„Ist uns der Gesundheitsschutz vieler Menschen wichtiger oder der Fahrspaß einzelner? Solche Fragen müssen wir als Gesellschaft diskutieren.“

Deborah Fehlmann ist Architektin und Autorin. Nach dem Studium arbeitete sie in verschiedenen Architekturbüros und absolvierte den Master of Advanced Studies in Geschichte und Theorie der Architektur an der ETH Zürich. Von 2019 bis 2022 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am IKE (Institut Konstruktives Entwerfen) der ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften). In dieser Funktion leitete sie den Forschungsschwerpunkt zum Bauen im Lärm, dem unter anderem das Projekt „Integrativer Lebensraum trotz Lärm“ angehört. Seit 2022 ist sie Redakteurin bei der Schweizer Architekturzeitschrift Hochparterre. Wir haben ihr einige Fragen zu ihrer Forschung, ihrem Buch und ihrer Arbeit als Redakteurin gestellt.

In Ihrem Forschungsprojekt an der ZHAW beschäftigten Sie sich mit Wohnungsbau in lärmbelasteten Lagen. Warum ist das aus Ihrer Sicht derzeit ein wichtiges Thema? Was interessiert Sie besonders daran?

Die Wissenschaft definiert Lärm gemeinhin als „störenden oder gesundheitsschädigenden Schall“. Das klingt erst einmal sehr trocken. Doch Lärm ist mehr als bloß ein naturwissenschaftliches Phänomen. Er ist Folge und Ausdruck unseres Zusammenlebens: Das Bedürfnis unserer Gesellschaft nach Mobilität verursacht Verkehrslärm. In Restaurants, Bars oder Discos, in Sportstätten, auf Spielplätzen – fast überall, wo Menschen zusammenkommen, entsteht Lärm. Jede*r gehört wohl ab und an zu den Lärmverursacher*innen. Zugleich möchten wohl die meisten von uns vor übermäßigem Lärm der anderen geschützt werden. Je dichter die Menschen zusammenleben und je mehr sich die individuellen Aktivitäts- und Ruhezeiten zueinander verschieben, desto häufiger führt das zu Reibungen. Um die Lebensqualität in dichten Siedlungsgebieten zu erhalten, müssen Ruheinseln und Rückzugsräume, aber auch laute Orte aus meiner Sicht viel bewusster geplant, entworfen und geschützt werden, als dies derzeit geschieht – eine Herausforderung, die bei der Raumplanung anfängt und bis ins architektonische Detail geht.

Wie beeinflussen sich Lärm und Wohnungsbau gegenseitig? Welche Folgen hat Lärm für das Aussehen unserer Städte?

In der Schweiz ist das Bauen an lärmbelasteten Lagen seit den 1980er-Jahren gesetzlich geregelt. Damals sagte man: Wo viel Lärm herrscht, soll grundsätzlich niemand wohnen. Deshalb verbietet es das Gesetz bis heute, Wohnräume mit Fenstern gegen laute Straßen oder Bahnlinien zu erstellen. Aus gesundheitlicher Sicht ist das sinnvoll, denn starke Lärmbelastungen sind lästig und begünstigen Krankheiten wie Diabetes oder Herzinfarkte. Im Stadtbild treten die Folgen dieser Regelung aber zunehmend negativ in Erscheinung. Es sind Bauten entstanden, die zur Straße kaum Fenster besitzen. Während die Gebäude sich zu früheren Zeiten dem öffentlichen Raum mit ihrer schönsten Fassade zuwandten, wirken die Neubauten abweisend. Entlang von Autobahnen mag das gehen, doch lebendige, innerstädtische Straßen drohen so allmählich zu veröden.

Mit der Siedlungsentwicklung nach innen hat sich das Problem in den letzten Jahren zugespitzt. Wir bauen kaum mehr auf der grünen Wiese, sondern dort, wo es bereits laut ist – auf innerstädtischen Restflächen oder ehemaligen Industriearealen zum Beispiel. Das ist gut so. Städtische Dichte schont die unverbaute Landschaft und ermöglicht kurze Wege. Das führt zu weniger motorisiertem Verkehr und verringert damit letztlich auch den Lärm. Mit der zunehmenden Dichte werden gute Bauten und attraktive öffentliche Räume für die Lebensqualität aber umso wichtiger. Die Frage, ob und wie wir künftig an lärmbelasteten Lagen bauen sollen, muss deshalb neu verhandelt werden. Mit in diese Diskussion gehört auch die Frage nach der Lärmminderung. Zum Beispiel wären Temporeduktionen in dicht besiedelten Gebieten ein günstiges Mittel, um die Anzahl an lärmbetroffenen Personen deutlich zu senken. Ist uns der Gesundheitsschutz vieler Menschen wichtiger oder der Fahrspaß einzelner? Solche Fragen müssen wir als Gesellschaft diskutieren.

Was hat Lärm mit gesellschaftlicher Teilhabe und Verdrängungsmechanismen zu tun? Wie kann man dem architektonisch entgegenwirken?

