Typologisch umdenken: Im Gespräch mit Tobias Hönig
Tobias Hönig ist Mitgründer des Berliner Architekturbüros c/o now und ist seit 2022 Professor an der Neuen Architekturschule Siegen (N AS), an der er das Team des Lehr- und Forschungsgebiets Gebäudelehre und Entwerfen (LFGE) leitet. Wir sprachen mit ihm über interdisziplinäres Handeln, Forschen und seine Strategien in der Gebäudelehre.
Vor welchen Herausforderungen steht in Ihren Augen die Gebäudelehre heute? Was hat sich dabei Ihr Lehrstuhl zur Aufgabe gemacht?
Tobias Hönig: Die Gebäudelehre wurde im Architekturstudium einst platziert, um dem damals aufkommenden, industriellen Bauen Rechnung zu tragen. Wir sprechen da vom Kaiserreich und von am Militärkomplex angelehnten Universitäten und wissen, welche Rollen das industrielle Bauen im Dritten Reich und in dessen Fortschreibungen gespielt hat. Angesichts der sozialen, ökologischen und ökonomischen Herausforderungen, die nun anstehen, ist es sinnvoll, das industrielle Bauen als solches kritisch weiter und neu zu denken.
Bräuchten wir nicht eine Gebäudeklasse S wie Systembau, um Prozesse zu beschleunigen? Und dann gibt es ja auch noch das verdrängte Wissen aus der DDR – was wurde damals richtig, was falsch gemacht? Wenn wir andererseits über Transformation und die Arbeit mit Bestand sprechen, müssen wir in den kommenden Jahrzehnten mit Bauten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts arbeiten und in der Umnutzung und Umgestaltung deren systemische und strukturelle Prinzipien verstehen.
Dabei stellen wir fest, dass bei all den unterschiedlichen an die Gebäudelehre, die Architektur und die Raumdisziplinen gerichteten Fragen, wir für diesen Komplex selbst nachvollziehbare Argumentationen entwickeln müssen – Insbesondere für die, die diese Transformation leben müssen.
Ihre Lehre und Forschung haben einen typologischen Schwerpunkt. Was bedeutet das? Und wie bedingen diese Forschung und Lehre Ihre Praxis – und andersherum?
Tobias Hönig: Typologisches Denken ist älter als Gebäudelehre. Wir – darüber lässt sich vortrefflich streiten – legen das als reinen Referenzkanon aus. Interessanterweise ist es zu typologischen Festschreibungen gekommen wie beispielsweise der, dass ein Museum eine Rotunde zu haben hat (O.M. Ungers). Das interessiert uns nicht so sehr. Wir sprechen gerne von einer langen Liste an „Einflussgrößen auf Konzeptionen von Architekturen“, bei denen sich die Typologie dann ebenfalls mit Begriffen wie Ideologie konfrontiert sehen kann. Es geht dabei weniger um eine Retrospektive, als vielmehr eine progressive Typogenese.
Im vergangenen Semester haben unsere Masterstudierenden beispielsweise darüber nachgedacht, wie der Ersatzbau einer abgebrannten Stadthalle als Ort wiedererrichtet werden kann, der 24/7 genutzt werden und der Kommune zusätzliche, soziale Räume eröffnen kann. Dabei werden beispielsweise Parkplätze überbaut, als Marktflächen zwischengenutzt, und die Matrix der Anforderungen komplexer. Wir haben das Siegerland zu unserem Hauptuntersuchungsgegenstand erklärt, weil es greifbar und im besten Sinne durchschnittlich ist und die angesprochenen Herausforderungen sich hier prototypisch durchdeklinieren lassen. Alles ergibt sich vor Ort, wie die Idee für die Gebäudeklasse S, die natürlich von Florian Nagler inspiriert ist, aber uns bei Gesprächen mit einem lokalen Modulbauunternehmen kam. Das ist eine typische „c/o-now-Strategie“, nach der auch unser Team an der Kunstuniversität Linz arbeitet.
An Ihrem Department steht u. a. die Vernetzung im Vordergrund sowie kooperativ die Perspektiven anderer Disziplinen einzunehmen. Welche Formate und Vermittlungsansätze sind hierbei wichtig?
Tobias Hönig: Die Universität Siegen ist eine in den 1970er-Jahren gegründete Reformuniversität und trägt diesen Geist bis heute. Die Architektur teilt sich eine Fakultät mit den Künsten und Erziehungswissenschaften. Das greift bis in die Curricula. Eine Kollegin aus der Pädagogik hat einst die Architektursoziologie in unser Department gebracht. Und die ist heute Teil des Aufgabenbereichs des LFGEs, was uns – Stichwort Einflussgrößen – in unserer Lehre sehr entgegenkommt.
Bei c/o now und am LFGE sind wir davon überzeugt, dass die herausfordernden Veränderungen und Krisen unserer Gegenwart dennoch nach einer Ewigkeit eine Chance bieten: die Architektur von einer exklusiven Dienstleistung weg, hin zu etwas zu entwickeln, was eigentlich im emanzipatorischen Versprechen der frühen Modernen bereits angelegt war. Mit Blick auf die ökologischen Herausforderungen könnte man pathetisch fast schon von einer (Über-)Lebenstechnologie sprechen. Das nehmen wir so mit in die Lehre und Forschung.
Ein wichtiger Punkt dabei sind die sich verändernden Selbstverständnisse von Studierenden wie Lehrenden. Simple but true – das Lernen endet heute nicht mehr mit einem Diplom und so lernen wir heute tatsächlich mit den Studierenden. Diese kommen selbst nicht mehr unbedingt an die Uni, um für ein klassisches Berufsbild ausgebildet zu werden, sondern weil sie sich von der Architektur die Verschränkung brennender Themenkomplexe unserer Zeit versprechen.
Was wünschen Sie sich für die Lehre in Zukunft?
In Siegen eröffnet sich uns gerade eine unglaubliche Chance. Die Universitätsleitung hat es uns ermöglicht in einem zweistufigen Verfahren mit einer vorgeschalteten Summerschool, zusammen mit sechs Büros (Adept, AgwA, Assemble, Coop Disco + ZRS, FAKT + Gustav Düsing, Hütten & Paläste), aber vor allem unseren und Gaststudierenden aus dem deutschsprachigen Raum, die Idee eines Architekturlehrgebäudes der Zukunft zu entwickeln. Zwei Punkte waren dabei wichtig. Erstens zieht die Uni Schritt für Schritt von ihrem „Bildungshügel“ am Rande der Stadt ins Zentrum, um dort der zunehmend schwindenden Urbanität entgegenzuwirken. Zweitens wird dabei für uns nun prototypisch ein Bestandsbau entwickelt, der eigentlich schon zum Abriss freigegeben war. Im März fällt die finale Entscheidung für einen der Vorschläge. Das c/o-now-Team in Linz versucht mit den Leuten dort gerade etwas Ähnliches. Gleichzeitig haben wir damit begonnen, erste Bauten im Zentrum in Zwischennutzung für unsere Lehre zu aktivieren. Das ist im besten Sinne Learning by Doing. Und natürlich denken wir mit den Studierenden darüber nach, wie die Strategie zu unserem neuen Gebäude auch auf die universitären Zwischennutzungen übertragen werden kann. Das ist eine ziemliche Herausforderung für den klassischen Lehr- und Lehrgebäudeliegenschaftsbetrieb. Wir wünschen uns daher vor allem, dass die Ideen der Studierenden auf fruchtbaren Boden fallen!