Architekturschule entwerfen: Jonas Tratzs Perspektive auf Planung und Lehre

Die Bauaufgabe schlechthin? 2024 gewann FAKT mit Gustav Düsing den Wettbewerb für die neue Architekturschule in Siegen – ein Projekt, das in der Aufgabenstellung und im Vergabeverfahren neue Möglichkeiten aufzeigte. Wir führten mit Jonas Tratz, Partner im Architekturbüro FAKT, ein differenziertes Gespräch über Architekturschulen aus planerischer und lehrender Perspektive.

Ihr habt Lehrerfahrung an deutschen Hochschulen, aber auch international. Wie geht ihr an die Lehre heran, und was interessiert euch besonders?  

JT: Unser Büro gibt es jetzt seit 11 Jahren, und genauso lange unterrichten wir, einfach weil wir glauben, dass man dadurch bestimmte Themen ausprobieren kann. Gern lehren wir mindestens zu zweit, weil es so einen anderen Rückfluss an Ideen und Erkenntnissen in unsere Praxis gibt. Im internationalen Kontext fragen wir uns, welche Themen an der bestimmten Hochschule relevant sind und was wir beitragen können. An anderen Orten versteht man besser, wo Unterschiede oder übereinstimmende Probleme und Schwierigkeiten liegen. 

Eine lehrreiche Erfahrung habe ich letztes Jahr in Be'er Scheva gemacht, in einem Workshop an der neu gegründeten Negev School of Architecture. Die wüstenartige Negev-Region wurde über Jahrtausende durch nomadische Stämme geprägt. Auch die Studierenden hatten sehr unterschiedliche Backgrounds – jüdisch, palästinensisch/arabisch und beduinisch. Und als jemand, der ganz woanders herkommt, war es spannend zu sehen, wie Personen, die sich sonst im Alltag selten begegnen, miteinander agieren und sich ein Mikrokosmos bildet. Das ist nicht problemfrei, aber löst etwas aus.

Aktuell unterrichte ich am Dessau Institute of Architecture der Hochschule Anhalt. In dem englischsprachigen Master ist die Studierendenschaft stark durchmischt. Dann stelle ich auch mir die Frage: Was vermittle ich den Studierenden, was ist ihre Erwartung, aber vor allem, wie kann ich ihre verschiedene Backgrounds als Potenzial ausschöpfen, sodass sie voneinander lernen können?

Und welches sind die Themen, die uns hierzulande intensiver beschäftigen sollten? 

JT: Zumindest im mitteleuropäischen Kontext drehen sich die aktuellen Fragen um Umbau: Wie können wir überhaupt bauen? Wie wenig sollten wir machen? Wie gering sollten unsere Maßnahmen sein, und was bedeutet dies für die Architektur? Weniger oder klimabewusstes Bauen ergibt nicht automatisch ein gutes Haus. Um das hinzubekommen, muss man sogar ein*e bessere*r Architekt*in sein. Wo sind die Stellschrauben an einem Entwurf, um mit wenig Aufwand dennoch viel zu bewirken?  

Wir hoffen und haben den Anspruch, dass Hochschulen und Unis ihre Studierenden in die Lage versetzen, in einer gewissen Eigenständigkeit Fragen zu stellen. Wir wissen ja noch gar nicht, wie die Themen in 20 oder 30 Jahren aussehen. Zuletzt hatten wir mehrere Studios und Seminare, die wir „Architectures of (Unknown) Futures“ benannt haben. Unserer Meinung nach müssen die Studierenden so ausgebildet werden, dass sie mit Lösungen und Konzepten für verschiedene Zukunftsszenarien umgehen können. Sie müssen das Bewusstsein entwickeln, dass sie Dinge verändern können und erkennen, wo ihre Verantwortung liegt. 

Siehst du dieses Potenzial im Plan der neuen Architekturschule Siegen?

JT: In Siegen löste der Wettbewerb einige relevante und radikale Themen aus. Man bemerkt, dass diese Schule bereits ein Bild von sich erzeugt hat: „Das wollen wir sein als Schule, da wollen wir hin.“ – ein Versprechen für die Zukunft, das eine unglaubliche Dynamik bewirkt. Diese Idee, dass mehrere Fachbereiche der Hochschule in die Stadt zurückziehen, wird von vielen unterstützt, weil sie isoliert in dem 70er Jahre Campus gar nicht überlebensfähig ist. Unter anderem Tobias Hönig, Thorsten Erl und Bert Bielefeld haben sich im Bereich der Architekturfakultät dafür stark gemacht, dass das bestehende Druckhaus nicht abgerissen wird. Der alte Masterplan ersetzte es durch ein Haus mit identischem Footprint. In unter einem Jahr initiieren sie diesen Prozess, der jetzt in diesen extrem guten Verfahren mündete und Schritt für Schritt weiterentwickelt wird.  

Wie verlief der Wettbewerb und was war einzigartig daran?

