Städte neu denken: Carlo Ratti über Innovation und interdisziplinäre Zusammenarbeit

Carlo Ratti, renommierter Architekt und Ingenieur, Leiter des Senseable City Lab am Massachusetts Institute of Technology (MIT), Professor am Politecnico di Milano und Kurator der 19. Architekturbiennale Venedig 2025, nutzt die Intelligenz unserer Umwelt, um den Herausforderungen einer sich wandelnden Welt zu begegnen.

Das Senseable City Lab umfasst eine beeindruckende Vielfalt von Projekten, Publikationen und Kooperationen. Wie würden Sie die Ausrichtung des Labs beschreiben? 

CR: Unsere Leidenschaft gilt der Innovation in der gebauten Umwelt, weshalb wir eng mit Städten weltweit zusammenarbeiten. Wir untersuchen, wie die Verbindung von Natur und Technik nachhaltigere Städte schaffen kann, und wie die Verteilung von Intelligenz urbane Räume gestaltbar, erlebbar und zukunftsfähig macht – auch ein zentrales Thema der kommenden Biennale in Venedig. Viele Projekte unseres Senseable City Labs sind auf dem Campus des MIT in Cambridge und Boston angesiedelt. Darüber hinaus betreiben wir kleinere Labore in Rio de Janeiro, Dubai und Amsterdam. Die Ergebnisse dieser Kooperationen spiegeln wider, wie wir Städte verstehen lernen und gezielt Lösungen für ihre Herausforderungen entwickeln. Im Mittelpunkt unserer Forschung steht immer die Stadt. 

Forschung in der Architektur ist weniger etabliert als in anderen Disziplinen. Wie trägt Ihre Arbeit zur Anerkennung der Architektur in der wissenschaftlichen Forschungsgemeinschaft bei?

CR: Für uns zählt der Gesamteinfluss unserer Arbeit, nicht nur der wissenschaftliche Impact-Faktor. Unser Ziel ist es, wichtige Fragen interdisziplinär anzugehen und Erkenntnisse zu schaffen, die sowohl in der Forschung als auch in städtischen Projekten oder politischen Maßnahmen Wirkung zeigen. Ein wesentlicher Aspekt ist auch der gesellschaftliche Dialog: Mit Beiträgen in Medien wie der New York Times oder Financial Times möchten wir die Öffentlichkeit einbinden und Rückmeldungen einholen, um unsere Ideen weiterzuentwickeln.

Ein Beispiel: Letztes Jahr veröffentlichte ich gemeinsam mit dem Harvard-Ökonomen Edward Glaeser eine Reihe von Leitartikeln in der New York Times, darunter einen über die vielen leerstehenden Bürogebäude in New York nach COVID-19. Wir unterbreiteten konkrete Vorschläge zur Umnutzung dieser Flächen, um städtische Veränderungen anzustoßen. Einige dieser Ideen wurden bereits in New York und anderen Städten umgesetzt. Wir waren sehr froh, dass der Artikel eine rege Online-Diskussion ausgelöst hat – zustimmend oder kritisch. Das spiegelt die Vielfalt der Stadt wider, die wie eine Leinwand oder ein Open-Source-Prozess ist. 

Wie fließt das Feedback in Ihre Projekte ein?

CR: Die Natur funktioniert auf der Grundlage von Rückkopplungsschleifen. Eine Mutation löst eine Reihe von Rückkopplungsschleifen aus, die zur Selektion führen. Deshalb ist Feedback für uns so wichtig. Im Gegensatz zu manchen Architekt*innen, die sich wenig Feedback von den Nutzer*innen wünschen, betrachten wir jede Form von Feedback als Bereicherung, sei es zu einem Artikel, zu einer städtischen Intervention oder zu der Ausstellung auf der nächsten Biennale. Rückmeldungen fördern den Dialog und die Entwicklung – in diesem Fall nicht die Evolution der Natur, sondern die Evolution der Ideen. 

Ihre Projekte sind interdisziplinär. Welche Disziplinen sind Ihrer Meinung nach für die Architektur relevant?

CR: Besonders wichtig sind heute Informatik und Computerwissenschaften. In vielen unserer Projekte, von denen einige auf der Biennale gezeigt werden, arbeiten Architekt*innen und Designer*innen mit Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler*innen und sogar Philosoph*innen zusammen. Ich glaube, dass fast jede Disziplin wertvoll sein kann – je nach Projekt kann das Spektrum sehr breit sein.

Ein besonderes Format der Architekturausstellung in Venedig ist das Biennale College. Was erwartet die Studierenden dieses Jahr beim zweiten Biennale College unter Ihrer Leitung?

CR: Das Biennale-College wurde von Lesley Lokko, der Kuratorin der Architekturbiennale 2023, mit dem Schwerpunkt Film ins Leben gerufen. Dieses Jahr haben wir das Format weitergeführt und ein gemeinsames Thema definiert, das aus den Einreichungen hervorging. Die ausgewählten Teilnehmenden treffen sich in Venedig, wo das College wie eine kleine Schule funktioniert – mit Unterricht und der Entwicklung von Projekten, die im nächsten Jahr auf der Biennale präsentiert werden.

Wie bereiten Sie in Ihrer Lehre junge Architekt*innen auf die Herausforderungen von morgen vor?

CR: Ich bin der Meinung, dass der traditionelle Frontalunterricht überholt ist und der Schwerpunkt auf aktivem Lernen liegen sollte. Dabei setze ich auf den konstruktivistischen Ansatz: Lernen durch Handeln. Indem wir die Studierenden aktiv in Projekte einbinden, fördern wir praxisnahes Lernen.