Focus

Bauaufnahme heute

Architektur dokumentieren, analysieren, interpretieren

Editorial

Architektur dokumentieren, analysieren, interpretieren

von Natalie Pawlik

Dem sensiblen Umgang mit historischer Bausubstanz kommt ein immer größerer Stellenwert zu. Der wichtigen Aufgabe, den Bestand systematisch zu erfassen, zu dokumentieren und zu analysieren nehmen sich verschiedene Disziplinen an: Die Bauaufnahme ist an der Schnittstelle zwischen Architektur- und Kunstgeschichte, Bauforschung, Denkmalpflege und Archäologie angesiedelt. Dabei werden Befunduntersuchungen der Forschenden nicht selten zur Detektivarbeit – vor allem, wenn die Quellenlage rar ist. Wie hat das Bauwerk in seiner Entstehungszeit ausgesehen? Welche Bauphasen hat es gegeben? Wie hat es sich im Lauf der Zeit baulich verändert? Welche sozialen, politischen, ökonomischen, ökologischen oder rechtlichen Aspekte bildeten den Kontext für die Entstehung des Entwurfs und die Errichtung des Bauwerks?

Ob mit der Kamera, mit Stift und Papier oder mit digitalen Werkzeugen – Antworten auf diese Fragen können auf unterschiedlichen Wegen gefunden werden. In dieser Ausgabe stellen wir euch drei Ansätze vor, wie heute Bauaufnahme betrieben werden kann. Unser erster Beitrag führt uns zu mittelalterlichen Bauwerken in Berlin und Umgebung. Im Rahmen einer praxisorientierten Lehrveranstaltung haben sich Studierende der Kunst- und Bildgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin in befundorientierter Baudokumentation mittels Architekturfotografie geübt. Das Projekt „Sticks and Stones“ beschäftigt sich mit Konstruktionstechniken, die auf Material-Heterogenität basieren. Im Rahmen des Projekts, das an der Harvard GSD und Rhode Island School of Design durchgeführt wird, sind ein fotografischer Atlas, analytische Zeichnungen und dreidimensionale Prototypen entstanden, die den untersuchten Bestand abbilden und interpretieren. Im dritten Artikel geht es um das Jahrgangsprojekt des Studienganges Historische Bauforschung und Denkmalpflege an der TU Berlin. Erstmals in der Geschichte des Studienganges beschäftigen sich die Studierenden mit einem Bauwerk, das nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet wurde. 

Das Bauwerk als Quelle

Architekturfotografie als Mittel der Befunddokumentation

Text von Natalie Pawlik

Wenn der Umfang an aussagekräftigen Schriftquellen rar ist, bedarf es einer genauen Baubeobachtung und der sorgfältigen Analyse der stilistischen Merkmale, um zumindest eine relative Chronologie zu erarbeiten. Insbesondere bei mittelalterlichen Bauwerken ist häufig eine befundorientierte Baudokumentation und -interpretation gefragt, da die Quellenlage zur Entstehungsgeschichte dieser Bauten häufig sehr begrenzt ist. Im Sommersemester 2022 übten sich Studierende der Kunst- und Bildgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin in dieser Methodik. Unter der Leitung von Prof. Dr. Kai Kappel untersuchten die Studierenden in drei Ortsterminen ausgewählte mittelalterliche Bauwerke in Berlin und Umgebung. An gebauten Beispielen in Berlin, Chorin und Hamersleben schulten die Seminarteilnehmenden ihren Blick, lernten das Gesehene zu versprachlichen und schließlich zu verschriftlichen. Ein besonderes Augenmerk lag auf der fotografischen Dokumentation der Bauwerke, die praktisch angewendet wurde.


