Soziologische Stadtforscherin: Aylin Akyildiz über Wohnbedürfnisse im Plattenbau

Aylin Akyildiz, sozialwissenschaftliche Stadtforscherin an der TU Berlin, untersucht die Wohnrealitäten junger Menschen in Großwohnsiedlungen. Sie verbindet in ihrer Forschung sozialräumliche Theorie mit partizipativer Praxis. Ihre Erkenntnisse aus dem Berliner Stadtteil Neu-Hohenschönhausen sind nun in der Publikation „Einrichten in der Normalität“ erschienen. 

In deiner Promotion untersuchst du die Wohnbedürfnisse junger Menschen und verknüpfst dabei Kindheits- und Jugendforschung, Architekturpsychologie und Wohnsoziologie. Wie verstehst du Wohnen in deiner Forschung?

AA: In meiner Arbeit verstehe ich Wohnen als sozialräumliche Praxis und betrachte deshalb neben physisch-materiellen Räumen auch Handlungen, Objekte und Beziehungen, die das Wohnen ausmachen. Dieses Verständnis entwickelte sich im Citizen-Science Forschungsprojekt „C/O _______Forschen mit Kindern und Jugendlichen zur Wohnqualität in der Großwohnsiedlung“ (TU Berlin, Institut für Architektur, pbi/CUD), in dem wir – meine Kolleg*innen Karoline Fahl, Steffen Klotz und ich – den Wohnalltag junger Menschen untersuchten. Empirisch konnten wir das „vernetzte Wohnen“ nachweisen: eine Wohnpraxis, die über Elternwohnungen hinausreicht und ein Wohnnetzwerk entfaltet. 

Ausgehend von diesen Überlegungen analysiere ich, welche materiellen, sozialen und symbolischen Ressourcen Kinder und Jugendliche zum Wohnen brauchen. Mein Ziel ist es, Wohnbedürfnisse über diese drei Dimensionen aufzuspannen. Deshalb betrachte ich nicht nur die Wirkung und Nutzung gebauter Umwelt, sondern auch sozialpsychologische Aspekte sowie gesellschaftliche Bedingungen von Kindheit und Jugend. 

Mit wem arbeitest du dabei zusammen?  

AA: Im genannten Forschungsprojekt war die enge Zusammenarbeit mit Jugendfreizeiteinrichtungen zentral. Sie ermöglichte nicht nur den Zugang zu unseren Co-Forschenden – also zu den Kindern und Jugendlichen als Mitforschende – sondern lieferte uns durch die Begegnungen mit Sozialarbeiter*innen, Erzieher*innen und anderen zivilgesellschaftliche Akteur*innen wertvolle Einblicke in die lokalen Wohnrealitäten. Diese kollaborative Forschungserfahrung prägt auch mein Promotionsprojekt. Ich arbeite weiterhin inter- und transdisziplinär, indem ich wissenschaftliche Perspektiven mit Wissen aus Planung und Sozialer Arbeit verbinde.

Welche zentralen Erkenntnisse brachte die Forschung für dich, insbesondere in Bezug auf die räumlichen Aneignungen von Kindern und Jugendlichen hervor? Gab es unerwartete Wendungen in dem Neu-Hohenschönhausener Projekt? 

AA: Auf der Suche nach den Wohnbedürfnissen habe ich mich im letzten Jahr spezifisch mit den Motiven des „vernetzten Wohnens“ beschäftigt. In meinen Auswertungen kam ich zu dem Ergebnis, dass Diskrepanzen zwischen den Wohnbedürfnissen und den erlebten Wohnrealitäten in den Elternwohnungen die Ursache für das Auslagern von Wohntätigkeiten sein können. Kinder und Jugendliche erweitern ihr Wohnnetzwerk, um ihre Bedürfnisse auch außerhalb der Elternwohnung zu erfüllen. 

Neben den inhaltlichen Erkenntnissen war die Forschung für mich auch methodisch prägend. Das co-kreative, partizipative Forschungsdesign hat es erst ermöglicht, das komplexe Geflecht aus Wohn- und Lebensrealitäten zu erfassen. So konnten wir professionelles und alltägliches Expert*innenwissen verschränken, das methodische Vorgehen stets anpassen und damit auf Teilnehmende reagieren. Durch diese Offenheit gab es auch keine überraschenden Wendungen, sondern eher einen nicht-linearen Forschungsprozess. 

Wie spiegeln sich diese interdisziplinären Ansätze in der Arbeit mit Studierenden am Lehrstuhl wider?

AA: Sie spiegeln sich einerseits in den Inhalten wider, da ich unterschiedliche Diskurse in die Lehre hineintrage. Zum anderen – und prägender – sehe ich die interdisziplinären Einflüsse in methodischen Zugängen. Mir ist es wichtig, den Studierenden Werkzeuge an die Hand zu geben, mit denen sie Wissen generieren, kritisch einordnen und eigenständig weiterdenken können. Dafür nutze ich unterschiedliche qualitative und raumsensible Forschungsmethoden. 

Unsere Lehre baut auf diesem analytischen Ansatz auf. Studierende sollen lernen, ihre Untersuchungsgegenstände fundiert zu hinterfragen und zu kontextualisieren. Wichtig ist uns nicht nur die methodische Arbeit, sondern auch Offenheit in der Gestaltung der Ergebnisse. Für mich ist es beispielsweise zentral, dass die Studierenden das Endprodukt mitgestalten, ihre Ideen einbringen können und ich trotz klarer inhaltlicher Anforderungen auf ihre Vorstellungen und Vorschläge reagiere. 

Gibt es Aspekte, die in der öffentlichen Diskussion über Großwohnsiedlungen oft übersehen werden, die dir aber besonders wichtig erscheinen? Welchen Beitrag wollt ihr zu diesem Diskurs mit eurer Publikation „Einrichten in der Normalität“ leisten? 

AA: Oft überhört man die Stimmen der Bewohnenden in Diskussionen über Großwohnsiedlungen. Stattdessen dominieren Narrative aus Medien, Politik oder Forschung. Maren Harnack und Jörg Stollmann betonen in „Identifikationsräume“, dass Großwohnsiedlungen oft an falschen Vorbildern gemessen werden. Es braucht eine unvoreingenommene Betrachtung, die die Perspektiven der Bewohnenden ernst nimmt. Diese Aspekte finde ich sehr wichtig, sie sollten in der öffentlichen Diskussion deutlicher werden. 

Mit unserem Buch „Einrichten in der Normalität“ knüpfen wir an diese Forderung an. Wir liefern einen Einblick in die Komplexität der großen Wohnsiedlungen jenseits normativer Zuschreibungen. Dafür versammelt das Buch Einblicke in unterschiedliche Großwohnsiedlungen durch Untersuchungen von Architekt*innen, Stadtforscher*innen sowie Wirtschafts-, Erziehungs- und Sozialwissenschaftler*innen, aber auch durch Beiträge ehemaliger Bewohner*innen Neu-Hohenschönhausens, einer Illustratorin sowie einer Fotografin.