Aufgaben im Bestand: Ein paar Fragen an Marc Günnewig
Marc Günnewig hat derzeit die Vertretungsprofessur an der Bergischen Universität Wuppertal mit dem Titel „Formale Strategien der Nachhaltigkeit im architektonischen Entwurf“ inne. Wir sprachen mit ihm über seine Lehre, seine Forschung und unsere kommende Sommerschule „Wert der Dinge“, die wir gemeinsam in Wuppertal ausrichten.
Du lehrst in deiner Vertretungsprofessur unter dem Titel „Formale Strategien der Nachhaltigkeit im architektonischen Entwurf“. Was können wir uns darunter vorstellen?
Marc Günnewig: Die Umwelt- und Klimakrise verändert tiefgreifend die Beziehungen zwischen allen Akteur*innen im Bauwesen und darüber hinaus. Ich bin überzeugt, dass dies auch die Architekturpraxis vor eine bedeutende Veränderung stellt, die einen grundlegenden Perspektivwechsel erfordert.
Angesichts der großen Zukunftsaufgaben, die wir zu bewältigen haben, stelle ich mir die Frage wie eine Neujustierung von gelernten und einstudierten Mustern innerhalb der Architekturproduktion aussehen könnte: Müssen wir die „klassischen“, trainierten und vermeintlich etablierten Wege verlassen, ohne genau zu wissen, wo die neuen verlaufen und wohin sie führen? Welche Fähigkeiten sollten wir als Architekt*innen haben, um Ungewissheiten auszuhalten und Ambiguität zu gestalten? Müssen wir unser Selbstverständnis hinterfragen und unsere Disziplin neu erfinden? Woran können, wollen oder sollen wir uns noch orientieren? Welche Helden lassen wir fallen, und was wären dann unsere neuen Vorbilder? Und schließlich: Darf eine Suche nach neuen Mitteln und Wegen trotz der düsteren Aussichten sogar Spaß machen? Am Lehrstuhl Formale Strategien der Nachhaltigkeit im architektonischen Entwurf arbeiten wir mit den Studierenden an Themen, die uns genau mit diesen Fragen konfrontieren – Wir wollen vermeintlich gesicherte Erkenntnisse infrage stellen und alternative Zugänge erforschen.
Den Titel des Lehrstuhls habe ich mir im Übrigen nicht selbst ausgedacht – er stammt aus den Reihen meiner Kolleg*innen an der BUW. Auch wenn für mich im ersten Moment der Titel etwas sperrig klang, finde ich diesen inzwischen passend: Für mich schwingt da eine gewisse Zerrissenheit, beziehungsweise ein unterschwelliger Widerspruch mit, der herausfordernd ist.
Mit dem Begriff des Formalen tut sich nach meinem Empfinden eine Fraktion unserer Berufsgruppe etwas schwer. Ebenso scheint eine andere Gruppe etwas genervt von der Dauerpräsenz des Nachhaltigkeitsdiskurses. Diese Auseinandersetzung reizt mich. Ich verwende in letzter Zeit sogar wieder gelegentlich die bereits aussortierten Begriffe „Schön“ und „Hässlich“, da ich das Gefühl habe, dass wir Architekt*innen uns gerne hinter weniger zugänglichen Begriffen wie „Ästhetik“ verstecken und damit einer wichtigen Auseinandersetzung ausweichen: Sind wir uns als Disziplin überhaupt einig was schön oder hässlich für uns bedeutet? Können wir Wahrnehmungen und Deutungen nicht auch selbst gestalten, formen, umprogrammieren? Wie kommen ästhetische Urteile zustande? Müssen wir etwas Hässliches entfernen, um aufwendig etwas Schöneres zu schaffen? Wie viel Hässlichkeit müssen wir vielleicht auch einfach ertragen, um die Schönheit dieser Welt für nachfolgende Generationen zu sichern?
Für die Lehre kooperiert du mit Prof. Jan Kampshoff der TU Berlin als gemeinsame Büropartner von modulorbeat. Weshalb die gemeinsame Lehre und wie würdest du diese beschreiben?
Marc Günnewig: Jan und ich haben uns im Studium an der Münster School of Architecture (MSA) kennengelernt und vor ziemlich genau 25 Jahren gemeinsam mit einigen Kommiliton*innen die ersten Veranstaltungen an der Fakultät organisiert. Durch unser Engagement an der Hochschule baute sich ein Netzwerk auf, über das wir erste Anfragen für kleinere temporäre Installationen bekamen. Über die Zeit entwickelte sich ein lebendiges Wechselspiel aus Lehrtätigkeit an verschiedenen Hochschulen – mal gemeinsam, mal jeder für sich – und der praktischen Arbeit in unserem Büro. Insofern ist unsere gemeinsame Arbeit seit jeher durch die Verbindung von Lehre und Praxis geprägt.