Dem Mittelalter auf der Spur

Welche Bauphasen hat es gegeben? Was verraten stilistische Merkmale und Bauzier über die Entstehungszeit eines Bauwerks? Mit diesen und anderen Fragen beschäftigten sich die Studierenden im Rahmen der praxisnahen Lehrveranstaltung. In den Blick genommen wurden dabei vornehmlich mittelalterliche Sakralbauten aus Mauerwerk. In Berlin untersuchten sie unter anderem den Westbau und den spätmittelalterlichen Chorumgang der Nikolaikirche, Reste der mittelalterlichen Stadtmauer und die ehemalige Franziskaner-Klosterkirche, die als Ruine erhalten ist. An Ruinen lassen sich besonders gut die Beschaffenheit des Mauerwerks und die statische Konstruktion des Bauwerks studieren, da diese durch fehlende Bauteile sichtbarer und zugänglicher sind.  In der Berliner Heilig-Geist-Kapelle standen Fenstergliederung, Maßwerke und Giebel im Fokus ihrer Befunddokumentation. Im Choriner Kloster analysierte die Gruppe die Bauphasen der Klosterkirche und die mutmaßliche Herrschaftsempore der Markgrafen von Brandenburg im Westen des Sakralbaus. Des Weiteren begab sie sich auf Spurensuche zu den Lebensbereichen der Chormönche und Konversen. Im ehemaligen Augustiner-Chorherrenstift Hamersleben beschäftigten sie sich mit der Bauanalyse von Teilen der dortigen Stiftskirche, deren Genese sie anhand der Baunähte nachvollzogen. Anschließend untersuchten sie den Chorbau im 20 Kilometer entfernten Kloster Huysburg.


Baubeobachtung und -dokumentation als Teil befundorientierter Bauuntersuchungen

Die teils steinsichtig freigelegten Mauern dienten den Studierenden als Quelle. Dabei beschäftigten sie sich meist punktuell mit einzelnen Bauabschnitten. Dieser Umgang mit der historischen Bausubstanz gründet zum einen darin, dass es sich bei mittelalterlichen Bauwerken oft um einen Flickenteppich verschiedener Bauphasen handelt. Hinzu kommen die Spuren jüngerer Restaurierungen – etwa maschinell bearbeitete Steine, die nicht immer eindeutig vom historischen Bestand zu unterscheiden sind. Mittelalterliche Kirchen wurden üblicherweise mit dem Chor begonnen, um auf diese Weise möglichst bald den Altarbereich mit den Zelebrierenden unter Dach bringen zu können. Eingewölbte Bauabschnitte verbesserten die Feuerfestigkeit und die raumakustischen Bedingungen. Je nach Bauaufgabe wurde in anderen Formen und Techniken gebaut, teils wurden andere Werkstoffe verwendet. Beispielsweise sind an der Westfassade und im Innern der Berliner Nikolaikirche die einzelnen Bauphasen besonders deutlich ablesbar. Grundlagen der Untersuchung einzelner Partien des Mauerwerks sind die sorgfältige Beobachtung und Dokumentation. Die Vermessung, Versprachlichung, Verschriftlichung und fotografische Dokumentation der Baubefunde greifen dabei ineinander und ergänzen sich. Diese Maßnahmen sind für die Denkmalpflege und beim Bauen im Bestand wichtig. Außerdem haben sie auch dokumentarischen Charakter, beispielsweise im Fall von späteren Veränderungen der Bauwerke durch Einstürze, Umbauten, Restaurierungen oder gar kriegerische Handlungen.


Kleine Einführung in wissenschaftliche Architekturfotografie

Ein Großteil der kunst- und architekturhistorischen Arbeit findet auf schriftlichem Wege statt. Ein Kunstwerk oder ein Gebäude mit Worten zu beschreiben, die einzelnen Bauelemente korrekt zu benennen und anschließend vor dem Hintergrund der Quellenlage und der Literatur zu analysieren und zu interpretieren bilden das Handwerkszeug von Kunst- und Architekturhistoriker*innen. Die fotografische Annäherung spielt in der Regel eine eher sekundäre Rolle. In dem Seminar sollten die Studierenden sich deshalb explizit mit den Möglichkeiten der fotografischen Dokumentation auseinandersetzen. Sie waren angehalten, zu den Exkursionen eine Fotokamera oder ein Smartphone mitzubringen und vor Ort fotografisch tätig zu werden.

