„Wie können wir Bestand wertschätzen und um- und weiterbauen, sodass wir die planetaren Grenzen respektieren?“

Selten ist der Werdegang einer Architektin so vielschichtig und inhaltlich so konsequent. Der Schwerpunkt von Prof. Andrea Klinge, den sie in Forschung, Praxis und Lehre vertritt, ist das nachhaltige Bauen – kreislaufgerecht, Low-Tech und auf Basis natürlicher Baustoffe. Auf ihre Berufung 2021 als Professorin für Zirkuläres Bauen an die FHNW in Basel folgte 2023 die Professur für Konstruktion und Entwerfen am KIT. Wie sich der rote Faden ihrer Forschung aktuell weiterentwickelt und in ihrer Lehre und Praxis spiegelt, erzählt sie uns im Interview.

Welche Forschungsthemen adressieren Sie in der neuen Professur?

Gesellschaftlich stehen wir vor gewaltigen Herausforderungen und radikalen Veränderungen, die alternativlos sind. Der voranschreitende Klimawandel und die Ressourcenknappheit zwingen uns zu völlig neuen Denk- und Lösungsansätzen. Der Bausektor, als ein maßgeblicher Treiber diese beider Krisen, muss sich komplett neu aufstellen. Wir können nicht wie in den letzten 70 Jahren weiterhin so CO₂- und ressourcenintensiv bauen. In meiner Forschung gehe ich genau diese Themen an. Wie können wir Bestand wertschätzen und um- und weiterbauen, sodass wir die planetaren Grenzen respektieren? Da spielen die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft, als Teilaspekt des nachhaltigen Bauens, die u. a. den Bestandserhalt, die Ressourceneffizienz, Wiederverwendbarkeit, Dauerhaftigkeit, CO₂-Neutralität adressieren, aber auch die Wahl der Baustoffe eine zentrale Rolle. Durch die Industrialisierung, die auch den Bausektor maßgeblich verändert hat, haben wir verlernt, klimaangepasste Architekturen zu entwickeln. Fasziniert vom „größer, schneller, weiter“ ging das Wissen um nachhaltige, zirkuläre Baustoffe wie Holz, Lehm und andere Naturmaterialien immer weiter verloren. Viele Planende kennen nicht mehr die Vorteile von Naturbaustoffen in Bezug auf die Raumluftqualität und den thermischen Komfort und die damit verbundenen Möglichkeiten, den unsinnigen Technikeinsatz in unseren Gebäuden zu reduzieren. Diese Ansätze bringe ich in meiner Forschung zusammen. Kreislaufwirtschaft und Low-Tech ergänzen sich wunderbar. Und umsetzen lassen sich diese Konzepte viel einfacher mit Naturbaustoffen wie Holz und Lehm.

Welche Inhalte und Methoden vermitteln Sie Ihren Studierenden, um kreislaufgerecht, sozial sowie nachhaltig zu entwerfen?

Wir wollen die Studierenden auf die drängenden Fragestellungen in der Architektur vorbereiten und gemeinsam Lösungsansätze mit ihnen erarbeiten. Es geht darum, wieder ein Gespür für eine Angemessenheit zu entwickeln, mit der sie an zukünftige Bauaufgaben herangehen, um die notwendige Eingriffstiefe definieren zu können. Dabei spielt ein ganzheitlicher Ansatz, der architektonische, ökologische, soziale Aspekte mit dem Suffizienz-Gedanken verknüpft, eine maßgebliche Rolle. Es geht nicht mehr um die großen Gesten, sondern darum, wie wir mit den uns zur Verfügung stehenden Ressourcen, die wichtigsten Bauaufgaben der heutigen Zeit sozialverträglich lösen können. Der Fokus wird daher wieder stärker auf den Bestand und dessen Transformation gelegt.

Zudem geht es darum, die Prinzipien des kreislaufgerechten Entwerfens und Konstruierens zu vermitteln. Hier bearbeiten wir Fragestellungen, wie Bauteile oder Bauteilkomponenten reversibel gefügt werden können, um dann auch wirklich zerstörungsfrei rückbaubar zu sein oder wie sich diese Prinzipien auf die Grundrissgestaltung und das Tragwerk auswirken.

