Wie kann eine nachhaltige Bauwende gelingen? Eine ambitionierte Systemanlayse

Das Forschungsprojekt „Systemanalyse Bauwende“ untersucht die Hebel und Potenziale des Bausektors, mit denen eine nachhaltige Transformation erreicht werden kann. Ein Gespräch mit Eva Dietrich, Leiterin und Initiatorin des Projekts. 

Eva, was hat dich persönlich motiviert, das Forschungsprojekt zu initiieren? 

ED: Als Architektin habe ich festgestellt, dass Planende oft nicht auf nachhaltige Lebensräume achten und Entscheidungen aus Profitgründen treffen müssen.  Zahlreiche Rahmenbedingungen verhindern das ökologisch, sozial und wirtschaftlich nachhaltige Planen und Bauen. Die meisten Beteiligten übersehen die größeren systemischen Zusammenhänge und bleiben in einzelnen Bereichen dieses komplexen Systems gefangen. Das hindert uns daran, das System hin zur Nachhaltigkeit zu transformieren. Und bisher wissen wir nicht, wo die effektivsten Wirkungskreise, Stellhebel und Handlungspotentiale als auch Blockaden liegen. 

Ich wollte nicht in einem unreflektierten System ohne zukunftsfähige Strategie arbeiten. 2011, vier Jahre nach Abschluss meines Architekturstudiums, legte ich im Masterstudiengang Research Architecture am Goldsmiths College in London den Grundstein für das Forschungsprojekt „Systemanalyse Bauwende“. 2020 verankerten wir in der Satzung des Architects for Future Deutschland e. V. (A4F), dessen Gründungsmitglied ich bin, die Forschung zur Umsetzung des Vereinszwecks. Der Verein trägt das Projekt, gefördert vom Programm Zukunft Bau des BBSR. Über Scientists for Future lernte ich die Methodik und die Partnerin des Forschungsprojekts kennen.

Was versteht man unter Systemanalyse?

ED: Systemanalyse untersucht ganzheitlich die Einflussgrößen und Zusammenhänge eines Bereichs und dessen Systems, hier des Bau- und Gebäudebereichs in Deutschland. Mit dem gewonnenen Systemverständnis identifizieren wir relevante Stellhebel, Risiken und Potenziale für eine nachhaltige Transformation, orientiert an den zehn Forderungen der A4F. Ziel ist dabei, wirksame Strategien und Maßnahmen für eine zukunftsfähige Baubranche abzuleiten. Dabei geht es nicht um Symptombehandlung, sondern um die Lebensfähigkeit und Nachhaltigkeit des Systems und um umsetzbare Lösungen.

Und wieso habt ihr diese Forschungsmethode ausgewählt? 

ED: Die Methode von Frederic Vester, weiterentwickelt von Gabriele Harrer-Puchner, ist praxisnah: Sie erfordert die Zusammenarbeit mit Beteiligten aus dem untersuchten Bereich. Neben der iterativen und partizipativen Vorgehensweise ist die Orientierung an biokybernetischen Prinzipien, also an den elementaren Erfolgskriterien der Natur, entscheidend, um nachhaltige Lösungen zu entwickeln. Diese erprobte, interaktive Methodik eignet sich für komplexe Systeme und Entscheidungssituationen. Sie analysiert Praktiken, Randbedingungen, Wirkungen und Beteiligte mit verschiedenen Motivationen, Bildungsständen, Wissen oder Machtstrukturen. Anwendbar ist sie auf verschiedenen „Flughöhen“ – großen Bereichen oder kleineren Strukturen, wie z. B. Unternehmen. 

Wie habt ihr das System definiert, wie grenzt ihr es ab, und welche Faktoren beeinflussen das System?

ED: Wir teilten den Bau- und Gebäudebereich in Deutschland in zwölf Subsysteme auf: Politik & Governance, Wirtschaft, Schadstoffe & Emissionen, Materialkreisläufe, Energiekreisläufe, Wasserkreisläufe, Biodiversität, Mobilität & Logistik, Stadt- und Raumplanung, Zivilgesellschaft, Humanökologie, Medien. Diese definieren die Systemgrenzen. Wichtig war die Einbeziehung quantitativer und qualitativer Aspekte, methodisch auch Variablen genannt. Quantitative Variablen umfassen Fakten, Techniken und Zahlen, qualitative Variablen hingegen Gefühle, Meinungen, Attraktivität oder Verhaltensweisen. Oft vernachlässigt gehören letztere ebenfalls zu den relevanten Faktoren. Wir arbeiteten mit 33 Variablen, die wir den von Vester definierten, sieben Lebensbereichen zugeordnet haben. 

