Ein paar Fragen an: An Fonteyne

An Fonteyne ist seit 2017 Professorin für Architektur und Entwurf am Lehrstuhl „Affective Architectures“ der ETH Zürich. Zuvor lehrte sie bereits an der TU Delft sowie an der Universität Hasselt. Sie ist Mitgründerin des belgischen Architekturbüros noAarchitecten. Wir sprachen mit ihr über ihre besondere Herangehensweise in Lehre, Forschung und Praxis: Übersehenes entdecken, die Verantwortung, für andere zu denken und zu planen, das kontinuierliche Lernen, aber auch das Verlernen. 

Was umfasst der Begriff „Affective Architecture“ und wie vermitteln Sie ihn an Ihre Studierenden?

Affective Architectures – wir sprechen hier bewusst im Plural. Wir finden es wichtig, Bewusstsein für die Auswirkungen von Gestaltungsgesten und räumlichen Entscheidungen zu schaffen. Wir betrachten Architektur nicht nur für das, was sie ist, sondern auch für das, was sie tut: Wir erkennen sie als aktive soziale und kulturelle Kraft an und reflektieren über die Handlungsfähigkeit des Architekturschaffenden.

Diese Definition ermöglicht uns eine bestimmte Perspektive, aus der wir mit den Studierenden und untereinander diskutieren. Wir verstehen Architektur als Akt des Komponierens mit dem, was – und wer – bereits da ist. Architektur operiert innerhalb einer komplexen Realität, an der mehrere Akteur*innen beteiligt sind. Wir widmen uns dem Zwischenraum, dem Alltäglichen, dem scheinbar Langweiligen. Wir streben danach, aus der Vielfalt der gebauten Umgebung zu lernen, wie sie von den Menschen bewohnt, angepasst oder angeeignet wird.

„How do we design spaces for dwelling, for encounter, for intimacy – how do we design for people we don’t know and might never know?“ An Fonteyne

Während der Pandemie haben wir neue Unterrichtsmethoden ausprobiert. Anstatt uns auf Online-Tools zu konzentrieren, haben wir unsere Art des Zusammenseins mit den Studierenden vom Klassenzimmer nach draußen in den öffentlichen Raum verlegt. Das hat uns dauerhafte Einsichten über den Mehrwert des integrierten Unterrichts, über die Diskussion des Forschungs- und Designthemas unmittelbar vor Ort sowie den Austausch mit Nutzer*innen und Passant*innen geboten. Es hat dazu geführt, dass wir uns mit Orten beschäftigen, die wir bewohnen oder immer wieder besuchen können. „Plurale“ Architekturen bieten die Möglichkeit, nicht nur von den klassischen Beispielen zu lernen, sondern auch von Orten, die im Laufe der Zeit gewachsen sind, oder von Aneignungen, die von den Nutzer*innen selbst vorgenommen wurden.

Wie ergänzen sich Ihr Lehrstuhl und Ihre Forschungsabteilung „Department of the Ongoing“? 

Das „Department of the Ongoing“ fungiert als „critical friend“ des Lehrstuhls. Wir bezeichnen es als „shadow department“. Es bringt andere Referenzen und Stimmen an den Tisch und erweitert unser Verständnis bestimmter Themen. Wenn wir zum Beispiel über Typologien sprechen, demonstriert uns das Departement oft übersehene Beispiele, solche, die nie auf dem Tisch von „praktizierenden“ Architekt*innen landen. Oft handelt es sich dabei um Nutzer*innen und Nutzungen, die unter dem Druck der Gentrifizierung verschwinden, oder die nicht auf der Karte marktorientierter Entwicklungen verzeichnet sind. Aber sie sind entscheidend dafür, dass unsere Städte lebendige Orte sind, die gut funktionieren.

Das „Department of the Ongoing“ arbeitet auch auf der Ebene des Architektur-Departements und trägt unter anderem zur Erstellung eines neuen Verhaltenskodex für die gesamte Schule bei. Es bietet unter anderem ein Wahlfach an, das sich intensiv mit „The Undercommons“, einem Buch von Moten und Harney, beschäftigt. Es produziert einen Podcast, der eine Plattform für die erstaunlichen, aber oft unsichtbaren Forscher*innen unserer Schule bietet, und unterstützt ein Wahlfach, das vollständig von Studierenden getragen wird.

Ihre Herangehensweise an das Unterrichten ist oft interdisziplinär. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse und Gewinne?

