Architekturtheorie im Anthropozän: Drei Fragen an Alexander Stumm

Dr. Alexander Stumm ist Redakteur, freier Journalist. Zudem lehrt er Architekturtheorie und Entwerfen an der Universität Kassel sowie Architekturgeschichte an der Vietnamesisch-Deutschen Universität in Ho-Chi-Minh-Stadt. Im Zentrum seiner Arbeit steht die kritische Auseinandersetzung mit den drängenden Fragen des Bauens im Anthropozän.

An welchen Stellschrauben können junge Architekt*innen innerhalb dieses Wirtschaftssystems drehen, um die ökologischen und sozialen Folgen abzumildern – oder gar eine Wende einzuleiten?

Die Publikation „Produktionsverhältnisse der Architektur im Anthropozän“ ist ein polyperspektivischer Blick darauf, wie Architektur effektiv gemacht wird. Im ersten Kapitel geht es um Extraktivismus von Rohstoffen wie Sand oder Zement. Die Herstellung von Zement ist für acht Prozent der weltweiten CO₂-Emissionen verantwortlich. Gleichzeitig ist es das Baumaterial der Moderne – Klimakrise und Bausektor sind also eng miteinander verbunden. Das zweite Kapitel behandelt Arbeitsbedingungen. Nehmen wir die Baustelle: Das globale System wird aufrechterhalten durch migrantische Arbeitskräfte, die prekär bezahlt werden. Sie sind in der Gesellschaft ohnehin marginalisiert und finden fast kein Gehör. Man muss hier von strukturellem Rassismus sprechen. Das dritte und letzte Kapitel setzt sich mit Infrastrukturen auseinander. Es geht um materielle Infrastrukturen wie Free Zones – Zollfreigebiete, in denen die nationale Gesetzgebung zugunsten wirtschaftlicher Interessen teilweise aufgehoben wird –, aber auch um immaterielle Infrastrukturen. Die Architektin, Autorin und Professorin Keller Easterling beschreibt in ihrem Buch Medium Design die Gestaltung der legislativen Grundlagen der Architektur. Protokolle, Normen und Standards definieren zu weiten Teilen, wie Architekt*innen planen und wie Architektur aussieht. Was neutral „Normen“ heißt, sind eigentlich Industrienormen. Große Unternehmen mit politischem Einfluss bestimmen also bei jedem gebauten Produkt mit – und sie haben selbstverständlich wirtschaftliche Interessen, die mehr Gewicht haben als die Lösung ökologischer oder sozialer Probleme.

Das Buch, das auch als Open Access verfügbar ist, entstand aus einem Seminar heraus. Neben mehreren Gastbeiträgen aus der angeschlossenen Vortragsreihe haben auch die Studierenden Texte beigesteuert. Es war und ist für mich sehr besonders zu sehen, wie sich Studierende engagieren, wenn es um relevante Themen unserer Zeit geht. Es zeigt mir: Das Selbstverständnis als großer (männlicher) Genius ist längst vorbei. Als angehende Architektin, als angehender Architekt will man sich mit diesen Themen auseinandersetzen. Das hängt auch damit zusammen, dass sich die Rolle des Architekturschaffenden in den nächsten Jahren fundamental ändern wird.

Sie haben das „Abriss-Moratorium“ initiiert. Warum wird, Ihrer Einschätzung nach, die gängige Praxis des Gebäudeabrisses erst jetzt kritisiert?

Die Bauwende ist eine komplexe Angelegenheit. Es gibt unterschiedliche Ansätze klimagerecht zu bauen: die Verwendung bio-basierter, CO₂-bindender Baustoffe, die Wiederverwendung von Bauteilen, eine aktive und passive Nutzung solarer Energie sowie Dach- und Fassadenbegrünung. Auch können innovative Technologien zur Klimaneutralität beitragen. All das ist wichtig und muss vorangetrieben werden. Nichts aber ist einfacher und zugleich wirkungsvoller, als mit dem schon existierenden Bestand sorgsamer umzugehen. Wenn wir die Abrisspraxis einschränken, reduzieren wir den Bedarf an Baumaterialien, schonen Rohstoffe, sparen Energie und produzieren weniger Abfall. Mitunter begegnen wir sogar sozialen Problemen wie Gentrifizierung und Verdrängung in Ballungsräumen, wo Investoren Gebäude abreißen, um bessere und selbstverständlich teurere Wohnungen verkaufen zu können.

2021 entstanden in Deutschland 230 Millionen Tonnen Bau- und Abbruchabfälle, was 55 Prozent des gesamten deutschen Abfalls ausmacht. 14.090 Gebäudeabrisse wurden statistisch erfasst. Dies entspricht 1,9 Millionen Quadratmetern Wohnfläche und 7,5 Millionen Quadratmetern Nutzfläche. Recherchen des Bundesarbeitskreises Wohnungsmarktbeobachtung vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) deuten nun darauf hin, dass im Bundesdurchschnitt lediglich ein Viertel der tatsächlichen Verluste erfasst werden. Dies liegt daran, dass ein großer Teil der Abrisse nicht genehmigungs-, sondern nur anzeigepflichtig ist und dieser Anzeigepflicht nicht nachgekommen wird. Die Abrisspraxis hat also mit über 50.000 Gebäuden eine deutlich größere Dimension, als wir bisher angenommen haben.

Gleichzeitig ist die Wertschätzung des Bestandes nichts Neues in der Architektur. 2012 widmete sich der Deutsche Pavillon in Venedig den Prinzipien „Reduce, Reuse, Recycle“. Der Soziologe Lucius Burckhardt forderte schon in den 1970er Jahren eine radikale Erhaltung des gesamten Baubestands. Kurz gesagt: Als Architekturschaffende können wir hier nur etwas erreichen, wenn wir politisch agieren. Deshalb der Vorstoß mit dem offenen Brief an Bundesbauministerin Klara Geywitz. Sie ist in der Pflicht, die politischen Parameter für die Baubranche einzustellen, damit eine Bauwende gelingt.

Sie lehren Architekturtheorie und -geschichte. Welche Relevanz schreiben diesem Fachbereich zu und was sind für Sie die zentralen Punkte, die an den Hochschulen überwunden werden müssten?

Architekturtheorie ist eine Möglichkeit, sich ohne politische oder ökonomische Zwänge mit Architektur auseinanderzusetzen. Das kann, muss sich aber nicht mit gestalterischen Aufgaben beschäftigen. Die Aufgabe der Architekturtheorie ist es meines Erachtens, sich den großen Problemlagen des Bausektors im Angesicht von Klima- und sozialen Krisen zu widmen, sie zu benennen und konstruktive Lösungsansätze zu formulieren. Es gibt eine „klassische“ Lehre, bei der – etwas überspitzt formuliert – die Inhalte von Gottfried Semper bis Ludwig Mies van der Rohe reichen. Das nenne ich Themaverfehlung! Die historische Perspektive ist grundlegend, ohne sie können wir die Gegenwart nicht verstehen. Aber sie darf kein Selbstzweck sein. Wir sollten weniger die großen Architekten der Moderne abfeiern (Kill your Darlings!) und stattdessen die gegenwärtigen Strukturen in den Fokus nehmen. Die Produktionsverhältnisse der Architektur sind dafür ein Beispiel: Es geht darum, einen ganzen Schritt zurückzutreten und die Zusammenhänge zu begreifen, die unsere heutige Architekturpraxis definieren. Das hat erstmal nichts mit Formfragen zu tun, aber kann und wird den architektonischen Entwurf dennoch beeinflussen. Architekturtheorie verstehe ich als scharfes Schwert – und als große Freiheit.