Textiler Lehm: Wolle als natürliche Fassadenbekleidung

Kann verfilzte Wolle als Gebäudehülle fungieren? Ein Forschungsvorhaben in der Schweiz untersucht das Potenzial dieses Materials für ein hinterlüftetes Fassadensystem.

Dank der Qualitäten des Materials gilt Wollkleidung als hochwertig und hochpreisig. Weniger bekannt ist jedoch, dass in vielen Ländern weltweit der Großteil der geschorenen Wolle nicht verwertet, sondern teuer entsorgt oder verbrannt wird. Wie kann ein dermaßen vielversprechender Rohstoff zu Abfall werden? Und könnte die Bauindustrie nicht von den Eigenschaften des Materials profitieren? Diese Fragen beschäftigen Architektin Saikal Zhunushova in ihrer Praxis und Forschung. In Zusammenarbeit mit dem Institut Konstruktives Entwerfen an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) untersucht sie zukünftig die Anwendungsmöglichkeiten von Wollfilz als Fassadenbekleidung. 

Gut verhüllt

Feine Wolle für den Mantel, grobe Wolle auf die Fassade – so ließe sich die Forschungsidee vereinfacht zusammenfassen. Denn ähnlich wie der menschliche Körper muss auch ein Gebäude sein thermisches Gleichgewicht halten und dafür gekühlt oder erwärmt werden. Bisherige Anwendungen von Wolle als Baumaterial beschränken sich auf Dämmstoffe und Akustikpaneele. Doch was kann das Material noch leisten?

Schafwolle besteht zu 85 Prozent aus Luft, ist schwer entflammbar, hitzeabweisend, recyclebar und biologisch abbaubar. Bei jeder Schur – Schafe werden ein- bis zweimal im Jahr geschoren – fallen pro Tier etwa 2 bis 2,5 Kilogramm Wolle an. Allerdings ist der Anteil an feiner Wolle, die für Bekleidung geeignet ist, gering. Der überwiegende Teil besteht aus grober Wolle und macht hunderte Tonnen pro Jahr allein in der Schweiz aus. Wenn verarbeitet, entstehen daraus industrielle Filzmatten oder Dünger. Um Filz herzustellen, werden lediglich Wolle, Wasser und ggf. Seife benötigt. Im Walzverfahren presst man schuppenartigen Fasern zu festen Flächen, die sich für die Outdoor-Anwendungen eignen.

Von Residuum zu Rohstoff

Algen, Stroh oder Schilf – Die Forschung von Fassadentechnologien mit natürlichen Materialien unterstützt das ökologische Versprechen der Bauindustrie. Nun soll auch Wollfilz dazu beitragen. Saikal Zhunushova bezeichnet den natürlichen Rohstoff aufgrund seiner einfachen Verarbeitung als „textilen Lehm“. Die Architektin und Absolventin des ZHAW untersuchte das Potenzial des bisher übersehenen Materials zunächst auf empirische Weise: Sie baute einen Mock-up an ihre Bürofassade und dokumentierte das Verhalten der schindelartigen zweiten Haut über ein Jahr hinweg. So konnte sie Befestigungstechniken, Kosten, Pflege und Wartung oder das Verhalten der Filzschichten bei Regen oder Sonneneinstrahlung testen.

Was vorläufig einem Kunstprojekt ähnelt, soll in Zukunft ein alternatives Bausystem darstellen. Nicht nur ein Gebäude kann von einem hinterlüfteten Fassadensystem mit Filz profitieren, sondern auch das Stadtklima. Durch die langsame Abgabe der aufgenommenen Feuchtigkeit – das Material ist in der Lage, bis zu 33 Prozent seines Trockengewichts an Wasser aufzunehmen – kann Wolle nämlich die Bildung von urbanen Hitzeinseln vermeiden.

Auf Tradition aufbauen

Die Inspiration für dieses Projekt stammt aus Saikal Zhunushovas Heimatland Kirgistan, wo die Verarbeitung und Nutzung von Filzmatten als Gebäudehüllen für Jurten eine lange Tradition hat. Dieses Wissen soll auch in das Forschungsprojekt einfließen, indem eine Zusammenarbeit mit Unternehmen aus der Schweiz und Kirgistan vorgesehen ist – beides Länder, die jährlich eine tonnenweise Überproduktion an Wolle haben.