Neues Bauen heute: Zukunftsfähige Konzepte für Nagele

Wie sehen die Dörfer der Zukunft aus? Das Forschungsteam dérive erkundet die Transformationsmöglichkeiten für ein niederländisches Dorf aus den 1950er-Jahren.

Eingefasst von einem Waldgürtel, der die Siedlungen vor Wind schützen soll, liegt das Dorf Nagele im Norden der niederländischen Provinz Flevoland. Das umgebende Land – der sogenannte Polder – ist von einem feinteiligen Feldraster aus Monokulturen geprägt. Auch die Dorfstraßen und -häuser sind fein säuberlich gegliedert und orthogonal zueinander angeordnet. Wie vielerorts in den Niederlanden herrscht in Nagele Wohnungsknappheit. Derzeit fehlen dem Land rund 400.000 Wohnungen. In Nagele sollen zwar nur ein paar Hundert davon entstehen, dennoch bleibt die Frage: Wie kann eine Dorferweiterung möglichst behutsam und nachhaltig erfolgen? Damit beschäftigen sich Hedwig van der Linden und Kevin Westerveld, Gründer*innen des forschungsorientierten Kollektivs dérive.


Aus dem Meer gestampft

Nagele ist in vielerlei Hinsicht ein besonderes Dorf – nicht zuletzt aufgrund seiner Lage. Die Provinz Flevoland ist die jüngste Provinz der Niederlande und besteht aus zwei Teilen, dem Flevopolder und dem Noordostpolder. Dabei handelt es sich um künstliche Inseln, die in den 1940er-Jahren durch Eindeichung und Entwässerung geschaffen wurden. Zuvor waren diese Gebiete also vollständig von Wasser bedeckt. Im Jahr 1943 zogen die ersten Einwohner*innen auf den Noordostpolder, der zuerst trockengelegt wurde und bis heute eher landwirtschaftlich geprägt ist. Die meisten Städte und Dörfer in der Provinz – so auch Nagele – wurden in den 1950er- bis 1980er-Jahren als Planstädte gebaut.


Neues Bauen auf dem Polder

Mit der Trockenlegung der Polder entstand unbebautes Land, das den zeitgenössischen Architekt*innen und Stadtplaner*innen als unbeschriebenes Blatt diente. Die Planung von Nagele fand in den späten 1940er-Jahren statt, der Bau dann in den frühen 1950er-Jahren. Entworfen haben das Dorf die niederländischen Architekturkollektive „De Acht“ und „Opbouw“, denen namhafte Architekt*innen wie Aldo van Eyck, Gerrit Rietveld, Lotte Stam-Beese, Mart Stam, Cornelis van Eesteren und Landschaftsarchitekt Mien Ruys angehörten.

Den Ort planten die Architekt*innen nach den Prinzipien des „Neuen Bauens“. Ziel dieser Architekturbewegung war es, durch Rationalisierung, Typisierung und den Einsatz neuer Baustoffe Siedlungen mit einer hohen Aufenthalts- und Lebensqualität zu schaffen. Die für die Zeit typische Formensprache spiegelt sich im Erscheinungsbild der Häuser Nageles wider: Flache Dächer, ineinander verschachtelte, kubische Volumina, viel Backstein und Glas. Hedwig van der Linden und Kevin Westerveld wollen an die einst innovativen Gestaltungsprinzipien des „Neuen Bauens“ anknüpfen und das Dorf behutsam und zukunftsfähig erweitern.


Nachhaltiger Erweiterungsplan

Dem Duo von dérive ist bewusst, dass bei der Erweiterung eines derart speziellen und architekturhistorisch wichtigen Ortes Fingerspitzengefühl gefragt ist. In einem 100-seitigen Dokument haben sie die dringenden Themen in Nagele identifiziert und detailliert zusammengetragen. Verweben, verbessern, zusammenarbeiten und erneuern lauten die vier übergeordneten Ambitionen für das Projekt. Im Mittelpunkt ihrer Überlegungen stehen die Einwohner*innen Nageles und die potenziellen Besucher*innen des Ortes. Die starre Grenze zwischen Dorf und Polder soll aufgebrochen werden, sodass Landwirtschaft und Dorfleben stärker miteinander verwoben werden. Von einer Nachverdichtung soll großteils abgesehen werden, stattdessen soll eine Erweiterung außerhalb des bestehenden Dorfes erfolgen.

Der erste Schritt ist getan, und das Dokument wurde vom Gemeinderat abgesegnet. Dadurch konnten dérive in Zusammenarbeit mit lokalen Akteur*innen den Grundstein für die weiteren Entwicklungen in Nagele legen. Das Dokument soll Planenden als Leitfaden dienen und auf andere Dörfer in der Umgebung übertragen werden können.