Architektur ist eine Disziplin, die nicht isoliert praktiziert wird. Ich selbst habe immer eine starke Beziehung zu anderen Künsten empfunden – Malerei, Skulptur, Theater, Tanz, Literatur – und es ist interessant, sie im Unterricht miteinander ins Gespräch zu bringen. Der schönste Weg, dies zu tun, ist durch Zusammenarbeit. Um nur einige Beispiele zu nennen, haben wir den Maler Benoit van Innis eingeladen, die Architektur in den Fresken von Giotto in Assisi zu untersuchen. Wir haben Marrakesch mit dem Tänzer Radouan Mriziga besucht, um die Stadt mit unseren Körpern zu lesen, wir haben Charaktere aus sieben Büchern mit dem Schriftsteller Edzard Mik entwickelt, und wir haben mit dem Bühnenbildner Jozef Wouters „laut gebaut“.

Inwieweit spiegelt sich Ihre Lehre in Ihrer Praxis und umgekehrt wider?

Dazwischen besteht ein ständiger Austausch. Meine Praxis, die rund 25 Personen umfasst, ist eine Zusammenarbeit mit vielen Architekt*innen – noAarchitecten wird seit mehr als 20 Jahren von drei Partner*innen (Philippe Vierin, Jitse van den Berg und mir) geleitet. Für viele Projekte arbeiten wir auch mit anderen Architekt*innen, Designer*innen, Künstler*innen oder Handwerker*innen zusammen.

Unsere Projektarbeit am Museum KANAL hat eine Reihe von Fragen aufgeworfen, die ein Interesse an Architektur und Empathie ausgelöst und die Mehrdeutigkeit des „Denkens für andere“ aufgezeigt haben. Mir wurde klar, dass wir als Architekt*innen so viele Annahmen darüber machen, wie Menschen von privaten und öffentlichen Räumen beeinflusst werden, dass ich das Bedürfnis hatte, dies aus anderen Perspektiven genauer zu erforschen. Es hat unter anderem mit Vorstellungen davon zu tun, im öffentlichen Raum unsichtbar zu sein – manchmal bedeutet dies den Wunsch, im Hintergrund zu verschwinden oder gar „unsichtbar gemacht“ zu werden. Als Gestalterin möchte ich den Einfluss von Raum auf verschiedene Nutzer*innen besser verstehen. Und das bringt uns zurück zum „Department of the Ongoing“.

Während Sie in der Vergangenheit hauptsächlich in Belgien gebaut haben, haben Sie kürzlich Ihr erstes Projekt in der Schweiz abgeschlossen. Wie gehen Sie an die Arbeit in einer unbekannten Umgebung heran?

Wir haben immer bevorzugt, zuerst „in der Nähe von zu Hause“ zu bauen. Das Verständnis für Materialien, Baugewohnheiten, den Standort, die Menschen und die Nähe zum Prozess ist sehr wertvoll. Wir haben in der Tat ein großes Projekt mit 100 Wohnungen in der Nähe von Luzern abgeschlossen und arbeiten derzeit an mehreren Projekten in Deutschland. Wichtig ist, zu verstehen, wo und für wen wir entwerfen und wie der Bauprozess funktioniert. Dies kann mit Überraschungen verbunden sein, und Zeit hilft immer.

Was würden Sie an der Art und Weise, wie Architektur heute gelehrt und praktiziert wird, ändern?

Es gibt viele Möglichkeiten des Unterrichts und viele Möglichkeiten der Praxis. Das zu sagen, ist ein erster Schritt zur Veränderung. Das Denken und Arbeiten in der Architektur umfasst viele Verantwortlichkeiten – von der Neudefinition von Regeln und Vorschriften, dem Überdenken städtischer Realitäten und produktiver Landschaften über Politik bis hin zur Entwicklung, dem Entwurf und der Konstruktion eines architektonischen Projekts. All diese Aspekte erfordern intelligente und kritische Köpfe. Eine Ausbildung sollte dies anerkennen und an den Wert der Synergie zwischen allen an der Gestaltung unserer Welten beteiligten Menschen glauben.
 
Darüber hinaus würde ich sagen, dass das Verlernen genauso wichtig ist wie das Lernen. Es ist klar, dass sich die Bauindustrie, unter Einbeziehung aller Profile, die ich zuvor erwähnt habe, dramatisch verändern muss. Wir haben jetzt noch keine Antworten, aber gemeinsam Fragen zu formulieren ist sehr nützlich. Das Verständnis dafür, dass das Studium weder mit dem Eintritt in die Universität beginnt, noch mit dem Abschluss endet, ist wahrscheinlich die wichtigste Lektion für uns alle. Wir lernen und sollten ständig und überall offen für Lernen sein, selbst in vermeintlich uninteressanten Umgebungen.