„Modelle aus dem 19. Jahrhundert waren ebenso vielseitig wie heutige. [...] Ein wichtiges Kriterium war dabei die „Wahrhaftigkeit“ der Materialien, Maßstäbe und Perspektiven. Vergleicht man dies mit heute, ist es nicht schwer, Parallelen zu sehen.“

Architekturmodelle faszinieren. Das war auch schon im Viktorianischen London der Fall. Zu diesem Thema forscht Dr. Matthew Wells an der Universität Manchester und davor an der ETH Zürich. Warum sich der Blick in die Vergangenheit lohnt, erzählte er uns im Interview.

In deinem Buch „Modelling the Metropolis“ beleuchtest du die Bedeutung von Architekturmodellen im viktorianischen London. Warum waren Modelle damals so wichtig?

Im 19. Jahrhundert wurde London mehr umgebaut und verändert als je zuvor in seiner Geschichte, was sich auf seine Gebäude, Stadträume und Infrastruktur auswirkte. Mein kürzlich erschienenes Buch „Modelling the Metropolis“ untersucht, wie architektonische Modelle diese Veränderungen vorstellbar machten, als Londons Vergangenheit und Gegenwart durch die Kräfte der Moderne neu geformt wurden. Während dieser Umgestaltung spielten Modelle eine zentrale Rolle in der Interaktion zwischen Architekt*innen, Politiker*innen und der breiten Öffentlichkeit.

Ob als Erklärungshilfe beim Bau neuer öffentlicher Gebäude, in privaten Debatten oder in Ausstellungen – Architekturmodelle ermöglichten es dem Publikum, sich verschiedene Realitäten vorzustellen und Diskussionen über das gegenwärtige und zukünftige Aussehen Londons zu führen. Auf der Baustelle, im Klassenzimmer oder in einer öffentlichen Ausstellung bildeten Modelle die Grundlage für soziale Interaktionen zwischen verschiedenen Disziplinen und Gruppen. Die Ausweitung der Baugesetzgebung in Europa führte außerdem zu einer Zunahme von Rechtsstreitigkeiten im Bauwesen. Dies hatte zur Folge, dass eine neue Art von Modellen in den Londoner Gerichtssälen auftauchte. Über diese forensischen Eigenschaften hinaus wurden Modelle zu einer beliebten Möglichkeit für das Publikum, mit der gebauten Umwelt auf den großen Ausstellungen des 19. Jahrhunderts zu interagieren. Hier kamen sie vor allem zur Darstellung historischer und kolonialer Landschaften zum Einsatz.


Der Fokus deiner Forschung liegt auf Europa und Großbritannien des 19. Jahrhunderts. Warum fasziniert dich diese Epoche besonders?

Aus architekturhistorischer Perspektive birgt das 19. Jahrhundert wichtige Themen, die uns bis heute begleiten. Zum Beispiel haben die großen Veränderungen in der Bau- und Kommunikationstechnologie sowohl die Architektur als auch die Gesellschaft insgesamt beeinflusst. Die Abkehr von traditionellen Bautechniken sowie das Aufkommen neuer, mit Kohlenstoff betriebener Technologien bedeutete, dass Architekt*innen neue Arten von technischem Wissen benötigten. Diese neuen Wissenszweige waren mit der Entstehung und Formalisierung des Architekt*innenberufs in Europa verbunden.

Unterstützt wurde diese Formalisierung wiederum durch neue Medien, insbesondere durch Architekturzeitschriften, die mit dem Aufkommen einer demokratischen Politik verbunden waren. Populismus, Nationalismus und internationale Agenden (beispielsweise koloniale Expansion) beeinflussten, wie und wo Architekt*innen arbeiteten. Die logistischen und infrastrukturellen Beziehungen zwischen Stadt und Land bzw. Kolonie und Metropole erforderten neue Bautypologien und neue Rollen für den Architekten in der Gesellschaft.

Wie unterscheiden sich Architekturmodelle aus der viktorianischen Ära von zeitgenössischen?