JT: Von Anfang an war eine Summer School Teil dieses Wettbewerbsverfahrens, das dadurch nicht anonym, sondern mit hohem Maß an Kommunikation und Austausch verbunden war. Nach einer offenen Bewerbungsphase arbeiteten sechs ausgewählte Entwurfsteams gemeinsam mit den Studierenden zehn Tage lang vor Ort, im zu transformierende Bestandsgebäude. Das bildete den Auftakt dieses Prozesses, sich mit dem Ort zu beschäftigen und sich diese Schule vorzustellen. Jedes Entwurfsteam arbeitete mit circa zehn Studierenden und einer Person aus dem Mittelbau, die lokale Expertise einbrachte. Dieser Ansatz ermöglichte einen guten Start, da parallel mit fünf anderen Teams grundlegende Fragen zu Architekturlehre und Transformation erörtert werden konnte. In der doppelgeschossigen Halle erzeugte das ein Riesen-Gewusel, denn es gab stetig Inputvorträge sowie spontane Gesprächsrunden, und die unterschiedliche Methoden und Ansätze wurden dadurch für alle sichtbar. Wir führten Gespräche mit Studierenden, Vertreter*innen des Stadtplanungsamts sowie Hochschullehrenden und hatten auch Expert*innen an unserer Seite wie beispielsweise für Klima oder Tragwerk. Am Schluss präsentierten alle Teams ihre Arbeit, was eine Art kollektives gedankliches Fundament bildete. Nach der Phase Null der Summer School lud die Hochschule drei Entwurfsteams zum sogenannten Austausch-Format „Marktplatz” ein, was uns hilfreiches Feedback brachte. Auch wenn Anonymität bei vielen Wettbewerben sinnvoll ist, gibt es auch Projekte, die Beteiligung erfordern, weil sie für die Stadtgesellschaft entscheidend sind. In Siegen war es ein konstruktiver Dialog, auf Augenhöhe. 

Eine Architekturschule zu entwerfen, klingt nach einer Traumaufgabe. Auf welche wesentlichen Merkmale habt ihr euch im Entwurf konzentriert? 

JT: Für die Architekturschule in Siegen nahmen wir uns gemeinsam mit Gustav Düsing Zeit, grundlegende Fragen zum Umbau zu klären. Dazu gehören langfristige räumliche Flexibilität, Komfort in verschiedenen Klimabereichen und Fragen zur Struktur und zum Programm. In der Summer School hinterfragten wir das ursprüngliche Raumprogramm. Viele private Büros für Lehrstühle stehen drei Viertel der Woche leer – könnten diese Flächen nicht mit anderen Nutzungen überlagert werden? Räume, die mehrere Nutzer*inne teilen oder sich öffnen können.

Das Erdgeschoss ist in unserem Konzept ein offener Raum, der zwischen dem Campus und dem Fluss eine sehr durchgängige Ebene schafft. Weiter oben, im Bereich für die Studierenden legten wir Wert auf Flexibilität – ein Raumangebot, das unterschiedliche Dimensionen, Konfigurationen und Charaktere abbildet. Über schaltbare Räume möchten wir der Schule ermöglichen, sich an zukünftige Bedürfnisse anzupassen. Im obersten Geschoss befindet sich ein 1000 Quadratmeter großer Raum – für interne Veranstaltungen, aber auch für die Stadtgesellschaft. 

Was sind die Learnings aus diesem Projekt, die auch an anderen Orten und in anderen Projekten anwendbar sind? 

JT: Eine Architekturschule darf kein Elfenbeinturm artiges Gebilde, sondern sollte eine Hybrid-Typologie sein, die mit der Stadt interagiert. Architekturschulen sollten wie Fallstudien funktionieren und den Studierenden von Anfang an beispielhafte Lösungen in Bezug auf Klima, Tragwerk und Bauteilertüchtigung zeigen – insbesondere bei Umbauten.

In Siegen betrachteten wir den Umgang mit Bestandsbauten nicht nur als Herausforderung, sondern als Chance, viele Themen der Transformation parallel anzugehen und in eine architektonisch durchdachte Lösung zu integrieren. Wir wollten prototypisch Lösungen wie ein Low-Tech-Klimakonzept durch Durchlüftung und materialsparenden Leichtbau zeigen. 

Hast du persönlich ein Vorbild einer Architekturschule? 

JT: Ich bin überzeugt, dass die Schule als Struktur und mit guten Räumen bereits eine hervorragende Lehrerin ist und viel vermittelt. Relevante Themen und bauliche Situationen aufzuzeigen, wie im Gebäude des Instituts für Architektur an der TU Berlin, ist ebenfalls hilfreich: Über Treppenhäuser und doppelgeschossige Hallen fördert das Haus Kommunikation, verschiedene Tragsysteme werden fast übertrieben beispielhaft dargestellt. Auch das Format eines Architekturmuseums, wie es die TU München bietet, finde ich sehr gelungen. Ein schwellenloser, halb-institutioneller Bereich, der Feedback und Austausch ermöglicht. Eine Architekturschule muss schließlich einen Diskursraum eröffnen, in dem Stadtgesellschaft und Universität aufeinandertreffen und öffentliche Momente innerhalb der Schule entstehen.