Ökologisches Bauen im Wandel: Inken Ballers Blick auf die Architekturlehre von Gestern und Morgen

Die international tätige Architektin Prof. Inken Baller leistete als Hochschullehrerin einen wichtigen Beitrag zum Thema Ökologie im Architekturstudium. Dieses Jahr verlieh ihr das KIT die Ehrendoktorwürde. Im Interview blickt sie auf ihre Lehrtätigkeit von den 1980er- bis in die 2000er-Jahre zurück und bezieht Perspektive auf die heutige Architekturausbildung.

Gemeinsam mit Hinrich Baller war ihr Wirkungsraum als Architektin maßgeblich in Berlin. Können Sie uns Ihren Weg in die Lehre nach Kassel und Cottbus schildern?

IB: Nach Kassel bin ich durch die documenta urbana gekommen. Zu dem ursprünglich von der Stadt und der Neuen Heimat als Bauträger ausgelobten Wettbewerb wurden 1978 neun Architekturbüros eingeladen. Bei ihrem ersten Treffen beschlossen die Büros, nicht gegeneinander anzutreten, sondern bis zur Eröffnung der documenta 7 im Jahr 1982 eine Planungsgemeinschaft zu bilden. Diese entwickelte einen gemeinsamen Städtebau. In Abstimmung mit den Planungsbüros der jeweils benachbarten Bauten plante jedes Büro eigene Gebäude. Eine teilnehmende Gruppe waren Studierende der Gesamthochschule Kassel (GHK) mit Prof. Michael Wilkens, die „Baufrösche“. Durch sie habe ich die GHK kennengelernt, die mich 1985 angefragt hat, eine Gastprofessur zu übernehmen. 1989 wurde ich dort an den Lehrstuhl Entwerfen und Baukonstruktionen berufen. 1996 bin ich an die Brandenburgische Technische Universität (BTU) für den Lehrstuhl Entwerfen und Bauen im Bestand gewechselt.

Welche Inhalte haben Sie in Kassel sowie später in Cottbus vermittelt und behandelt? Was waren Ihre Schwerpunkte?

IB: Sowohl die GHK als auch die BTU waren neu gegründete Hochschulen mit den Schwerpunkten Projektarbeit und Interdisziplinarität. In meinen Vorlesungen thematisierte ich die Verbindung von Raum und Konstruktion, was mich schon während meines Studiums an der Technischen Universität Berlin bei Prof. Bernhard Hermkes faszinierte: Konstruktion und Material sind wichtige Faktoren in der äußeren Erscheinung und im Raum. Sie sind untrennbare Teile des architektonischen Ausdrucks. 1996 wechselte ich an die BTU nach Cottbus. Mich reizte die Aufgabe „Entwerfen und Bauen im Bestand“ – es war der erste Lehrstuhl mit explizit dieser Aufgabenstellung. Ich konnte mit Fachgebieten wie Baugeschichte, Denkmalpflege, Bautechnikgeschichte zusammenarbeiten und darüber hinaus das völlig unbekannte Umland von Berlin mit seinen sehr vernachlässigten alten Stadtkernen erkunden, die ein weites Feld für Projekte mit Studierenden zum Bauen im Bestand boten.

Inwiefern haben sich Lehre und Praxis bei Ihnen gegenseitig beeinflusst?

IB: 1989 verfügte ich bereits über eine mehr als 20-jährige Praxis in allen Leistungsphasen des Architekturberufs. Die Lehre bot mir die Möglichkeit, diese Zeit zu reflektieren und meine Erfahrungen und Ziele weiterzugeben. Auch wenn ich vor allem im Wohnungsbau gearbeitet hatte, waren die Ziele auf andere Aufgaben übertragbar: auf der Grundlage der Regularien räumliche Qualitäten zu entwickeln, die nicht monofunktional, sondern offen für individuelle Aneignung sind, die Möglichkeitsräume bieten, eine Gratwanderung von „Raum gestalten“ und „Raum lassen“. Ökologie war schon in den 1970er- und 80er-Jahren ein Thema, das an der GHK in Kassel in besonderer Weise durch die gemeinsame Fakultät ASL (Architektur, Stadtplanung, Landschaftsplanung) aufgegriffen wurde, aber auch in meiner Berufspraxis einen wichtigen Aspekt einnahm, zum Beispiel 1992 -1996 beim Umbau der ehemaligen VEB Kosmetik-Fabrik zum Gründerinnenzentrum WeiberWirtschaft in Berlin Mitte als erste ökologische Gewerbehofsanierung im Rahmen des Berliner Landesprogramms für stadtökologische Modellvorhaben. Diese Erfahrungen konnten direkt einfließen in die Projektarbeit der Studiereden und sind nur ein Beispiel für die produktive Wechselwirkung zwischen Lehre und Praxis. 