Bei wissenschaftlicher Architekturfotografie kommt es auf eine möglichst orthogonale Darstellung des Bauwerks (also analog zu den gezeichneten Aufrissen ohne „stürzende Linien“) sowie auf Abbildungspräzision und Schärfentiefe an. Letztere bedeutet, dass ein möglichst großer Bereich in der späteren Abbildung scharf erscheinen soll. Bei Porträts etwa ist oftmals ein gegenteiliger Effekt gewünscht: Die porträtierte Person soll scharf, der Hintergrund hingegen unscharf sein. Zu erreichen ist eine hohe Schärfentiefe über die Wahl einer möglichst großen Blendenzahl. Je größer die Blendenzahl der Kamera eingestellt wird, desto kleiner ist die Blendenöffnung – also die Öffnung durch die das Licht in die Kamera dringt. Je kleiner die Blendenöffnung ist, desto länger muss die Belichtungszeit eingestellt werden. Fotografiert man beispielsweise im Innenraum mit Blende 16, kann dies Belichtungszeiten von bis zu 30 Sekunden bedeuten. Um nicht zu verwackeln ist es daher ratsam, solche Aufnahmen mit Stativ und Selbstauslöser zu fotografieren. Derartige Langzeitbelichtungen kosten Batteriekapazität, weshalb die Mitnahme eines zweiten Akkus oder einer Powerbank unbedingt empfehlenswert ist.

Von der Verwendung eines Blitzes bei Gesamtaufnahmen ist abzuraten, da dadurch immer nur ein Teil des Bauwerks hervorgehoben wird. Bei der Aufnahme von Innenräumen sollte vorab die ISO-Zahl auf 200 oder 400 begrenzt werden, da viele Digitalkameras in halbdunklen Räumen den ISO-Wert extrem hochsetzen, was zu störendem Bildrauschen führen kann. Es ist empfehlenswert, das Innere von Längsbauten von außerhalb der Mittelachse aufzunehmen, da auf diese Weise wenigstens eine der Hochwände gut ablesbar ist. Außenaufnahmen gelingen am besten an einem hellen aber wolkenbedeckten Tag, da die Bauwerke gleichmäßig ohne störende Schatten ausgeleuchtet werden. Neben orthogonalen Aufnahmen sind auch solche übereck sehr gebräuchlich, da diese den Blick auf zwei Seiten eines Bauwerks ermöglichen. Bei Detailaufnahmen von Baubefunden kann es hilfreich sein, einen Zollstock oder eine Messlatte neben das Baudetail zu legen, um später einen Referenzrahmen für den Maßstab zu haben. Außerdem empfiehlt es sich ein Logbuch zu führen, um die wichtigsten Eckdaten zur jeweiligen Aufnahme zu notieren.

Von der analogen Kamera mit Tilt/Shift-Objektiv bis zum Smartphone ­– das Equipment, mit dem die Studierenden ausgestattet waren, war sehr unterschiedlich. Die Ergebnisse zeigen jedoch, dass sich auch mit einer Smartphonekamera aussagekräftige, dokumentarische Fotos realisieren lassen. Diese können dann bei Referaten im Seminar den Bestand von Bilddatenbanken wie Prometheus sinnvoll ergänzen. Zudem können die Fotografien die Grundlage eines eigenen Bildarchivs bilden und somit ein hilfreiches Werkzeug im Entwurfsprozess darstellen.

„Sticks and Stones“

Das Potential der heterogenen Konstruktionen

Text von Johannes Medebach

Nahezu jedes Gebäude besteht aus unterschiedlichen Materialien. Im Bauwesen hat sich mit dem Aufkommen der Moderne eine Beton-Stahl-Monokultur etabliert, wohingegen uns doch viele weitere Baustoffe mit unterschiedlichsten Eigenschaften zur Verfügung stehen. Dabei gibt es weltweit eine reiche Tradition an Konstruktionstechniken, die auf Material-Heterogenität basieren. Auf welche Art und Weise Materialien zusammenwirken können und was Heterogenität im Konstruieren bedeutet, haben die Architekt*innen Aaron Forrest, Yasmin Vobis und Bauingenieur Brett Schneider von der Harvard Graduate School of Design und der Rhode Island School of Design im Projekt „Sticks and Stones and: An Atlas of Heterogenous Constructions“ untersucht.