Lass uns dies anhand eines Szenarios erklären und die Variable Bildungswesen näher betrachten. Welche Auswirkungen hat sie auf die Bauwende? 

ED: Für Bildung sind zwei Variablen relevant: „Nachhaltigkeitsthemen in Berufsqualifikation“ und „Befähigung aller hin zur Nachhaltigkeit“. Beide haben ähnlich hohe Summen der Ein- und Auswirkungen. Veränderungen an diesen Variablen wirken vor allem im Verbund mit anderen Variablen.  Die zwei Variablen haben in einem Maßnahmenbündel mittel- bis langfristige Wirkungen. 

Im Rahmen der Variable „Nachhaltigkeitsthemen in Berufsqualifikation“ kann u. a. das Wirken der A4F im Bildungsbereich genannt werden. Im April 2024 verabschiedete die Dekane- und Abteilungsleiterkonferenz für Architektur, Raumplanung und Landschaftsarchitektur die Dresdner Erklärung. Darin unterstützen die Wissenschaftler*innen die Forderung der A4F, die Curricula im Sinne einer „Bauwende“ anzupassen.

Die Variable kann das System auch langfristig stabilisieren. Aktuell sind Nachhaltigkeitsthemen im Studium bzw. in Aus-, Fort- und Weiterbildungen nicht vollständig integriert. Insbesondere in der Bildung ist aber die Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit in jedem Teilbereich der Berufsqualifikation relevant. Dies beinhaltet die Hochschullehre sowie die berufliche Weiterbildung von Mitarbeitenden in Unternehmen. Die oft noch vorherrschende Vermittlung von „Status-Quo“-Techniken lässt das System stagnieren. Die Variable stabilisiert aktuell eher im unerwünschten Sinn. 

Wer wird/soll zukünftig diese Analysemethode anwenden?

ED: Die Analysemethode besteht seit Jahren, die Online-Tools werden stetig weiterentwickelt. Unser Projekt hat neue Features hervorgebracht, um Daten besser zu organisieren und visuell darzustellen. Alle Interessierten können mit dieser Methodik arbeiten, ob Bildungseinrichtungen, Behörden oder Industrie. Dabei kann der Projektumfang variieren: von Workshops zum Einstieg in vernetztes Denken bis hin zu individuell konzipierten Projekten. Ziel kann sein, ein gemeinsames Verständnis einer Strategie zu schaffen, Interessensgruppen partizipativ einzubinden oder Fachleute in Wirtschaft und Politik bei Entscheidungen zu unterstützen. 

Ihr selbst formuliert zu Beginn die Frage: „Wie kann eine nachhaltige Bauwende gelingen?“ Gibt es darauf schon eine Antwort?

ED: Die Systemanalyse zeigt, dass die hohe Vernetzung des Systems abgestimmte Maßnahmen erfordert. Diese müssen in vielen Bereichen ansetzen, denn ein so stark vernetztes System lässt sich nicht durch isolierte Maßnahmen transformieren. Die kommunale Ebene ist wichtig, um Wissen über Handlungswege und Blockaden in die Gesetzgebung auf Bundesebene einzubringen. Auch die Einbeziehung von Beteiligten aus der Praxis ist entscheidend. 

Eine besondere Rolle spielt die „Einflussnahme von Beharrungskräften“, die den Status Quo des Bau- und Gebäudebereichs vertreten. Beharrungskräfte blockieren die Hebel zur Transformation. Dringend nötig ist, dass Gesetzgebung, öffentliche finanzielle Instrumente sowie Ausschreibungs- und Vergabepraxis mit den Beharrungskräften der Bauwirtschaft konstruktiv und wissenschaftlich fundiert kooperieren. Dies sollte zusammen mit der Digitalisierung im Bau- und Gebäudebereich und der kommunalen Ebene geschehen. 

Das Gelingen einer Bauwende hängt stark vom Willen zur Kooperation und der Anerkennung der notwendigen sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Veränderungen ab. Wir dokumentieren den Analyseprozess transparent im Abschlussbericht, damit alle Beteiligten die Arbeitsschritte nachvollziehen können. Über die identifizierten Hebel hinaus haben wir vielfältige Handlungsbereiche dokumentiert, die aus der Vernetzung nachvollzogen und kritisch hinterfragt werden können. Weitere Erkenntnisse können in eine spätere Validierung einfließen.