Können Sie sagen, wie Sie persönlich das Vermitteln und Lehren von Architektur empfunden haben? Was war Ihnen hierbei besonders wichtig?

IB: Der enge persönliche Kontakt mit den Studierenden war für mich besonders wichtig, deswegen habe ich zum Beispiel mehr als 80 Exkursionen, Workshops und Sommerschulen durchgeführt. Die Exkursionen waren in der Regel thematisch organisiert – eine Schulung des Sehens – und dienten dazu, bewusst Raumeindrücke und Raumerfahrungen zu sammeln, zu notieren und sie abends gemeinsam zu diskutieren. Die Workshops ermöglichten fast immer die enge Verbindung mit dem Ort, mit den lokalen Nutzer:innen und den Verwaltungen. Es ging mir nie darum, Studierenden einen bestimmten Formenkanon aufzuoktroyieren. Sie sollten vielmehr ihre eigenen Erfahrungen sammeln, hinterfragen, reflektieren und miteinander diskutieren sowie eine eigene Haltung entwickeln. Dahinter stand meine grundsätzliche Überzeugung, dass ein Gebäude kein optimiertes rationalisiertes System ist, sondern der Raum für das Leben in seiner ganzen Vielfalt, auch für das Unerwartete. Die Workshops und Sommerschulen waren besonders dafür geeignet, diese Auffassung zu vermitteln.

Auch Jahre nach Ihren aktiven Lehrjahren stehen Sie nach wie vor in Verbindung mit Studierenden und Personen aus dem akademischen Umfeld. Können Sie sagen, welche Veränderung das Architekturstudium in Ihren Augen erlebt hat?

IB: Der Klimawandel wird inzwischen unbestritten zu einem hohen Maße durch das Bauen beeinflusst. Das ist keine neue Erkenntnis, sie hatte aber bis vor kurzem nur wenig Einfluss auf das Architekturstudium. Seit einiger Zeit beobachte ich einen Umbruch, der mich an meine eigene Studienzeit von 1962 bis 1969 erinnert, und der wie damals von den Studierenden eingefordert wird. Besaß die BTU mit dem Lehrstuhl „Entwerfen und Bauen im Bestand“ 1996 noch ein Alleinstellungsmerkmal, so gibt es heute kaum noch eine Hochschule, die dieses Thema nicht aufgegriffen hat. Neue Themen sind regenerative Baustoffe und zirkuläres Bauen. Unabhängig davon sehe ich eine starke Tendenz zu einer zunehmenden Akademisierung – für die Berufung eines Hochschullehrenden wird die abgeschlossene Doktorarbeit wichtiger als die Berufspraxis, die Höhe der Drittmittel durch Forschung bildet den Nachweis für Exzellenz. Durch die Digitalisierung sind das Bauen und das Planen beschleunigt und rationalisierter geworden, der Einsatz von KI wird das in nicht vorhersehbarer Weise noch weiter verändern. 

Was würden Sie sich für das Architekturstudium zukünftig wünschen?

IB: Architektur baut nach wie vor auf einem hart erarbeiteten Fundament kreativer, technischer, ökonomischer und kommunikativer Fähigkeiten und Kenntnisse auf. Den Grundstock dazu sollte die Ausbildung liefern. Das gilt für das Um- und Weiterbauen ebenso wie für Neubauten. Um die Potenziale einer vorhandenen Baustruktur zu erkennen und weiterzuentwickeln, sind sehr gute Kenntnisse von Konstruktion und Material erforderlich, aber auch ein Bewusstsein für die Geschichte des Ortes und ein Verständnis für seine Potenziale. Der rasant zunehmenden Digitalisierung und ihren Gefahren der Rationalisierung und Simplifizierung sollte an den Hochschulen durch ein besonders attraktives Angebot an analogen Kommunikations- und Arbeitsmöglichkeiten in entsprechenden Arbeitsräumen begegnet werden, so wie ich es an den Hochschulen in Winterthur, Bergen oder in Århus kennengelernt habe. Ihre inspirierende Atmosphäre bilden ein Gegengewicht zur digitalen Welt. Und die Grenzen zwischen Stadtplanung, Garten- und Landschaftsplanung sowie Gebäudeplanung sollten durchlässiger werden, um die „steinerne autogerechte Stadt“ zu einer humanen urbanen Stadtlandschaft mit „grünen“ Gebäuden zu transformieren.