Drei Standbeine 

Das Projekt besteht aus drei Komponenten: einem fotografischen Atlas, analytischen Zeichnungen und weiterinterpretierten Prototypen. Der Atlas sammelt Beispiele heterogener Konstruktionen aus allen Epochen und unterschiedlichsten Kulturen. Der Schwerpunkt liegt auf antiken, vernakulären und frühindustriellen Objekten. Die im Atlas fotografisch dokumentierten Fallstudien werden in eine Reihe von präzisen analytischen Zeichnungen aufgeschlüsselt. Im dritten Schritt haben die Forschenden die gesammelten Erkenntnisse in prototypische Konstruktionen mit kontemporären handelsüblichen Materialien übertragen. Viele dieser Bautechniken liefen bisher unter dem Radar und fanden nur wenig Beachtung in der Fachwelt. Diese besondere Form der Bauforschung versucht, dieses Wissen wieder aufzugreifen und eine Brücke in die Gegenwart zu schlagen. 

Einzelspieler versus Zusammenspiel

Zeitgenössische Bauten sind meistens aus Schichten von verschiedenen Materialien, die einzelne Funktionen erfüllen, aufgebaut – obwohl sich aus ihrer Gesamtheit am Ende das Gebäude konstituiert. Im Verständnis handelt es sich hierbei eher um eine Materialsammlung, bei der jeder Werkstoff für sich selbst steht. Wie man ein kollektives Zusammenwirken der einzelnen Baustoffe und Elemente als Ganzes denken kann, und was aus den Fallstudien zu lernen ist, beschäftigt die Macher*innen von „Sticks and Stones“. Durchmischung statt Sortenreinheit – das bringt ein neues Level der Komplexität ins Spiel, die wiederum neue Chancen öffnet. Materialien gewinnen an Ambiguität und nehmen statt einer gleich mehrere Rollen im Gesamtgefüge ein. So können in einer heterogenen Konstruktion die eingesetzten Werkstoffe zeitgleich als Strukturelement, Hülle und Dekoration fungieren. Ein Verständnis, das mit dem Ordnungswahn der Moderne verschüttging.


Zwei Case Studies

Konkrete Beispiele, die diese Prinzipien im Forschungsprojekt illustrieren, sind traditionelle Kath-khuni-Konstruktionen aus dem Himalaya in Nordindien oder die „Menier“-Schokoladenfabrik in Noisel-sur-Marne bei Paris aus dem Jahre 1872. Beim Ersteren sind lokal vorhandenes Gestein und Hölzer abwechselnd horizontal geschichtet – ähnlich einem herkömmlichen Mauerwerk. Dabei erleichtert der Holzanteil nicht nur das Gesamtgewicht der Wände, sondern trägt zusätzlich noch zur Stabilisierung und Erdbebenresistenz bei. Darüber hinaus bildet sich durch die Kombination beider Materialien auf beiden Seiten der Wände aus der Konstruktionstechnik heraus eine ornamentale Oberfläche. Die französische Schokoladenfabrik galt lange Zeit als eines der frühesten Beispiele eines reinen Stahlrahmen-Baus. Doch der Stahlrahmen ist mit buntem Mauerwerk ausgefacht, das nicht nur optisch wirkt, sondern auch das statische Verhalten des gesamten Gebäudes beeinflusst. Laut den Forschenden steht dieses Bauwerk, entstanden in der beginnenden Moderne in Europa, emblematisch für den „path not taken“ eben jener kulturgeschichtlichen Entwicklung. 

