Baukulturelles Erbe erhalten: Forschungsprojekt in postsowjetischen Staaten

Wie kann man nachhaltig mit der historischen Bausubstanz der ehemaligen Sowjetunion umgehen? Daran forscht ein Team von der RWTH Aachen, dem KIT und dem Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa.

Angesichts der aktuellen politischen Situation erscheint es umso dringlicher, einen nachhaltigen Umgang mit dem baulichen Erbe der ehemaligen Sowjetstaaten zu finden und die Erhaltungswürdigkeit dieser historischen Bausubstanz herauszuarbeiten. Die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen (RWTH), das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und das Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) forschen im Rahmen des interdisziplinären Projekts „Cities Building Culture“ an neuen Ansätzen für einen nachhaltigen Umgang mit dem kulturellen Erbe im post-sowjetischen Raum. Gefördert wird das Projekt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF).


Abriss und Überformung

Der Fokus des Forschungsprojekts liegt auf dem Zeitraum von den 1860er-Jahren bis zum Zerfall der Sowjetunion in den frühen 1990er-Jahren. In den Blick genommen werden vornehmlich Wohnungsbauten aus dieser Zeit. Was sind die baulichen und kulturellen Werte in diesen Regionen und wie wird mit dem gebauten Erbe aus dieser Zeit heute umgegangen? Diesen und anderen Fragen gehen die Forschungsteams von 2021 bis 2024 nach. Der aktuelle Umgang mit den Wohnungsbauten in den postsowjetischen Staaten sei sehr unterschiedlich, so teilte uns Prof. Dr. Barbara Engel mit, die die Professur Internationaler Städtebau am KIT innehat. Übergreifend ließen sich jedoch viel Abriss und unkontrollierter Umbau bestehender, historischer Strukturen verzeichnen. Dies habe zum einen mit der heterogenen Bevölkerungsstruktur, aber auch mit im Zusammenhang mit dem Krieg stehenden Flüchtlingsströmen und der damit verbundenen Wohnungsnot zu tun.

Kriegsbedingte Änderungen

Als der Forschungsantrag 2020 eingereicht wurde, war geplant, zuerst die Strukturen in ausgewählten russischen Städten zu erforschen und später den Blick auf andere Länder der ehemaligen Sowjetunion zu weiten. Im März 2022 fror das BMBF infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine sämtliche laufenden und geplanten Kooperationen mit russischen und belarussischen Institutionen ein, was die geplante Zusammenarbeit mit russischen (Nachwuchs-) Wissenschaftler*innen erschwerte beziehungsweise unmöglich machte. Daraufhin musste der Ablauf und die Ausrichtung des Forschungsprojekts umstrukturiert werden. Andere postsowjetische Länder wurden vorgezogen und ein Hauptaugenmerk auf die Ukraine gelegt.

Aus der Forschung in die Lehre und zurück

Die Projektverantwortlichen begreifen ihre Arbeit als angewandte Forschung. Das bedeutet, dass das theoretische Wissen aus der Grundlagenforschung genutzt wird, um Lösungen für Probleme in der Praxis zu finden. Um die Brücke von der Forschung zur Lehre und Praxis zu schlagen, wurden beispielsweise Studierende in das Projekt einbezogen. Seit dem Wintersemester 2020/21 bietet Prof. Barbara Engel am Institut Entwerfen von Stadt und Landschaft des KIT Forschungsseminare an, die in das Projekt eingebettet sind. In den Seminaren werden unter anderem räumliche Qualitäten und Defizite von Wohnquartieren aus unterschiedlichen Epochen untersucht. Außerdem analysieren die Teilnehmenden Transformationsprozesse ausgewählter Quartiere und entwickeln davon ausgehend neue Diskurse und Strategien zur nachhaltigen Weiterentwicklung des baukulturellen Erbes.

Des Weiteren finden im Rahmen des Forschungsprojekts Sommerschulen für Doktorand*innen statt. Im September 2023 reist zum Beispiel eine Gruppe Promovierender nach Tiflis. Unter dem Titel „Neighborhood Heritage. Urban layers, physical environments and living communities in the post-socialist/-Soviet city“ werden am Beispiel der georgischen Hauptstadt verschiedene Ansätze in der Analyse ausgewählter historischer und zeitgenössischer Nachbarschaften und ihres vielschichtigen Erbes erprobt. Dabei soll es unter anderem um die Auswirkungen von wirtschaftlichen und demografischen Veränderungen auf das bauliche Erbe von Wohnvierteln und um Momente des Umbruchs gehen. Zudem soll der Umgang der ortsansässigen Communitys mit dem Gebauten sowie die Konstruktion eines lokalen Gedächtnisses und Wertesystems untersucht werden. Auf die Fragen, wie Großwohnsiedlungen als Bauerbe gedacht werden und nachhaltig unter Einbezug der lokalen Nachbarschaften erhalten werden können, sollen mögliche Antworten formuliert werden.

Handlungsleitfaden und Publikation

Das übergeordnete Ziel des Forschungsverbunds ist es, im internationalen und interdisziplinären Dialog neue Ansätze für einen nachhaltigen Umgang mit dem architektonischen Erbe in den Städten zu entwickeln. Die aus dem Projekt gewonnen Erkenntnisse sollen den Städten in den betreffenden Ländern als Handlungsleitfaden zur Verfügung gestellt werden. Nicht zuletzt ist die Beschäftigung mit dem sowjetischen baulichen Erbe auch für Deutschland relevant, da es hierzulande zahlreiche Parallelen gibt. Abschließend steht im Zentrum des Forschungsvorhabens die Förderung einer Vernetzung und eines Austausches von Nachwuchswissenschaftler*innen. Eine Publikation ist derzeit in Vorbereitung und soll voraussichtlich im Frühjahr 2024 erscheinen.