Modelle aus dem 19. Jahrhundert waren ebenso vielseitig wie heutige. Geht man von den erhaltenen Exemplaren, studentischen Handbüchern und Vorlagenzeichnungen aus, dienten Architekturmodelle auch damals schon der Übersetzung, Interpretation und Übermittlung von Ideen. Als Materialien wurden Gips, Pappe, Metall und Holz verwendet. Architekt*innen und Modellbauer*innen fertigten maßstabsgetreue Modelle von Räumen, Gebäuden und sogar ganzen Stadtteilen an. Diese wurden anschließend von Journalist*innen, Politiker*innen und Architekt*innen diskutiert. Ein wichtiges Kriterium war dabei die „Wahrhaftigkeit“ der Materialien, Maßstäbe und Perspektiven. Vergleicht man dies mit heute, ist es nicht schwer, Parallelen zu sehen. Ähnliche Debatten werden heute in Zusammenhang mit Architekturwettbewerben, Bauanträgen oder dem „korrekten Erscheinungsbild“ von Gebäuden ausgetragen.

Womit beschäftigst du dich darüber hinaus in deinen aktuellen Forschungsprojekten?

Ich arbeite derzeit an zwei neuen Forschungsprojekten. Bei dem ersten Projekt „Things of Modernity“ handelt es sich um eine neue Art der Architekturgeschichtsschreibung basierend auf materieller Kultur. Zusammen mit Laurent Stalder erforsche ich an der ETH Zürich technische Objekte und Netzwerke, die die moderne gebaute Umwelt transformierten. Ziel ist es, moderne Architektur in einer von Synchronisation und Regulation geprägten Kulturgeschichte zu verorten. Dieser Kontext hat die Art und Weise, wie Gebäude entworfen und rezipiert werden, revolutioniert.

Das zweite Projekt, „Lines of Communication“, untersucht die viktorianische Architektur durch die Zirkulation von Kapital, Menschen und Ressourcen weltweit. Es umfasst eine Vielzahl von Gebäudetypologien, darunter Regierungsbüros und Lagerhäuser, Banken und Raffinerien, Minen und Denkfabriken. Es übernimmt Konzepte aus der Medientheorie und der Geschichte des Kapitalismus, um zu zeigen, wie Gebäude und Infrastruktursysteme kombiniert wurden, um die physischen Flüsse von Menschen und Materialien, Energie und Informationen zu lenken. Bei beiden Forschungsprojekten würde ich mich über Anfragen von potenziellen Doktorand*innen freuen, die an ähnlichen Themen interessiert sind.

Welche Kernprinzipien möchtest du deinen Studierenden vermitteln?

Als Architekt und Historiker ist es mein Ziel in der Lehre den Wert der Geisteswissenschaften in der Ausbildung von Architekt*innen zu fördern. Unterrichten bedeutet für mich nicht, eine einfache Abfolge von Fakten zu erzählen oder als rein operative Unterstützung für den Entwurf zu dienen. Ich möchte meinen Studierenden die Vergangenheit als einen Ort anbieten, von dem aus sie die scheinbar neutralen Kategorien, die das zeitgenössische Leben prägen, entpacken können. Dies soll sie dazu befähigen, durch eine breite Analyse historischer Städte, Gebäude und Ideen eine kritische Fähigkeit zu entwickeln, die es ihnen ermöglicht, die gebaute Umwelt und die Gesellschaft in einem anderen Licht zu sehen.


Wie integrierst du deine Forschungsergebnisse in den Lehrplan?

Ich betrachte die Lehre als äußerst bereichernd. Die besten Universitäten sind Orte, an denen Forschung und Lehre durch Debatten und Diskussionen miteinander verbunden werden können. In einem Seminar können aktuelle Themen und Methoden diskutiert werden, eine Vorlesung kann die Gelegenheit bieten, eine Reihe von Ideen zu testen oder Fallstudien zu erforschen, während eine Exkursion ein Moment ist, um die gebaute Umwelt persönlich zu erleben und Fragen zu stellen, die sich im Klassenzimmer vielleicht nicht stellen. Meine Tätigkeit an der Universität hat mein Leben verändert und ich empfinde es als absolutes Privileg, gemeinsam mit meinen Studierenden zu lernen.