Vielsprechende Synergien

Der nachhaltige Anspruch des „Sticks and Stones“-Projekts liegt darin, dass sich lokale oder wiederverwendete Baumaterialien leichter in die heterogenen Konstruktionen integrieren lassen als in die auf Perfektion und Standardisierung getrimmten Beton- und Stahlbauweisen. Wobei auch diese beiden Materialien veranschaulichen können, welche Kraft einer echten Verzahnung zweier Materialien innewohnt: Man denke an den Siegeszug des Stahlbetons. Eine Schwierigkeit des Projektes stellt die Translation vieler untersuchter Techniken in die Gegenwart statt, sind doch viele unter ganz spezifischen Arbeitsbedingungen und materiellen Verfügbarkeiten entstanden, die teilweise so nicht mehr existent sind. Die Neuinterpretation muss sich also an heutigen Konstruktionsstandards, Arbeitsverhältnissen und vorhandenen Materialien orientieren. Vielversprechend hierfür sind die Kollaborationen zwischen Architekt*innen und Ingenieur*innen wie etwa den Japanern Jun Sato und Junya Ishigami oder Personen, die sich als Architekt-Ingenieur-Baumeister*innen - wie der Schweizer Roger Boltshauser -verstehen.



Schärfung des analytischen Blicks

Masterstudiengang Historische Bauforschung und Denkmalpflege an der TU Berlin

Text von Stephan Redeker

Neben dem schnellen und präzisen zeichnerischen Umsetzen räumlicher Situationen ist die Arbeit mit baulichen Strukturen als Primärquelle Kernkompetenz der historischen Bauforschung. Das verortet die traditionsreiche Disziplin zwischen der Kunstgeschichte, der Archäologie, der Architektur beziehungsweise dem Ingenieurswesen und natürlich der Denkmalpflege. Die Technische Universität Berlin bietet den Masterstudiengang Historische Bauforschung und Denkmalpflege (HBD) an, in dessen Zentrum das sogenannte Jahrgangsprojekt steht. Dabei können Studierende die wesentlichen theoretischen und praktischen Arbeitsmethoden beider Fächer an einem echten Bauwerk durchexerzieren, präsentieren und publizieren. Sie sollen so optimal auf Forschung und Beruf vorbereitet werden. Erstmals handelt es sich beim aktuellen Untersuchungsobjekt um ein vergleichsweise junges Denkmal.


Dem Bauwerk sein innerstes Rätsel entlocken

Das Aufgabenfeld der Bauforschung ist vielfältig. Immer dann, wenn ein städtebaulicher Zusammenhang, ein historisches Bauwerk oder -teil erforscht werden soll, ohne dieses materialinvasiv zu beeinträchtigen, ist die Arbeit von Bauforschenden gefragt. Diese sind darum sowohl auf archäologischen Grabungsstätten präsent, als auch im Bereich der Denkmalpflege – und das immer ganz am Anfang eines Forschungsvorhabens. Um etwa eine bauliche Anlage unter Denkmalschutz stellen oder um Arbeiten an einem Denkmal vornehmen zu können, sind vorbereitende Untersuchungen oft unerlässlich: Das ist für gewöhnlich der Moment, in dem der Denkmalpfleger die Bauforscherin anruft.

Grundlage jeder bauforscherischen Tätigkeit ist die verformungsgerechte Bauaufnahme. Dabei wird der Bestand mithilfe verschiedener manueller oder digitaler Methoden erfasst, um exakte Grundrisse, Schnitte und Ansichten zu erstellen. Die Archivforschung komplettiert die Datenerfassung, auf deren Grundlage das Betrachtungsobjekt analysiert wird: Wie hat das Bauwerk in seiner Entstehungszeit ausgesehen? Wie hat es sich über den Lauf der Geschichte baulich verändert? Was war die Intention des oder der Entwerfenden? Welche sozialen, politischen, ökonomischen, ökologischen oder rechtlichen Aspekte bildeten den Kontext für die Entstehung des Entwurfs und die Errichtung des Bauwerks? Die erlangten Erkenntnisse fließen in die Forschung ein oder dienen als Grundlage für die Erstellung von Gutachten, Denkmalstrategien oder Konservierungs- und Nutzungskonzepten.