Noch vor hundert Jahren galten Hauptstraßen und Kreuzungen als bevorzugte Wohnlagen, denn dort konnten sich die Wohlhabenden der Öffentlichkeit präsentieren. Mit der Verbreitung des motorisierten Individualverkehrs Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts änderte sich das. Wer es sich leisten konnte, zog in ruhigere, weniger von Abgasen belastete Gegenden. An den Verkehrsachsen lebten fortan vor allem Menschen mit bescheidenen finanziellen Möglichkeiten. Besonders stark belastete Orte gerieten teils in eine regelrechte Abwärtsspirale: Die Mieteinnahmen waren tief, also investierten die Hauseigentümer*innen kaum mehr in den Unterhalt ihrer Liegenschaften, was der Gegend ein schlechtes Image einbrachte und so weiter. In Zürich ist die Weststraße ein prominentes Beispiel für einen solchen Niedergang. Ab den 1970er-Jahren führte dort eine innerstädtische Transitstrecke entlang, täglich bildeten sich lange Staus. Mit der Eröffnung einer Umfahrungsstraße 2009 wendete sich das Blatt. Heute gilt auf der Weststraße Tempo 30, Häuser und Außenraum sind gepflegt, die Wohnungen beliebt. Das ist zwar gut, doch die Aufwertung ging mit der Verdrängung von finanziell schwachen Haushalten einher.

Man kann zwar nicht generell sagen, dass wohlhabendere Menschen heute in ruhigen Gegenden wohnen. Zentrale Wohnlagen sind beispielsweise aufgrund ihrer guten Verkehrsanbindung oder einem großen Dienstleistungs- und Konsumangebot auch bei gut Verdienenden beliebt. Sicher haben sie aber mehr Möglichkeiten, sich vor Lärm zu schützen. Sie bewohnen erstens eher sanierte Gebäude oder Neubauten mit schallisolierenden Fenstern und mechanischen Raumlüftungen. Zweitens haben sie bessere Chancen auf einen Wohnungswechsel, wenn ihnen die Lärmbelastung zu viel wird. Und drittens verfügen sie tendenziell über mehr Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen. Das zeigt sich beispielsweise beim Thema Fluglärm, der in der Schweiz auch teurere Wohngegenden betrifft. Obwohl viel weniger Menschen von Fluglärm betroffen sind als von Straßenlärm, gelingt es den Fluglärmbetroffenen besser, Politik und Medien für ihre Anliegen zu mobilisieren. Das Problem geht also weit über die Architektur hinaus und ist eng verknüpft mit Fragen der Raumplanung, der Soziologie, der Wohnbau- und Verkehrspolitik. Deshalb plädieren wir auch dafür, es interdisziplinär anzugehen.

In dem Buch „Wohnen im Einklang“, das Sie gemeinsam mit Prof. Astrid Staufer herausgegeben haben, sprechen Sie von Klangraumgestaltung. Was genau meinen Sie damit?

Die Klangraumgestaltung befasst sich mit der akustischen Qualität von Außenräumen. Wir alle wissen aus eigener Erfahrung: Ob wir uns an einem Ort wohlfühlen oder nicht, hängt mit visuellen Aspekten, mit der Temperatur und mit Gerüchen, aber auch mit der Akustik zusammen. Entscheidend für die akustische Aufenthaltsqualität ist nicht nur, ob es laut oder leise ist. Genauso möchten wir uns beispielsweise auf der Straße akustisch orientieren oder mit unserem Gegenüber auf der Parkbank eine Unterhaltung führen können. Die Form und Materialisierung der uns umgebenden Flächen hat darauf einen großen Einfluss, da sie den Schall absorbieren, reflektieren und streuen. Mit entsprechendem Wissen können wir uns Bodenbeläge und Fassaden, Terrainverläufe und Bepflanzungen also zunutze machen, um die Akustik eines Ortes in die gewünschte Richtung zu steuern.

Im Detail ist die Klangraumgestaltung eine Wissenschaft für sich. Zwei Faustregeln scheinen mir aber gerade für Architekt*innen und Landschaftsarchitekt*innen spannend. Erstens: Visuell monotone Umgebungen klingen auch monoton, während eine Vielfalt an Formen und Materialien auch zu einer vielfältigen und damit angenehmeren Akustik führt. Zweitens: Versiegelte Böden reflektieren den Schall, natürliche Böden sind dagegen gute Absorber. Zudem empfinden Menschen Naturgeräusche wie plätscherndes Wasser, Blätterrauschen und Vogelgezwitscher als angenehm. Die Akustik liefert also gute Argumente für mehr Natur und Vielfalt in der Stadt!


Derzeit sind Sie als Redakteurin bei der Hochparterre tätig. Wie fließen Ihre Erfahrungen aus Lehre und Forschung in Ihre redaktionelle Arbeit ein?

Lärm und Akustik begleiten mich als Themen weiterhin. Zurzeit berät das Schweizer Parlament beispielsweise über eine Revision der Lärmschutzvorschriften. Ich verfolge die Debatte mit und melde mich mit journalistischen Beiträgen zu Wort. Nachhaltiger als die Inhalte meiner Forschung prägte mich aber wohl das wissenschaftliche Arbeiten an sich. Umfassende Recherchen und präzise Argumentationen gehen mir vergleichsweise leicht von der Hand. Mich kurzzufassen, nur einen einzelnen Aspekt eines Themas zu beleuchten oder mit verschiedenen Textsorten zu experimentieren, fällt mir schwerer. Doch genau diese Vielfalt an Möglichkeiten, Wissen zu vermitteln und Diskurse anzustoßen oder mitzugestalten, gefällt mir am Journalismus.