„Innovation entsteht dort, wo ein Experiment auch mal scheitern darf.“

Prof. Oliver Tessmann leitet das Fachgebiet Digital Design Unit (DDU) an der Technischen Universität Darmstadt. Er berichtet, wie digitale Werkzeuge den Entwurfsprozess beeinflussen und welche Chancen sie für eine nachhaltigere Architekturpraxis bieten.

Sie forschen und lehren im Bereich des computerbasierten Entwerfens und der digitalen Fabrikation. Wie würden Sie diesen Fachbereich beschreiben, und was unterscheidet ihn von „konventionellen“ Entwurfslehrstühlen?

In Lehre und Forschung der Digital Design Unit (DDU) an der TU Darmstadt betrachten wir kreatives Schaffen, computerbasierte Technologie und digitale Fabrikation ganzheitlich. Der Computer ist dann nicht nur ein besserer Zeichenstift. Seine Rechenleistung können wir im Entwurf nutzen: Wir können Formen generieren, wir können Materialsysteme simulieren und damit materialgerechte Formen finden. Der Rechner ist dort stark, wo es viele potenzielle Lösungen gibt und es nicht so einfach ersichtlich ist, welche davon die beste ist. Wenn wir zum Beispiel Bauteile wiederverwenden möchten, müssen diese ja schon mit ihrer spezifischen Form in den Entwurfsprozess einbezogen werden. Der Computer hilft hier, die vielfältigen kombinatorischen Lösungsräume algorithmisch zu durchsuchen. Oder anders formuliert: Er kann aus einem Scherbenhaufen ein Puzzle machen, bei dem die alten Teile ein neues Ganzes ergeben. Fehlt dann am Ende noch ein Teil, digitalisieren wir die Fehlstelle und 3D-drucken es. Damit können wir dem drängenden Thema der Kreislaufwirtschaft in Bauwesen ein gestalterisches Gesicht geben, statt es nur technisch anzugehen.
 
Wie bei allen Entwurfslehrstühlen steht die kreative Arbeit der Studierenden im Zentrum. Uns interessiert dann, wie sich diese Kreativität in dem digitalen Kontext entfaltet. Deshalb vermitteln wir in der Lehre neue Kompetenzen im Bereich parametrische Modellierung, Scripting, grafische Programmierung, 3D-Scannen, 3D-Druck und Robotik. Die Lehre ist sehr eng mit unserer Forschung verknüpft, sodass Lernziele nicht nur für die Arbeit im Architekturbüro qualifizieren. Spannend wird es, wenn sich diese Methodenkompetenz mit den kreativen Ideen unserer Studierenden verbindet, denn letztlich entwerfen Menschen und nicht Computer. 

 

Wie beschreiben Sie Ihr Lehrkonzept, und auf welche Aspekte legen Sie dabei Wert? Was lernen die Studierenden, und welche Methoden tragen Sie an sie heran?

Wir vermitteln zum Beginn des Bachelorstudiums das digitale Handwerkszeug. Studierende erlernen Software, computerbasierte Entwurfsmethoden und die digitale Fabrikation. Dabei haben sich Videotutorials als effektives Lehrmedium herausgestellt. Studierende können zeit- und ortsunabhängig Kompetenzen erlangen und dabei in ihrer eigenen Geschwindigkeit arbeiten. Die Abrufzahlen unserer Videos auf Youtube liegen insgesamt im sechsstelligen Bereich, und das zeigt uns, dass wir hier einen Mehrwert anbieten können, der weit über Darmstadt hinaus genutzt wird. In meiner Bachelorvorlesung versuche ich, die digitalen Themen in einen größeren architektonischen und historischen Kontext zu setzen. Die Kernbotschaft ist hier: Das Entwurfswerkzeug ist nicht egal. Es hatte schon immer einen entscheidenden Einfluss auf des Entwurfsergebnis. Die Serviettenskizze mit dem dicken Bleistift erzeugt ein anderes Ergebnis als das Formen von Ton oder das algorithmische Generieren und Evaluieren von digitalen Geometrien. Gleichzeitig ist das Digitale nicht einfach vom Himmel gefallen, sondern es ist verankert in einer jahrhundertealten Denktradition.
 
Auf dieser Methodenkompetenz basieren anschließende Seminare, Entwurfsstudios und individuelle studentische Forschungsarbeiten. Wir versuchen, in kontinuierlichen Prozessketten von der ersten Idee bis zu ihrer Materialisierung zu entwerfen. Das Entwerfen und das Bauen rücken dabei enger zusammen, weil sich Computermodelle aus der Entwurfsphase nahtlos in die Daten für eine digitale Fabrikation - also 3D-Druck, CNC-Fertigung, robotische Fügung - weiterentwickeln lassen. Diese enge Verzahnung haben wir zum Beispiel mit einem 3D-gedruckten Zoetrop veranschaulicht, bei dem die parametrische Formenvielfalt digitaler Modelle in eine physische Animation übersetzt wurde. Wir bringen Fragen aus unserer interdisziplinären Forschung im Bereich reversible, trocken-gefügte Bauteile, robotische Assemblierung und Kreislaufwirtschaft in unsere Kurse. Davon profitieren die Studierenden, weil sie Einblick in wichtige Zukunftsfragen erhalten und Kompetenzen für das eigene akademische Arbeiten erlangen. Gleichzeitig profitieren wir in unserer Forschung, weil Menschen unbefangen und mit frischem Blick auf die Themen schauen. Eine ganze Reihe unserer Forschungsprojekte sind über studentische Arbeiten entstanden, und natürlich sind diese Studierenden dann auch unsere Mitarbeitenden geworden. Wir treffen unsere Alumni aber auch in Architektur- und Ingenieurbüros oder digital produzierenden Baufirmen wieder.

 

  

Wie können digital basierte Entwurfsmethoden die Lehre und Forschung verändern? Was wünschen Sie sich hierbei für die Zukunft?

Ich würde wir wünschen, dass Studierende unsere Methoden und Ansätze noch stärker mit in andere Entwurfslehrstühle mitnehmen und sie dadurch in anderen Kontexten testen und weiterentwickeln.
Vor uns allen steht die riesige Aufgabe, Architektur und das gesamte Bauwesen zu dekarbonisieren. Neben vielen inkrementellen Weiterentwicklungen innerhalb unserer Disziplin brauchen wir dafür disruptivere Veränderungen. Die entstehen nicht, wenn nur das existierende Praxiswissen von einer Generation auf die nächste übertragen wird. Innovation entsteht dort, wo ein Experiment auch mal scheitern darf. Das funktioniert in der Forschung besser als in einem Architekturbüro. Außerdem ist eine technische Universität ein Ort, an dem viele Disziplinen zusammenkommen. Wir kooperieren mit sehr inspirierenden Kolleginnen und Kollegen aus der Informatik, der Robotik, den Materialwissenschaften, dem Bauingenieurwesen, aber auch der Philosophie. Das bringt unsere Arbeit voran. Am Ende brauchen wir natürlich den Transfer in die Praxis und den Dialog und Austausch mit allen Beteiligten im Bereich Architektur und Bauwesen.
 
Für die Zukunft wünsche ich mir eine breite Allianz aus Lehre, Forschung, Industrie und Politik, die unsere Gesellschaft hinsichtlich Klima- und Ressourcenschutz voranbringt. Wir versuchen, hier mit unseren digitalen Methoden einen kleinen Beitrag zu leisten, damit diese Transformation auch zu einer lebenswerten und vielfältigen gebauten Umwelt führt.