemeinschaftliche Schwellenräume – eine „Wohnstraße“, die das Private mit dem Öffentlichen, sowie das Wohnen mit der Stadt verwebt und zudem die Gewerbeeinheiten versorgt.
Schwellenraum Halle
Radikaler zeigt sich das Potenzial des Weiterbauens in der Winterthurer Wohnüberbauung Lokomotive, die zwischen 2001 und 2006 nach einem Entwurf von Knapkiewicz & Fickert entstand. Hier blieb eine ehemalige Eisengusshalle als unbeheizter, witterungsgeschützter Raum zwischen zwei neuen Wohnzeilen erhalten. Die leere Halle dient als großzügiger Schwellenraum, der sämtliche Wohnungen erschließt. Statt alles thermisch zu kontrollieren, nutzt das Konzept unterschiedliche Klimazonen. Der Zwischenraum wird nicht als Mangel, sondern als Chance gelesen. Er erlaubt eine spezifische Reaktion auf Jahreszeiten, Sonnenstand und Nutzungsverhalten.
Wohnen in der Fabrik
Ein weiteres Beispiel liefert die Siedlung Arche Nova von 1956 in Oberuster. Die ehemalige Fabrikhalle von Roland Rohn blieb in ihrer Struktur erhalten und zur Wohnsiedlung umgebaut. Zwei Reihenhauszeilen flankieren die Halle, die als Erschließungs- und Gartenraum fungiert. Die ursprüngliche Tragstruktur bleibt dabei bestehen und überspannen den Innenhof.
Kaleidoskop der Möglichkeiten
Mit der Wanderausstellung Kaleidoskop, 2024 erstmals am D-ARCH der ETH Zürich gezeigt, übersetzt 8000.agency ihre Recherche in ein mobiles, offenes Format. Lange bedruckte Vorhänge tragen Bilder, Zitate, Pläne und Texte. Zudem zeigt das Kollektiv in ihrer begleitenden Publikation „Offen erschlossen. Ansätze zum Weiterbauen“, wie wandlungsfähig eine Gebäudehülle sein kann. Drei Teile gliedern das Buch – ein theoretischer Zugang zur Offenheit in der Architektur, ein kaleidoskopischer Mittelteil mit den Recherchearbeiten, sowie eine Sammlung konkreter Projekte mit Plänen und Analysen.
Drei Hochschulstandorte, drei Bestandsstrukturen, drei Charaktere: Die OST – Ostschweizer Fachhochschule – verfügt mit Rapperswil, Buchs und St. Gallen über drei Campi, die funktional wie architektonisch kaum unterschiedlicher sein könnten. Genau hier setzt ein ungewöhnliches Lehrformat an: In der mehrsemestrigen, interdisziplinären „Bauausstellung OST“ entwickeln Studierende ressourcenschonende Konzepte für die drei Standorte.
Der Auftakt erfolgte im Frühjahrssemester 2022 am Campus Rapperswil. Unter der Leitung von Prof. Anna Jessen entwarfen Studierende der ArchitekturWerkstatt St. Gallen Strategien zur Transformation des dortigen Gebäudebestands. Im aktuellen Semester 2025 war der Standort Buchs im Fokus, im kommenden Wintersemester folgt der Campus St. Gallen.
Warum eine Bauausstellung?
Internationale Bauausstellungen (IBA) gelten als experimentelle Plattformen für zukunftsweisende Architektur- und Städtebaukonzepte. Die Bauausstellung OST greift dieses Prinzip auf und überträgt es in den akademischen Kontext. Ziel ist nicht eine klassische Semester-Endpräsentation, sondern ein langfristiges, integratives Format, das Architektur, Landschaftsarchitektur und Bauingenieurwesen miteinander verzahnt. Studierende sollen dabei in einem Semester umfassende, ganzheitliche Konzepte für die jeweiligen Campi entwickeln, die anschließend öffentlich präsentiert werden.
Rapperswils offene Seele
Der Campus Rapperswil liegt malerisch am Südwestufer des Zürichsees, eingebettet in ein sensibles Naturschutzgebiet. Der 1972 von Paul Tittel entworfene Bau mit Cortenstahl-Fassade folgt der Tradition der Solothurner Schule: ein aufgeständertes Hauptgebäude, dessen offene Eingangshalle fließend in die Umgebung überging. Innen- und Außenraum bildeten ein durchlässiges Kontinuum. Doch Umbauten und technische Nachrüstungen verdrängten dieses Prinzip. Der einst offene Grundriss wich einer zellenartigen, verdichteten Struktur.
Im Rahmen der ersten Bauausstellung entwickelten Studierende 16 konkrete Projektbausteine: von Fassadensanierungen und Aufstockungen bis zu Konzepten für Energiegewinnung und renaturierte Außenräume. Zudem sollte die ursprüngliche Offenheit durch gezielte Rückbauten wiederhergestellt werden. Eine neue Studierendengruppe digitalisierte die Ergebnisse im Folgejahr 2023 und entwickelte einen Augmented-Reality-Rundgang, der die Konzepte öffentlich erlebbar machte. Hier einige davon:
Was ist möglich bis 2027?
Was 2022 mit ersten Szenarien begann, soll im Sommer 2027 in einer übergreifenden Ausstellung an den drei Standorten münden. Die Bauausstellung OST fragt damit nicht: „Was ist geplant?“, sondern: „Was ist möglich?“. Sie zeigt, was entstehen kann, wenn Planung, Gestaltung und Forschung den Mut aufbringen, Zukunft vorwegzunehmen, statt sich nach Aufträgen zu richten. Wir als Redaktion sind gespannt auf die kommenden Ergebnisse.