"Zu klein" - so hieß das von Prof. Martin Baur und Prof. Florian Latsch geleitete Seminar des Fachgebiets „Entwerfen und Industrielle Methoden der Hochbaukonstruktion“ (EIK) der Technischen Universität Darmstadt im Wintersemester 21/22. Auf einem Hanggrundstück im mittelhessischen Ort Arfurt an der Lahn untersuchten Studierende, ob und wie regionaltypisches, verdichtetes Bauen im ländlichen Raum zeitgemäß weiterentwickelt werden kann. Das geschah jedoch nicht durch maßgerechte Bauaufnahme, Grundrisszeichnungen und 3D-Visualisierung, sondern rein über das Modell. Mithilfe der Arbeit an atmosphärischen Modellen sollte in drei Teilaufgaben ein Zukunftsszenario für ein ausgewähltes Grundstück im Dorf skizziert werden. BauNetz Campus hat mit den Lehrenden darüber gesprochen, wie sie den Arbeitsprozess und insbesondere die Erfahrungen mit Modellbaufotografie bewerten und was diese Methode leisten kann.
Können Sie uns erklären, warum und wie genau Sie mit den Studierenden an das Thema herangegangen sind und welche Rolle hierbei die Methode Modellbau spielte?
Prof. Florian Latsch: Mit der Aufgabe sprechen wir ein Problem an, das wir in Dörfern der Region schon lange beobachten. Durch Erbteilung wurde Eigentum in der Vergangenheit meist gerecht aufgeteilt. Dadurch sind oftmals Parzellen entstanden, die nicht mehr fassten als kleine, schmale Häuser mit nur drei oder vier Zimmern. Sie sind heutzutage einfach nicht mehr gut nutzbar. Das ist auch der Grund, weshalb wir dem Seminar den Namen „zu klein“ gegeben haben. Auf dem Grundstück, das wir ausgesucht haben, befindet sich heute eine Garage, an deren Stelle bis vor fünf Jahren solch ein kleines Haus gestanden hat. Da es die Besitzer*innen nicht mehr zum Wohnen nutzen wollten, haben sie es abgerissen und ersetzt. Das ist einerseits nachvollziehbar, kann aber durch den rasanten Rückbau solcher Strukturen dazu führen, dass das Dorf seine Identität verliert.
Prof. Martin Baur: Zu Anfang haben wir nicht konkret daran gedacht, im Seminar Modelle bauen zu lassen. Unser Ausgangspunkt war viel eher diese kleinteilige Struktur des Ortes, die in den letzten Jahrzenten immer mehr zu verschwinden scheint. Um diesen Bestand überhaupt erstmal bewerten zu können, fanden wir, dass eine besonders detaillierte Analyse nötig ist. Uns war aber wichtig, dass diese Analyse nicht nur dokumentieren sollte, wo beispielsweise die Bushaltestelle steht oder wie breit Gehwege sind, sondern, dass die strukturelle und architektonische Qualität erfasst wird. Wir wollten keine Häuser rekonstruieren und auch keine Denkmäler generieren, sondern herausfinden, welches Potenzial für eine Weiterentwicklung gegeben ist. Über das Material und die vorhandenen Elemente wollten wir in Erfahrung bringen, welche Wesensmerkmale die Architektur hat. Also schien es uns am besten, sie genau anzusehen, anzufassen und nachbauen zu lassen, weil man dadurch Dinge entdeckt, die man sonst möglicherweise nie erkennen würde. Wir haben auf einer Exkursion zwei Häuser analysiert, bei denen der marode Zustand schnell feststellen ließ, was sich alles unter dem Putz befindet. Von dieser Wahrnehmung ist viel in die Modellarbeit eingeflossen. Wenn die Studierenden ihre Modelle vor sich haben, können sie leichter bewerten, welche Elemente abstrahiert, entfernt oder detailliert werden müssen.
Prof. Florian Latsch: Es kommt hinzu, dass wir diese Thematik in einem Hochbau-Seminar und nicht im theoretisch-städtebaulichen Kontext bearbeitet haben. Daher brauchten wir eine Methode, die konkrete Strukturen schnell und kompakt abbildet. Dabei ging es uns nicht um ein detailliertes Nachbauen, sondern vielmehr darum, das sichtbar zu machen, was dem Wesen des Ortes entspricht. Wir haben den Studierenden auch keine Vorgaben gemacht, in welchem Maßstab die Modelle sein sollten. Es war im Nachhinein besonders interessant, dass einige der Arbeiten ganz klein und andere zum Teil sehr groß waren. Wir haben die Modelle nämlich mit voller Absicht während des Prozesses nicht zu Gesicht bekommen. Bei den Besprechungen und ersten Abgaben kamen nur die entstandenen Modellfotografien zum Einsatz. Erst zum Schluss brachten dann alle ihre Modelle mit – da gab es ziemlich große Überraschungseffekte.