Zielgerichtet in den konservatorischen Beruf

Der Studiengang an der TU-Berlin ist sowohl forschungs- als auch praxisorientiert ausgerichtet. In vier Semestern werden Grundbegriffe der Architektur- und Kunstgeschichte vermittelt, Geschichte und Methodik der Bauforschung gelehrt und aktuelle Diskussionen der denkmalpflegerischen Forschung thematisiert. Daneben soll die archäologische Bauforschung gestärkt werden. So ist etwa die Bauteilaufnahme antiker Originale aus den Depots der Berliner Museen ein Alleinstellungsmerkmal des Studiengangs. Die Dozierenden kommen sowohl aus der Forschung als auch aus planerischen Berufen des Bausektors.

Mit dieser Ausbildung auf breitem Fundament sollen Studierende adäquat auf die Zeit nach dem Abschluss vorbereitet werden. Es winken diverse Jobs, etwa an kunsthistorischen oder archäologischen Institutionen, an Denkmalämtern oder in Architekturbüros mit denkmalpflegerischer Ausrichtung. Daneben haben Studierende mit entsprechenden Ambitionen schon während des Studiums Gelegenheit dazu, an Grabungskampagnen teilzunehmen. Das Institut unterhält internationale Forschungsprojekte etwa in Griechenland, in der Türkei, in Jordanien und in Nepal. Die Studierenden des Jahrgangs HBD 2022/23 bilden diese Vielfalt ab. Sie haben Bachelor- und Masterabschlüsse der unterschiedlichsten Fachgebiete in der Tasche, die jedoch stets einen Bezug zur Bauforschung oder zur Denkmalpflege erkennen lassen: Zu klassischen Fächern, wie Architektur, Kunstgeschichte und Archäologie gesellen sich Absolvierende in den Bereichen Restaurierungswesen, Kulturwissenschaften, Museumskunde, Holzwirtschaft oder Stadt- und Regionalplanung.


Testlauf für Abschlussarbeit und Beruf

Das breite Spektrum an Knowhow schafft die richtigen Voraussetzungen für das Jahrgangsprojekt. Im dritten und vierten Semester untersuchen und analysieren die Studierenden ein historisches Bauwerk im Raum Berlin-Brandenburg nach allen Regeln der klassischen Bauforschung. Dabei werden sie von Dozierenden und Spezialist*innen aus den Bereichen Bauforschung, praktische Denkmalpflege, Geodäsie, Archivforschung und Site Management eng betreut. Nicht nur die Grundlage für eine spätere berufliche Tätigkeit in dem Feld soll das Jahrgangsprojekt schaffen. Auch werden die Studierenden so auf die Anfertigung der eigenen Masterarbeit im vierten Semester vorbereitet.

Das Besondere dabei: Das Jahrgangsprojekt dient nicht der reinen Lehre oder wird gar für die Schublade produziert. So wurden die Forschungsarbeiten vergangener Jahre bereits von Denkmalbehörden oder Stiftungen angekauft oder publiziert. Einen großen Nutzen davon haben überdies Personen oder Institutionen, die ihre historischen Bauwerke als Untersuchungsobjekt zur Verfügung stellen. Günstiger werden sie an eine ähnlich aufwendige Baudokumentation wohl nicht kommen. Außerdem können sie auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse zukünftige Maßnahmen am Objekt denkmalgerecht planen.


Der Sprung in die Moderne

Eignerin des untersuchten Bauwerks ist die katholische Kirche. Die Kirche St. Aloysius in Berlin-Wedding stellt in der Reihe der mittlerweile 24 Jahrgangsprojekte eine Besonderheit dar: Es ist das erste Bauwerk, das nach dem Zweiten Weltkrieg erbaut wurde. Bauten, die von früheren Jahrgängen untersucht wurden, datieren in das 18., 19. und frühe 20. Jahrhundert. Darunter fallen unter anderem ein Erweiterungsbau des Tieranatomischen Theaters der Charité, eine Kirche und ein Pfarrhaus in Heinersdorf, das Mausoleum im Schlossgarten Charlottenburg sowie eines der pittoresken Holzhäuser der Siedlung Alexandrowka in Potsdam.