Die Aufgaben, Schwerpunkte und Themen, die uns beschäftigen, haben sich über diesen langen Zeitraum selbstverständlich entwickelt und verändert. Als Konstante verbindet uns aber die gemeinsame Lust, sich mit methodischen Fragestellungen auseinanderzusetzen und gleichzeitig unser eigenes Handeln zu hinterfragen.
In unserer praktischen Arbeit beschäftigen wir uns inzwischen fast nur noch mit Aufgaben im Bestand. Das sind manchmal konkrete bauliche Umsetzungen wie bei dem Projekt „Blaue Stunde“ in Berlin und immer öfter auch die Begleitung von Transformationsprozessen, die vor den „klassischen“ Leistungsphasen ansetzen. Beispielsweise untersuchen wir aktuell für die Stadt Rheine, ob ein neues Stadtteilzentrum gar nicht erst gebaut werden muss, wenn die im Stadtteil bereits vorhandenen räumlichen Ressourcen von verschiedenen Institutionen, Initiativen und Vereinen hierfür genutzt werden können. Im Zentrum der gemeinsamen Arbeit mit den Akteur*innen vor Ort steht nicht mehr die Frage „Was hätte ich gerne?“, sondern „Wie viel ist genug?“. Wir diskutieren ebenso miteinander, ob aus diesem vermeintlichen Verzicht nicht sogar ein konkreter Mehrwert durch eine stärkere Vernetzung und eine bessere Unterstützung von bereits bestehenden Strukturen entstehen kann. Dies können im Ergebnis auch kleinere bauliche Eingriffe in den bestehenden Strukturen sein, um deren Leistungsfähigkeit zu erhöhen.
Braucht es für die Bearbeitung solcher Aufgaben die Kompetenzen von Architekt*innen? Unbedingt. Ist das „Vermeiden“ der Schaffung von Gebäuden, ohne dass ein tatsächlicher Mangel entsteht, eine Kompetenz, die wir Studierenden vermitteln wollen? Wir denken schon. Die Bearbeitung solcher Themenstellungen in unserem Büro hilft uns dabei, so abstrakte Begriffe wie „Suffizienz“ auch in der Lehre mit Leben zu füllen. Über entsprechende Formate versuchen wir, diese Themen auch unseren Studierenden zugänglich zu machen.
Ihr lehrt in Wuppertal. Welche wichtigen Themen und Prozesse finden hier statt? Und wie integriert Ihr diese in eure Lehrkonzepte?
Marc Günnewig: An unserer Fakultät befassen sich die Lehrstühle intensiv mit Nachhaltigkeitsthemen, vom Bauen im Bestand über Kreislaufwirtschaft im Bauprozess bis zur Forschung an technischen Ausstattungen und dem Monitoring der Solar Decathlon-Gebäude im Living Lab. Uns interessieren alle diese Themen – besonders auch die, bei denen wir keine eigene Expertise haben. Wir sind überzeugt, dass die komplexen Herausforderungen über möglichst viele unterschiedlichen Zugänge und Perspektiven angegangen werden müssen. Wir sehen nicht, dass es die „eine“ Lösung für multifaktorielle Problemstellungen geben kann. Mit unserer Neugier versuchen wir hier eine Art Schnittstelle zu bilden und einen Raum für den Diskurs zu schaffen. Seit dem letzten Semester bieten wir beispielsweise regelmäßig mit unserem „Salon transformativ“ ein Format an, in dem wir mit Gästen, Kolleg*innen und Studierenden daran arbeiten unseren Blick zu weiten.
In unserer gemeinsamen Sommerschule „Wert der Dinge“ werfen wir einen Blick auf Wuppertal. Was sind deine Erwartungen an diese Woche?
Marc Günnewig: Ich erhoffe mir eine intensive Debatte über den Wertebegriff – ein vermeintlich einfaches Wort, was aber in den verschiedensten Kontexten ganz unterschiedliche Nuancen und Zwischentöne ausbildet. Unser Ziel ist es, ein erweitertes Verständnis für unterschiedliche Perspektive und Zugänge zu erhalten. Wenn wir uns beispielsweise das bekannte Modell der sogenannten drei Säulen der Nachhaltigkeit – Ökonomie, Ökologie und Soziales – betrachten, wird schnell klar, dass wir selbstverständlich nicht nur wirtschaftliche Aspekte in den Blick nehmen wollen. Das Modell beschreibt aus meiner Sicht gerade die komplexe Wechselwirkung der Aspekte untereinander und nicht ein konkretes Mengenverhältnis im Sinne eines allgemeinen „wichtiger“ oder „unwichtiger“. An dieser Stelle bin ich sehr gespannt, wie beispielsweise Debatten über mögliche „Vorrangprinzipien“ verlaufen werden. Neben der Auseinandersetzung mit diesen inhaltlichen Fragestellungen freue ich mich aber auch auf eine gute und intensive Zeit mit ganz vielen tollen Gästen und Teilnehmer*innen.