In die Platte auf die Spreeinsel: Ein Umzugsbericht mit Spurensuche

Unsere Redakteurin Luisa Knödler ist umgezogen: Mitten ins Zentrum Berlins, zwischen Spree und Spreekanal, wo sich ein unterschätztes Stück Berliner Stadtlandschaft verbirgt. Eine persönliche Erkundung der geschichtsträchtigen Großwohnsiedlung.

Wer im polyzentrischen Berlin umzieht, durchquert kleine Paralleluniversen. In den letzten sechs Jahren habe ich viermal die Wohnung gewechselt. Jeder Kiez hatte sein eigenes Tempo, eigene Regeln, eigene Geschichten. Nun stand wieder ein Tapetenwechsel an. Diesmal besichtigte ich eine Wohnung in einer Großwohnsiedlung auf der Spreeinsel – ein Ort, den man sonst eher mit Touristenströmen als mit Mietverträgen verbindet. Wohnt da überhaupt jemand, fragte ich mich, als ich mich auf den Weg machte. Schon im Treppenhaus bemerkte ich die klaren Linien und das Spiel aus Licht und der durchlässigen Fassade. Diese „Platte“ zeugte von mehr Qualität, als ich erwartet hatte. Doch ich schob die Begeisterung schnell beiseite – zu oft hatte ich mich auf Wohnungen beworben, zu oft war nichts daraus geworden. Zwei Stunden später kam die Zusage. Dieser Moment fühlte sich an wie ein Lottogewinn.

An der Friedrichsgracht

Mein neues Zuhause befindet sich in einem Block entlang der Friedrichsgracht. Die orangefarbenen Balkone erinnern an die Farbgestaltung aus Ost-Berlin. Besonders auffällig sind die offenen Fassadenelemente vor den Treppenhäusern, die wie Filter zwischen innen und außen wirken. Ein weiteres markantes Merkmal ist das Wandbild „Der Mensch, das Maß aller Dinge“ von Walter Womacka. Ursprünglich schmückte es das DDR-Bauministerium, wurde aber nach dessen Abriss 2010 wenige Meter weiter an der Fassade des Gebäudes installiert. Architekturhistoriker Bruno Flierl beispielsweise sieht in dem Bild eine Mahnung an die Planer*innen, den Menschen stets im Blick zu behalten – auch im Zeitalter der industriellen Großbaustellen. Dennoch steht das Gebäude bis heute nicht unter Denkmalschutz.

Dazwischen: das alte Pfarrhaus St. Petri von 1886 – ein neogotischer Rohziegelbau mit Sandsteinornamenten. Dieses Gebäude trotzt der Nachkriegsmoderne und ist das letzte erhaltene Haus seiner Art auf der Straße. Früher war es Teil eines dichten Altbauquartiers.

Auf Spurensuche

Zwischen Umzugskartons und Adressänderungen ließ mich die Neugier nicht los: Wer hatte und wie wurde dieses Haus entworfen?

Die Spur führte zu zwei Namen: Manfred Prasser und Heinz Graffunder – renommierte Architekten der DDR, die später den Palast der Republik schufen. Zwischen 1963 und 1967 planten sie die Wohnhäuser an der Friedrichsgracht. Ihr Ziel: eine soziale Mischung. Künstler*innen, Arbeiter*innen, Politiker*innen – alle sollten Tür an Tür wohnen. Und tatsächlich: Viele der Wohnungen hier sind heute nach wie vor sozialer Wohnungsbau. Unvorstellbar in Städten wie New York oder London in dieser zentralen Lage.

Trotz der Größe des Blocks begegnen wir uns, grüßen uns im Treppenhaus und plaudern im Aufzug. Nicht unbedingt selbstverständlich in dem riesigen Gebäude.

Von Fischkuttern zu breiten Straßen

Die Spreeinsel blickt auf eine bewegte Geschichte: Einst lebten hier Fischer und Schiffer, später holländischen Handwerker*innen und französische Glaubensflüchtlinge. Im 19. Jahrhundert wurde das Viertel zur Heimat der ärmeren Bevölkerung. Der Zweite Weltkrieg richtete schwere Zerstörungen an. Obwohl viele der Bestandsbauten nach dem Krieg hätten gerettet werden können, entschied sich die DDR-Führung Anfang der 1960er Jahre für eine andere Vision: ein modernes, industriell geprägtes Zentrum Berlins. Dafür ließ die Stadt ganze Straßenzüge abreißen – darunter 30 denkmalgeschützte Gebäude. Das alte Straßennetz wich breiten Schneisen für den Autoverkehr. Zwischen 1969 und 1973 entstanden südlich der Gertraudenstraße schließlich sechs 21-stöckige Wohnhäuser in Großtafelbauweise. Das neue Wohngebiet erhielt den Namen Fischerinsel.

Zukunftsperspektiven der Nachkriegsmoderne

Die Spreeinsel – einst das Herz Berlins – dicht bebaut, lebendig und voller Kontraste. Kaum ein anderes Viertel wurde so radikal umgebaut. Ein Ort in der Stadt, der dadurch viele Schichten der Geschichte vereint. Passend zum Thema findet am 23. Mai der Kongress „Große Ensembles der Nachkriegsmoderne“ statt. Dort wird unter anderem das Ensemble rund um den Berliner Fernsehturm diskutiert – mit Blick auf Erhaltungsstrategien, soziale Potenziale und städtebauliche Visionen. Auch die Bauten auf der Spreeinsel gehören zu diesen oft unterschätzten Großformen, die mehr erzählen können, als womöglich auf den ersten Blick vermutet.