In diesem Jahr wagte man endlich den Sprung in die Moderne: 1956 nach Plänen des Architekten Felix Hinssen errichtet, stellt die Saalkirche St. Aloysius in der Schwyzer Straße eine der besterhaltenen Kirchen dieser Zeit in Berlin dar. Sie ist in direkter Nachbarschaft zu einem UNESCO-Welterbe gelegen. Ab 1924 wurde in unmittelbarer Nachbarschaft die Schillerpark-Siedlung nach Plänen von Bruno Taut errichtet. Die Bedeutung der Kirche St. Aloysius ist jedoch nicht ausreichend bekannt, weshalb sie Gegenstand aktueller Forschung ist. Das Jahrgangsprojekt kann dazu einen Beitrag leisten. Für die TU Berlin ist es wichtig, die Aufmerksamkeit der Studierenden auf Bauwerke der Nachkriegszeit zu lenken. Längst sind diese in den Fokus der Denkmalpflege gerückt. Hatte die historische Bauforschung bis vor wenigen Jahren noch vorwiegend vormoderne Bauwerke zum Gegenstand, so weitet sich nun das Feld auf jüngere Bauten aus. Das muss sich auch in der Lehre widerspiegeln.


Halbzeit zwischen digitaler Bauaufnahme, Archivrecherche und Bauanalyse

Beim Jahrgangsprojekt 2022/23 hat mit Beginn des dritten Semesters die „zweite Halbzeit“ begonnen. Die digitale Bauaufnahme und die Archivrecherche haben die Studierenden abgeschlossen. Konkret bedeutet dies, dass sie zunächst ein unabhängiges System zur Architekturvermessung um Langhaus, Turm und Pfarrsäle der Weddinger Kirche gelegt haben. Mit dem Tachymeter konnten so vor Ort einzelne Punkte ausgemessen und in einem dreidimensionalen Gebäudemodell festgehalten werden. Auch eine Drohne kam zum Einsatz, um schwer zugängliche Bereiche, wie das Dach oder den Turm im Structure-from-Motion-Verfahren (SfM) zu erfassen. Am Rechner wurden die Punkte im CAD-Programm als Vektordaten weiterverarbeitet und für Plots und 2D-Photogrammetrien vorbereitet. Diese dienten als Vorlage für die händische Nachverdichtung: Die Zeichnungen fertigten die Studierenden mit Stativ, verzugsfreier Folie und Bleistift direkt vor dem jeweiligen Bauteil an.

Mit den entstandenen Plänen und vielen weiteren in Raum- und Fassadenbüchern festgehaltenen Beobachtungen wurden die verschiedenen am Bau erkannten Bauphasen in eine relative Chronologie gebracht. Erst im nächsten Schritt wurden einige der Beobachtungen durch die Archivforschung verifiziert oder widerlegt. Das Einhalten dieser Reihenfolge ist wichtig, um nicht den analytischen Blick auf die Primärquelle zu vernebeln: So sind etwa Entwurfs- und Baupläne keine verlässliche Quelle dafür, wie das Bauwerk später tatsächlich umgesetzt wurde.

Im Verlauf des Wintersemesters 2022/23 wird die Bauanalyse unter anderem mit der Einordnung des Bauwerks in den historischen und kulturellen Kontext abgeschlossen. Es wird eine Schadenskartierung vorgenommen, und ein denkmalpflegerischer Bindungsplan erstellt. Abschließend soll der Entwurf eines vollständigen Denkmalkonzepts erfolgen. Was das für die Forschung und die Zukunft des Bauwerks bedeutet, wird sich im Februar 2023 zeigen. Dann wird der Jahrgang HBD 2022/23 die Ergebnisse seines Jahrgangsprojekts präsentieren.