Urin*All: Eine Toilette für alle

Keine getrennten Toiletten: Mit ihrem Urin*all wollen die zwei Schweizer Industriedesignerinnen Leonie Roth und Luisa Tschumi einen Beitrag für mehr Geschlechtergerechtigkeit im öffentlichen Raum leisten.

Urinale bieten schnelles und kontaktloses Urinieren, während sie eine beträchtliche Menge Wasser sparen und gleichzeitig Nährstoffrückgewinnung durch die separate Sammlung des Urins ermöglichen. Im öffentlichen Raum werden oft universelle Bedürfnisse vernachlässigt, da das herkömmliche Design von Toiletten Menschen mit Vulva die kontaktlose Nutzung von öffentlichen Sanitäranlagen erschwert. Leonie Roth und Luisa Tschumi vom Bachelor-Studiengang Industriedesign an der FHNW (Fachhochschule Nordwestschweiz) Basel haben am Institute Contemporary Design Practices (ICDP) mit „Urin*all“ das erste wasserlose Pissoir für alle Geschlechter entwickelt, das kontaktloses, schnelles Urinieren ermöglichen soll. Das Projekt ist als Prototyp derzeit in Testphase im deutschen Pavillon auf der Architekturbiennale in Venedig ausgestellt – und benutzbar. Leonie und Luisa haben uns berichtet, wie es zu dem Projekt kam, was sie dazu motivierte und wie es mit dem Produkt weitergeht.

#ToBeContinued präsentiert Abschlussprojekte, die eine Geschichte erzählen: Konzepte, die weiterentwickelt und umgesetzt wurden und den Absolvent*innen einen erfolgreichen Berufseinstieg ermöglicht haben.

Motivation zur Veränderung

Wie kam es zum Thema Toilette? Inspiriert wurden die beiden ehemaligen Industriedesign-Studentinnen unter anderem durch das Buch „Das Patriarchat der Dinge“ von Rebecca Endler. In dem Buch lenkt die Autorin den Blick auf das am Mann ausgerichtete Design, das uns überall umgibt. Insbesondere das Kapitel über öffentliche Sanitäranlagen hat Leonie und Luisa dazu bewegt, sich mit diesem Bereich der Gleichberechtigung auseinanderzusetzen. Eigene negative Erfahrungen und die Geschichten von Freund*innen über Schwierigkeiten beim Urinieren im öffentlichen Raum verstärkten ihr Interesse an dem Thema. Zuerst planten sie ein Urinal für Frauen zu entwerfen, entschieden sich aber bald für eine geschlechtsneutrale Lösung, um allen Bedürfnissen gerecht zu werden und gleichzeitig die Genderdebatte anzusprechen. Dies ist speziell für Personen wichtig, die sich nicht einem bestimmten Geschlecht zugehörig fühlen.

Form follows Function

Entwickelt haben die beiden das Urinal nach dem Prinzip "Form follows Function". Dabei mussten sie sich darauf konzentrieren, eine Form zu finden, die für möglichst viele Menschen funktioniert. Um dies zu erreichen, führten sie eine gründliche ergonomische Modellierung durch: Dabei entwickelten die Studentinnen ein Modell, das in der Höhe, Breite und Neigung verstellbar war, um es an die unterschiedlichen Bedürfnisse und Körpergrößen verschiedener Nutzer*innen anzupassen. Mit diesem Mock-Up führten sie praktische Versuche durch, um die Funktionalität der Einstellungen zu testen. Dafür simulierten sie das Urinieren mit verschiedenen Testpersonen, die Badehosen und Regenhosen trugen, um die Realität möglichst genau nachzuahmen. Diese Tests halfen ihnen zu verstehen, welchen Einfluss Position und Kleidung auf die Nutzbarkeit des Urinals haben. Das Ergonomie-Modell zeigte aber auch weitere Aspekte: Die meisten Nutzer*innen bevorzugen beispielsweise eine Position mit dem Rücken zur Wand. Die Länge der Schüssel hingegen ist aufgrund der eingeschränkten Beinfreiheit durch die Kleidung irrelevant. Zwar konnten die beiden nur begrenzt viele Testpersonen einbeziehen, durch sorgfältiges Vorgehen versuchten sie jedoch, über diese Mittel Schritt für Schritt die bestmögliche Form zu erreichen. Durch den Ausschluss von Designs, die aufgrund von Kleidung oder anderen Faktoren nicht praktikabel waren, kamen sie einer idealen Lösung immer näher.

Ressourcenschonend und komfortabel für alle

Entstanden ist letztlich ein Pissoir, das möglichst komfortabel von Personen mit Vulva oder Penis verwendet werden kann. Dabei spielte die Hängung auch eine tragende Rolle. Die Höhe, auf der das Urinal an der Wand befestigt ist, ist tendenziell höher als bei herkömmlichen Toiletten, jedoch mit einem Winkel von mehr als 90°, was zu einer geringeren endgültigen Höhe im Vergleich zu einer durchschnittlichen Toilette führt.

Bei der Materialfrage entschieden sich die Designerinnen für Keramik. Das Material ist langlebig und verfügt über eine glatte Oberfläche, die die Reinigung erleichtert. Zudem ist Urin*all bewusst wasserlos gestaltet. Dadurch wird wertvolles Wasser gespart und durch das Auffangen der Ausscheidung, die Rückgewinnung von Phosphor, Stickstoff und Kalium ermöglicht - wichtige Nährstoffe für das Pflanzenwachstum. Gebrauchtes Toilettenpapier lässt sich in einem separaten Mülleimer entsorgen. Zudem ist das Urin*all im Vergleich zu Modellen mit Wasserspülung deutlich pflegeleichter und wartungsärmer.

Eine Toilette als Beitrag

Das Projekt ist bereits in der Testphase – und das auf großer Bühne: Auf der 18. Architekturbiennale in Venedig im Deutschen Pavillon ist es Teil des Ausstellungskonzeptes „Open for Maintanence“, das sich ganz der Pflege, Reparatur und Instandhaltung widmet. Hier können Besucher*innen den funktionsfähigen Prototypen testen und durch eine Umfrage zur Weiterentwicklung beitragen. Wichtig ist den beiden Designerinnen, das Urin*all als Ergänzung und nicht als Ersatz der bestehenden sanitären Anlagen zu vermitteln und es als Anregung gesellschafts- und umweltpolitischer Diskussionen zu betrachten. Das Projekt soll zukünftig in die Herstellung gehen - möglicherweise hängt das Urin*all bald in mehr (stillen) Orten. Derzeit wird in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Sanitärtechnik-Unternehmen Urimat weiterentwickelt.