Die Modellfotografie spielte eine große Rolle im Prozess. Was bildete hier den Ansatz?
Prof. Martin Baur: Die Idee war, das Grundstück immer aus der gleichen Perspektive zu sehen. Wir wollten nicht Gefahr laufen, dass die Studierenden sich zu lang damit beschäftigen müssen, einen speziellen Blickwinkel zu finden. Alle sollten vom selben Startpunkt loslegen, damit sich die Ergebnisse am Ende auch besser vergleichen lassen.
Prof. Florian Latsch: Wir reden in Entwürfen ja immer über Dinge, die es nicht gibt. Teil der Übung war es daher auch, durch diese Methode zu trainieren, wie einem Gegenüber Konzepte präsentiert und vermittelt werden können. Dabei stellt sich ständig die Frage: „Was brauche ich dafür genau in diesem Bild?“. Wie sich das Ganze normalerweise im Grundriss oder Schnitt verhalten würde, ist in diesem Moment irrelevant.
In der zweiten und dritten Übung sollte ein Zukunftsszenario für das Grundstück gestaltet werden. Wie konnte das insbesondere über die dreidimensionale Entwurfsmethode gelöst werden?
Prof. Martin Baur: Die Studierenden haben nicht im Grundriss entworfen, sondern ausschließlich über das Modell. In der zweiten Übung sollten sie einen Baukörper entwickeln, in der dritten Aufgabe ein Innenraumszenario. Durch die Herangehensweise über die Modellfotografie entstanden eher Entwurfsfragmente als komplette Gebäude. Wir haben von vornherein kommuniziert, dass in den Bildern Ideen vermittelt werden sollen, diese aber nicht zwangsläufig logisch sein müssen. Teilweise wurden im Modell Silhouetten dargestellt, die auf dem Grundstück gar nicht hätten stehen können. Aber das war o.k., denn es ging ja darum, Optionen auszuloten und Grenzen zu erkennen. Im klassischen Entwurf schließt man durch den eingeschlagenen Weg oft Möglichkeiten aus und ist gezwungen, einmal getroffene Entscheidungen „auszubaden“. Wir wollten den Studierenden durch unser Vorgehen mehr Spielraum geben. Sie sollten schnell Ideen entwickeln, ohne sie gleich bis ins letzte Detail zu überprüfen.
Welche Vorteile und Besonderheiten sehen Sie in der Arbeit am physischen Modell in Hinblick auf das Seminar und die allgemeine Lehre?
Prof. Florian Latsch: Am faszinierendsten fand ich, die Analyse des Bestands mit dieser Methode durchzuführen. Wir und die Studierenden konnten tief in die vorhandenen Strukturen eintauchen. Ich glaube, durch die intensive Auseinandersetzung mit Materialbeschaffenheit, Oberflächen, Haptik, Farbe und Wirkung der zu bauenden und fotografierenden Elemente ist eine einzigartige Aufnahme der Architektur und ihrer Atmosphäre möglich.
Prof. Martin Baur: In meinen Augen ist der Modellbau ein extrem wirkungsvolles Kommunikationsmittel. Wir haben bei unserer Recherche entdeckt, dass es bereits in den 1990ern eine Analyse zu diesem Dorf gegeben hatte. Darin waren über ganz klassische Planzeichnungen für Verkehr, Straßenbeleuchtung und Begrünung Anweisungen enthalten, wie sich das Dorf entwickeln könnte. Es scheint so, als hätte diese Untersuchung kaum Beachtung durch die Politik und andere Beteiligte gefunden. Sie ist in irgendeiner Schublade verschwunden. Zwar haben wir unsere Modellfotografien nicht öffentlich ausgestellt, aber allein dadurch, dass die Bilder online zu sehen sind, konnten wir einige Leute auf das Projekt aufmerksam machen. Ich hatte das Gefühl, dass sich unter anderem auch Bewohner*innen des Dorfes davon stark angesprochen fühlten und wir den Wert der Arbeiten schneller vermitteln konnten. Durch die physische, nahbare Atmosphäre von Modellen und Fotografie kann ein Zugang geschaffen werden, der über Computergrafiken oft nicht gelingt. Ich denke, diese Methode ist wirklich ein gutes Instrument, um mit der Politik oder Bürger*innen in Dialog zu treten.