Den Bestand dekodieren: Neues Leben für einen Vierseithof
Ein Bauernhof wird zum Reallabor, um Strategien und Maßnahmen zur Reaktivierung leerstehender Gebäudestrukturen im ländlichen Raum langfristig zu erproben.
Der Wandel demografischer Strukturen und landwirtschaftlicher Abläufe stellt ländliche Regionen vor große Herausforderungen. Beispielsweise müssen überholte Bestandsbauten wiederbelebt werden. Die Juniorprofessur Konstruktives Entwerfen und Erproben der Bauhaus-Universität Weimar hat sich vorgenommen, eine traditionelle Anlage auf dem Land in aufeinander aufbauenden Entwurfsstudios neu zu programmieren. Dafür wird ein stillgelegter Vierseithof in Niedergrunstedt, Thüringen, zum Reallabor für das Erproben nachhaltiger Konstruktionen und gemeinwohlorientierter Nutzungsstrategien.
Eine Struktur mit Tradition und Zukunft
Die Typologie des Vierseithofs ist durch die Anordnung der Gebäudeflügel entlang des Grundstücksperimeters gekennzeichnet. Durch den Hof miteinander verbunden, bilden Wohnhaus, Scheune, Kornspeicher und Stall den geschlossenen Kreislauf der landwirtschaftlichen Abläufe ab. In Mitteldeutschland ist der Vierseithof die wohlhabendste Form des Bauernhofes. Die großzügigen Räume eines solchen Ensembles finden aber heutzutage oft keine Nutzung mehr – ein verbreitetes Problem, dessen sich unter anderem die 2023 abgeschlossene StadtLand IBA Thüringen annahm. Diese Diskussion über die Reaktivierung ruraler Strukturen wollten Jun.-Prof. Tim Simon-Meyer und sein Team weiterführen und starteten eine semesterübergreifende Auseinandersetzung mit dem konkreten Fallbeispiel in Niedergrunstedt.
Den Code des Bestands entziffern
Das Auftaktstudio Nachhaltige Strukturen – HOF NGS fand im Wintersemester 2023/24 statt. Mit einem ausführlichen methodologischen Toolkit als Entwurfsgrundlage näherten sich Architektur- und Urbanistikstudierende der Bausubstanz an. Die Kontextanalyse ermöglichte ein tiefes Verständnis für die soziale und urbane (Infra-)Struktur, die lokalen Ressourcen sowie die Atmosphäre der Ortschaft. Durch Fotodokumentationen besonderer Fügungen und die akribische Vermessung der Räume entzifferten die Student*innen die Geschichte des Hofs und entwickelten ein konstruktives Verständnis sowie eine enge Beziehung zur Bausubstanz.
Auf Grundlage dieser Erkenntnisse entstanden Konzepte, die auf programmatischer und baulicher Ebene das örtliche Narrativ fortschreiben sollen. Einige Projekte nutzten beispielsweise die großzügige Raumhöhe, um zweigeschossige Lösungen mit Abstufungen der Öffentlichkeit zu schaffen. Mehrere Entwürfe sahen eingenistete Wohnkapseln nach dem Box-in-Box-Prinzip oder die Verbindung der Gebäudeteile durch einen Steg vor. Letzterer sollte als Erschließung und Aufenthaltsraum fungieren. Kleine Interventionen wie eine angedockte Pergola oder ein Balkon ergänzten minimalinvasiv die bestehenden Bauten.
Wie entsteht ein Gemeinschaftsort?
Im Sommersemester 2024 setzt das Lehrendenteam die Beschäftigung mit dem Bauernhof in dem DesignBuild-Projekt BAUHOF NGS – Nachhaltige Infrastrukturen fort. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, wie die Gemeinschaft an diesem Ort zusammenkommen möchte und was dafür notwendig ist. Eine minimale mobile Infrastruktur, die die Teilnehmenden in Kooperation mit dem Hamburger Verein Zinnwerke e. V. und lokalen Akteur*innen entwerfen und errichten werden, soll den Hof mit sinnvollen Nutzungen für die Dorfeinwohner*innen erlebbar machen. Ein besonderes Augenmerk liegt auf den Konstruktionstechniken und dem Einsatz vorgefundener Materialien, die im Kreislauf erhalten bleiben sollen. Es bleibt spannend zu verfolgen, wie diese langfristige Auseinandersetzung mit dem Vierseithof beispielhaft dazu beiträgt, stillgelegte Strukturen am Land wiederzubeleben.