Was kann Leerstand? Eine Chronologie der Wiederbelebung des Eiermannbaus

Das Leuchtturmprojekt der im 2012 gestarteten IBA Thüringen aktiviert Egon Eiermanns Fabrikgebäude. Die Strategie für eine nachhaltige Nutzung des reanimierten Denkmals leitet sich aus zahlreichen öffentlichkeitswirksamen Formaten ab.

Die IBA Thüringen hat sich im Spannungsfeld Stadt-Land den Umgang mit Leerstand vorgenommen. Projekte wie „LEERGUT“ – in denen Bestand durch das Gestalten von Gemeinschaftszentren oder Gesundheitskiosken aktiviert wird – haben gezeigt, wie minimale Eingriffe neue, sinnvolle Nutzungen hervorrufen. Einer ähnlichen Herausforderung stellte sich auch bei der Ende der 1930er Jahre von Egon Eiermann ausgebauten Feuerlöschgerätefabrik in Apolda. Unter dem Motto „Wie wenig ist genug?“ eignete sich das IBA-Team das Gebäude an und leitete die beispielhafte Transformation des sogenannten Eiermannbaus ein.

Vom Leerstand zum Leuchtturmprojekt

Apolda gilt seit dem 18. Jahrhundert als wichtiger Industriestandort in Thüringen. In den letzten Jahrzehnten ist die lokale Produktion jedoch drastisch zurückgegangen. Zahlreiche Bauten, Erbe des industriellen Aufschwungs, stehen heute leer. Eines davon ist der Eiermannbau – das einzige Gebäude des bekannten Architekten in der Region. 6.000 Quadratmeter Geschossfläche auf einem zwei Hektar großen Gelände standen zur Verfügung. Die IBA Thüringen betrachtete den Bau als Untersuchungsobjekt – dessen Umwandlung wurde zum Vorzeigebeispiel. Sukzessive Projekte und Aktivitäten, die seit 2016 mit und von Studierenden, jungen Kreativen und etablierten Planenden in der ehemaligen Produktionsstätte durchgeführt wurden, haben die Zukunft des Gebäudes als offene Fabrik konturiert.  

IBA Campus 2016: Erste Ideen für eine offene Fabrik

Im Juni 2016 wird das seit 1994 leerstehende Gebäude erstmals im Rahmen eines kreativen Workshops angegangen, der in Zusammenarbeit mit der Wüstenrot Stiftung und der IBA durchgeführt wurde. Der von raumlaborberlin und belius geleitete „IBA Campus 2016  ⁄ ZukunftsWerkstatt Eiermannbau“ brachte 26 Teilnehmer*innen aus unterschiedlichen Disziplinen und Ländern zusammen. Neben postgraduierten Architekt*innen und Stadtplaner*innen nahmen Absolvent*innen und Master-Studierende aus zehn verschiedenen Fachrichtungen an der Campus-Werkstatt teil. Ziel dabei war, das Open Factory Leitbild als Grundlage für die weitere Entwicklung des Projektes zu formulieren. Als offene Fabrik sollte das Gebäude als Bildungs-, Produktions-, Sozial- und Kulturstätte fungieren. Die flexible Struktur sollte lokalen Unternehmen, Produzenten und Handwerkenden als Raumressource dienen. Vom Pop-Up Kino über Holzwerkstätten bis hin zu Ausstellungen und Nachbarschaftstreffen – all das sollte künftig im Eiermannbau möglich sein. Doch Wandel erfolgt nicht über Nacht. Das Open Factory Aktivierungskonzept formulierte Strategien, die im Rahmen der IBA-Laufzeit hinsichtlich ihrer langfristigen Auswirkung getestet werden mussten.

IBA Campus 2018: Leerstand als Potenzial 

Über das Netzwerk ConstructLab rief die IBA Thüringen im Sommer 2018 zum Bauen auf. Ein junges und interdisziplinäres Team von 50 Studierenden und Absolvent*innen befasst sich mit dem DesignBuild-Projekt „Hotel Egon“. Die Teilnehmenden haben sich des Gebäudes angenommen und, befeuert von dem intensiven Austausch vor Ort, innerhalb von zwei Wochen 20 Zimmermodule und Möbelelemente entworfen und gebaut. Hotel Egon war das Resultat von acht Werkstätten mit den Schwerpunkten Zimmer, Möbel, Stoffe, Nachbarschaft, Grafik, Schreiben, Film und Küche. Durch die somit entstandenen temporären Hotelzimmer konnte das Gebäude plötzlich auch Gäste willkommen heißen, die nicht zwingend ihr Zelt mitbringen mussten. 

Sommer 2019: Hotel Egon lädt ein

Im nächsten Jahr wurde die Hotel-Egon-Idee als Kunstprojekt Wirklichkeit: Vier Kollektive übernahmen für jeweils zehn Tage den Hotelbetrieb. Das Angebot war attraktiv, das Zimmerkontingent ausgebucht. Unter der Leitung von StadtRaumWandel, Teleinternetcafe, ON/OFF und dem Kollektiv Raumstation wurden im wiederholten Trial-and-Error-Prozess Nutzungsszenarien ausgetestet, die Anpassungsfähigkeit der Struktur ausgelotet und die Bandbreite der Möglichkeiten überprüft. So entstanden die Apolda Radiostation mit Berichten aus einer fiktiven Zukunft, ein Kochlabor für kulinarische Experimente, ein gemeinschaftliches Küchenprojekt und ein Forschungslabor. Diese Formate – Signalsetzer und Impulsgeber zugleich – haben durch die aktive und kreative Auseinandersetzung der Gäste mit dem Bestand die Weichen für die langfristige Umsetzung der Open Factory Idee gestellt. 

Die Ikone der Industriemoderne wird zur modernen Open Factory

Die Campi und alle weiteren Aneignungsformate, die zur partizipativen Gestaltung animierten, haben den Eiermannbau sichtbar und erkennbar werden lassen. Studierende und Lehrende der PBSA Düsseldorf, der Bauhaus-Universität Weimar, der TU Braunschweig oder der Friedrich-Schiller-Universität Jena bearbeiteten am Standort Semesterprojekte mit den Schwerpunkten Innenarchitektur, Bauklimatik und Gebäudetechnik, Soziologie, Landschaftsarchitektur oder Grundlagen des Entwerfens. Reallabore und DesignBuild-Projekte, Entwürfe und Workshops, Camps, Ausstellungen oder Schlusspräsentationen – das Gebäude hat sich in den letzten acht Jahren zum idealen Gastgeber und zur Plattform für Diskussion und Debatte entwickelt. 

Die IBA Thüringen neigt sich dem Ende entgegen, gleichzeitig beginnt für den Eiermannbau Apolda der neue Lebensabschnitt. Im März 2023 wurde der Bau als Open Factory wiedereröffnet. Darüber hinaus beherbergt das Gebäude die zentrale Ausstellung der IBA Abschlusspräsentation und das große StadtLand Forum. Die internationale Bauausstellung schließt mit fünf mehrtägigen Foren ab, die von Juni bis Oktober Projektakteur*innen der IBA Thüringen und der Wüstenrot Stiftung mit weiteren Expert*innen, Initiativen, Studierenden und Hochschulpartner*innen und Vertreter*innen aus Verwaltung und Politik zusammenbringen. Der Call ist bis 8.5.2023 offen.