Intuitiv entwerfen: Anna Heringer über materielle Sinnlichkeit

Anna Heringers Werk ist zum Maßstab für gesundes und gemeinwohlorientiertes Bauen geworden. Ihre Vorliebe für den Baustoff Lehm – weil es nicht nur eine pragmatische, sondern auch eine emotionale Entscheidung ist – lebt sie sowohl in der Praxis als auch in Lehre und Forschung. Mehr dazu in unserem Interview.

Auf Ihrer Website präsentieren Sie Ihre Arbeit durch Handzeichnungen und Tonmodelle mit weichen Kanten. Wie läuft die Arbeit in Ihrem Büro an einem konkreten Projekt ab?

Im Büro entwerfen wir tatsächlich an großen Tonmodellen. Erst später setzen wird die Arbeit digital fort. Das Modell bleibt immer feucht, damit wir weiter daran arbeiten können. Wir nehmen es mit zum Denkmalamt und auf die Baustelle. Es sind immer Arbeitsmodelle, keine Präsentationsmodelle.

Entwerfen bedeutet für mich, ständig Entscheidungen zu treffen: Geht man in die Höhe oder eher in die Länge? Ist zu viel Masse auf dem Grundstück? Welche Formensprache braucht das Gebäude? Am Tonmodell erkennt man all das schnell, verliert das Ganze nicht aus dem Blick und kann gleichzeitig im Detail arbeiten. Man verwendet beide Hände, sodass beide Gehirnhälften aktiviert sind. Es ist ein synchroner, ganzheitlicher und intuitiver Prozess, den ich gemeinsam mit Martin Rauch entwickelt habe.

Wie kann man sich Ihre Entwurfslehre vorstellen?

In dieser Informationsfülle müssen wir der Intuition vertrauen, das kann man trainieren. Und das versuche ich, in meiner Lehre zu machen. Vertrauen zu stärken. Im Studium ist man ja gewohnt, von außen beurteilt zu werden. Aber eigentlich spürt man in sich selbst, ob etwas richtig ist oder nicht. Und diesem Gefühl muss man vertrauen lernen.

Ich mache mit den Studierenden Übungen mit geschlossenen Augen, wir erinnern uns an Orte der Kindheit. So beginnen wir oft mit einem Katalog archaischer Muster, die uns beeinflusst haben und integrieren diese später in die Entwürfe.

Gab es eine Erfahrung in der Lehre, die Sie besonders geprägt hat?

Zu Beginn der Flüchtlingskrise haben Martin Rauch und ich gemeinsam an der ETH Zürich unterrichtet. Wir ließen die Studierenden das Thema frei wählen und waren enttäuscht, dass sich kaum jemand mit Flüchtlingsunterkünften beschäftigte. Wir wollten sie also auf das Grundbedürfnis einer sicheren Unterkunft aufmerksam machen. Deshalb buchten wir für die Exkursion Ende Oktober in den Bergen in Vorarlberg keine Übernachtung. Die Herausforderung bestand darin, sich selbst eine Notunterkunft mit den wenigen Ressourcen vor Ort zu bauen. Martin Rauch und ich machten auch mit. Es war grenzwertig, aber es zeigte uns, wie wichtig es ist, räumlich geschützt zu sein. Plötzlich suchte man nicht nach der besten Aussicht, sondern nach Schutz. So lernten wir, dass man eine Notunterkunft nie alleine baut, sondern einander hilft. Diese Erfahrung hat das Team zusammengeschweißt. Es hat uns allen gutgetan.

Warum der Schwerpunkt auf Lehm in der Lehre?

Das Material ist überall und zuallererst vorhanden, an jedem Bauplatz, in jeder Klimazone und auf jedem Kontinent. Aktuell werfen wir den Aushub weg und zahlen noch dafür, ihn zu deponieren. Deswegen bin ich überzeugt, dass Lehm als Baumaterial Bestandteil von Lehrplänen sein muss.

Ebenfalls ist es essenziell, dass Studierende handwerkliche Erfahrung sammeln. Ich kann nur die richtige Materialsprache wählen, wenn ich das Material tatsächlich kenne. Je mehr Erfahrung ich damit habe, desto besser kann ich damit entwerfen. An der Universität Liechtenstein, wo ich aktuell unterrichte, wird in jedem Studio mit verschiedenen Materialien praktisch gearbeitet. In der Region, die an Vorarlberg grenzt, gibt es eine hohe Handwerkskunst. Dort gibt es auch die meiste Innovation, insbesondere dann, wenn Architekt*innen, die Bauherrschaft und Handwerker*innen miteinander auf Augenhöhe arbeiten.

Wie sprechen Sie mit Ihren Studierenden über die Verantwortung, die sie als zukünftige Planende tragen?

Wie wäre es, wenn man jede Entscheidung im Kopf mal acht Milliarden multipliziert und sich fragt, was passieren würde, wenn jeder Mensch auf unserem Planeten auch so entscheiden würde? Vielleicht sind es drei Liter mehr Farbe, die aber milliardenfach ins Grundwasser gelangen. Diese Frage versuche ich mir immer zu stellen und den Studierenden zu vermitteln.

Die Entscheidung für ein Material hat nicht nur ästhetische, statische oder ökologische Konsequenzen, sondern auch soziale. Wer profitiert davon? Wir tragen auch die Verantwortung, dass das Geld aus den Projekten dort landet, wo es Sinn ergibt und zur sozialen Gerechtigkeit beiträgt.

Parallel zu Ihrer Planungstätigkeit forschen Sie auch. Sie waren unter anderem Loeb Fellow der Harvard GSD. Was ist Ihr wissenschaftlicher Antrieb? Auf welche Art von Innovation sind Sie ausgerichtet?

Für mich ist die angewandte Forschung essenziell. Ich bleibe mit den Gebäuden und den Gemeinschaften über Jahrzehnte in Verbindung und beobachte, wie sie sich entwickeln. Nur so kann ich aus Fehlern lernen. Ich möchte die Trugbilder dieser vermeintlichen „Instagram-Architektur“ demaskieren und mich darauf konzentrieren, welche Architektur eine Gemeinschaft glücklich macht.

Portraitbild: Anna Heringer, Foto: Gerald v. Foris