Auch die Themen Materialwahl und materialgerechte Konstruktion spielen eine große Rolle. Ich finde es wichtig, dass zukünftige Architekt*innen hier wieder besser ausgebildet werden und wissen, warum sie welches Material wie und wo einsetzen und was die Auswirkungen dieser Entscheidung sind. Dieses Semester setzen wir uns mit dem kreislaufgerechten Bauen mit nachhaltigen, CO₂-armen Baustoffen wie Lehm und Holz auseinander. Es ist interessant zu beobachten, wie stark das Interesse und die Nachfrage der Studierenden dabei am Baustoff Lehm ist und wie viel Lehm anstelle von Styrodur im Modellbau verwendet wird.

Es ist aber auch so, dass die Studierenden einen Wandel in der Lehre einfordern, um auf zukünftige Bauaufgaben besser vorbereitet zu sein. Sie spüren, dass sie von den Folgen des Klimawandels sehr viel stärker betroffen sein werden als meine Generation.

Inwieweit spiegelt sich Ihre (Forschungs-)Praxis in Ihrer Lehre und umgekehrt wider?

Als forschende Architektin versuche ich, die Themen, mit denen ich mich im Büro, in der Forschung und der Praxis auseinandersetze, in die Lehre zu integrieren. Das Thema der Kreislaufwirtschaft wurde bei uns im Büro sehr stark durch das von der EU geförderte Forschungsprojekt RE4 vorangetrieben. Hier haben wir uns mit der Wiederverwendung und -verwertung von Bau- und Abbruchmaterialien auseinandergesetzt und Lösungen entwickelt, wie diese kreislaufgerecht in einem Gebäude, das wiederum zerstörungsfrei rückgebaut werden kann, eingesetzt werden können. Erste Ansätze aus dem Projekt konnten wir in mehreren Praxisprojekten in Holzbauweise umsetzen. Diese Ergebnisse fließen ganz konkret in die Lehre im Entwurfsstudio ein und sollen zukünftig auch stärker über Seminare in die Breite getragen werden.

Im Umkehrschluss beeinflusst die Lehre auch die Praxis. An der Hochschule können wir freier an Entwurfsaufgaben herangehen und Ideen entwickeln, die in der Praxis erstmal nicht umsetzbar erscheinen. Das erweitert den Horizont und inspiriert. In der Praxis hoffe ich, dass eine fundierte Vorarbeit aus der Lehre die Umsetzung der Ansätze in der Realität erleichtert, am besten über Reallabore, in denen beide Welten zusammenarbeiten. Wir werden in der Praxis den „Schutzraum“ der Normung verlassen müssen und Ideen in einem kontrollierten Umfeld mit der Möglichkeit des Scheiterns erproben. Sonst werden wir es nicht schaffen, die notwendigen Lösungen unter dem gebotenen Zeitrahmen in die Umsetzung zu bringen.

Was würden Sie an der Art und Weise, wie Architektur heute gelehrt und praktiziert wird, ändern? 

Am KIT arbeiten wir stark daran, die Lehre praxisorientierter zu gestalten. Das halte ich als Handwerkerin für enorm wichtig. Als Architekt*innen planen wir ja nicht nur, sondern wir müssen auch die Umsetzung, ob handwerklich oder industriell, mitdenken. Daher freut es mich, dass das KIT den Studierenden zahlreiche Möglichkeiten bietet, Projekte umzusetzen. Diese werden mit großem Interesse angenommen. Die Lernkurve ist enorm. Wenn ich auf der „Baustelle“ stehe, Herausforderungen 1:1 erlebe und dafür eine Lösung entwickeln muss, erlange ich ein ganz anderes Verständnis für die Probleme, die auftreten können. Aber auch andersherum, wenn etwas richtig gut geplant ist, dann merken die Studierenden das sofort in der Umsetzung. Zudem kann man die Studierenden viel einfacher für die Themen begeistern und diese vermitteln, wenn die Lehre anschaulicher gestaltet wird. 90-minütige, frontale Wissensvermittlungen kommen heute nur bedingt gut an.

Als Fakultät versuchen wir aber auch, die Studierenden stärker in die Forschung einzubinden. Das kann über Seminar-, Bachelor- oder auch Masterarbeiten erfolgen, in denen Teilaufgaben der Projekte von den Studierenden bearbeitet werden. Auch wenn der Ausgang offen ist, ergibt sich in den meisten Fällen eine Win-win-Situation für alle Beteiligten. Zudem machen wir die Studierenden zu Botschafter*innen der Themen, da sie die Informationen über ganz andere Kanäle in ihren Netzwerken verbreiten.