„Wir müssen erreichen, dass Ingenieur*innen kreativer und Architekt*innen physikalischer denken.“

Thomas Giel ist Professor für Technisches Gebäudemanagement und Technische Gebäudeausrüstung im Fachbereich Technik & Bauingenieurwesen an der Hochschule Mainz. Im Vordergrund seiner Lehre und in seinen praxisorientierten Forschungsprojekten steht die Behaglichkeit des Menschen und die Frage danach, weshalb wir genau jetzt interdisziplinär und „Einfach BAUEN!“ müssen. Ein inhaltsreicher Beitrag für alle, die die Energiewende als Teamarbeit verstehen. 

Sie fordern, dass wir als Planer*innen „Einfach BAUEN!“. Was steckt, insbesondere bezogen auf Energieeinsparung und Gebäudetechnik, hinter dieser Agenda?

Hinter „Einfach BAUEN“ verstehe ich ein funktionierendes System zwischen den einfachen physikalischen Zusammenhängen vom System Gebäude bezogen auf Nutzung und Umfeld ohne aufwendige Technik. Gebäude funktionieren nur, wenn sie als ein in sich funktionierendes System betrachtet werden. Dafür müssen die Wechselwirkungen zwischen Heizungs-, Lüftungs- und Klimaprozessen mit bauphysikalischen und architektonischen Aspekten erkannt werden, um an der richtigen Stelle den Hebel für die Energieeffizienz anzusetzen! Für eine erste Einschätzung reicht es oft, die einfachen physikalischen Zusammenhänge vom System Gebäude zu verstehen. Ausgangspunkt dabei ist der Begriff „Thermische Behaglichkeit“. Wenn das im Fokus steht, lässt sich die Gefahr, dass ein Gebäude nicht funktioniert und mit viel Energie falsch betrieben wird, so gut wie ausschließen.

Wie vermitteln Sie Ihren Studierenden, zum Thema Energie und Raumklima zu planen?

Das ist nicht in einem Satz zu beantworten. Der Schwerpunkt liegt immer auf dem Menschen, der Behaglichkeit, der eigentlichen Nutzung und der Lage des Gebäudes. Die Nutzung des Gebäudes wird als erste analysiert, wodurch schon bestimmte Konzepte ausgeschlossen werden können. Danach wird die Lage geprüft. Daraus ergeben sich die Möglichkeiten, die richtigen Baukästen zusammenzusetzen. Es ist wichtig, dass die angehenden Ingenieur*innen die Bausteine zu den einzelnen Konzepten und den unterschiedlichen Umfeld-Möglichkeiten kennen, um sie richtig zusammenzufügen. Eine wichtige Frage ist dabei immer auch die Unterscheidung zwischen den Energieübertragungssystemen (Wärmepumpen, Heizen und Kühlen bzw. Warmwasser) und Energieerzeugungssystemen (kalte Nahwärmequelle). Unter Energieübertragungssystemen versteht man allgemein die im Gebäude vorhandene Technik, um die notwendige Heiz- und Kühlenergie im Gebäude zu veredeln und zu übertragen. Sie hängt stark von der Nutzung und der Qualität des Gebäudes ab. Des Weiteren spielt der Komfortbedarf eine entscheidende Rolle: Welche Geschwindigkeit ist bei der Energieübertragung, also bei einem Lastwechsel, notwendig? Welcher Komfort wird angestrebt hinsichtlich der Genauigkeit der Temperaturen, die im Gebäude gehalten werden müssen? Und wer kümmert sich in der Einstallung um das Gebäude? Für alle diese Fragen müssen die zukünftigen Ingenieur*innen Lösungsansätze entwickeln und analysieren, um die letztendlich reguläre Energieübertragung und das dazu passende Energiekonzept zu kombinieren.

Wie betrachten Sie die akademische Entwicklung, und wie könnte in diesem Kontext ein interdisziplinäres Feld von Studierenden der Architektur und des Ingenieurwesens aussehen?

Die Energiewende kann nur durch alle Beteiligten im Team gelöst werden. Wichtig ist auch, sehr früh das interdisziplinäre Planen zu erlernen. Dazu gehört, dass wir früh in den Disziplinen auf Augenhöhe zusammenarbeiten und projektorientiert anstatt wissensbasiert lehren. Der Planungsprozess muss unter den Beteiligten vertikal und ergebnisoffen gedacht und gelebt werden. Energetisch gesehen, liegt derzeit das Schwergewicht der wissenschaftlichen und politischen Diskussion und somit leider auch die Diskussion in der Ausbildung auf Effizienzmaßnahmen, also insbesondere auf der energetischen Sanierung von Gebäuden. Richtig ist, dass es gewaltiger Anstrengungen bedarf, den Endenergieverbrauch für Gebäude bis zum Jahr 2045 um über 50 % reduzieren. Richtig ist aber auch, was uns schon lange vor dem aktuellen Angriffskrieg in der Ukraine klar war, dass der CO₂-Gehalt des verbleibenden Wärmebedarfs weitestgehend dekarbonisiert werden muss, da nur so die CO₂-Ziele für den Gebäudesektor erreicht werden können. Energiewende im Gebäudebereich heißt also nicht, nur Wärmedämmung auf vorhandene Gebäude oder vorhandene Entwürfe zu bringen. Energiewende heißt auch, beherzt auf CO₂-arme neue Konzepte und Technologien sowie Energieoptimierung im Neubau und vor allem im Bestand zu setzen. Dazu muss man technisch und gestalterisch ein Gebäude verstehen. Um diese Fähigkeiten zu haben, bedarf es Wissen aus der Entwicklung, dem Bau, der Inbetriebnahme sowie dem Betrieb von Gebäuden und Immobilien. Der Lebenszyklus und die CO₂-Bilanz über diesen kompletten Zyklus müssen in der vertikalen Idee interdisziplinär gedacht und unter den unterschiedlichen Beteiligten ergebnisoffen diskutiert werden. Wir müssen erreichen, dass Ingenieur*innen kreativer und Architekt*innen physikalischer denken. Sie müssen sich bereits bei der Projektentwicklung ergänzen. Wie eingangs beschrieben: Die Energiewende kann nur im Team gelöst werden.

Welche Ansätze verfolgen Sie in ihren aktuellen Projekten, und wie können diese konkret umgesetzt werden?

Wir versuchen, in unserem aktuellen Projekt die Idee des „Energiesprong“ (auch serielle Sanierung genannt) mit der kalten Straßenwärme zu kombinieren. Dabei handelt es sich bei unserem ersten Projekt um eine in den 30er Jahren gebaute Arbeitersiedlung. Der Begriff „Energiesprong“ kommt aus Niederlanden und bedeutet „Energiesprung“. Das Prinzip wurde 2013 in den Niederlanden entwickelt und wird dort schon tausendfach umgesetzt. Serielles Sanieren bedeutet für uns die energetische Ertüchtigung von bestehenden Gebäuden unter Verwendung industriell vorgefertigter Fassaden- bzw. Dachelementen. Dies schließt die damit verbundene Anlagentechnik (z. B. Wärmepumpenmodule in Kombination mit kalter Nahwärme) sowie deren Montage an bestehenden oft bewohnten Gebäuden ein. Unter der kalten Straßenwärme verstehen wir ein Netz aus ungedämmten Erdwärmeleitungen in Kombination mit Erdwärmesonden. Die Energie aus dem Wärmeträgermedium wird über Bohrfelder, die an unterschiedlichen Standorten im Netz untergebracht werden können, erzeugt. Die in diesen Bohrfeldern gewonnene Energie wird über eine Ringleitung zu den einzelnen Verbrauchern geführt. Die Gebäude der einzelnen Verbraucher docken an diese Ringleitung an. Alle Wärmepumpen in den jeweiligen Häusern werden somit mit dem in den Ringleitungen zirkulierenden Wärmeträgermedium versorgt. Wie oben schon beschrieben, muss ein Großteil unserer Bestandsgebäude bis 2045 saniert werden. Anzahl und Geschwindigkeit der Sanierungen sind derzeit weit unter den gesteckten Zielen. Die aktuelle Sanierungsrate stagniert bei rund einem Prozent, notwendig ist mindestens das Dreifache! Das hat vielfältige Gründe. Bei Mehrfamilienhäusern reichen sie von aufwendigen Planungen und hohen Investitionen bis hin zu geringer Akzeptanz seitens der Mieter, die dadurch steigende Kosten erwarten. Oder es fehlen verfügbare, qualifizierte Fachkräfte, zur Umsetzung der Maßnahmen. Wir benötigen also dringend neue Sanierungslösungen, die einfacher, schneller und wirtschaftlicher als bisherige Ansätze sind. 

Ein wichtiger Baustein hierfür ist die zuvor erwähnte serielle Sanierung nach dem „Energiesprong-Prinzip“, die derzeit in mehreren europäischen Ländern weiterentwickelt wird. Mit diesem neu digitalisierten Bauprozess, vorgefertigten Elementen und einem innovativen Versorgungskonzept werden Gebäude innerhalb kürzester Zeit auf einen „NetZero-Standard“ gebracht, bei dem sie im Jahresmittel so viel erneuerbare Energie erzeugen wie insgesamt für Heizung, Warmwasser und Strom benötigt wird. So können Klimaschutz und bezahlbares Wohnen vereint und energetische Sanierungen zügig in der Breite umgesetzt werdeb. Wie das geht, ist in den Skizzen beschrieben.