Kontaktaufnahme per Film: Geschichten vom Schwarzen Berg

Welches Potenzial steckt im Filmemachen für Architekturausbildung und Berufspraxis? Das beleuchteten Studierende, die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Ayat Tarik und Licia Soldavini und Filmemacher Jan-Holger Hennies am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt (GTAS) der Technischen Universität Braunschweig. Unter dem Titel „Wenn Wände reden könnten …“ begaben sie sich im Sommersemester 2022 zum Stadtteil Schwarzer Berg. Dabei drehten die Studierenden-Teams fünf Filme, die Geschichten von Menschen, Plätzen und Gebäuden des Viertels erzählen.

Linien und Schraffuren in räumliche Strukturen überleiten, Raumprogramme abarbeiten und streng festgelegte Nutzungen gliedern – wer Architektur studiert, ist schnell verleitet, anhand tradierter Weltbilder zu abstrahieren und zu ordnen. Genau das hinterfragt das Team am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt (GTAS) der TU Braunschweig fortlaufend und bietet Alternativen zu solchen Lern- und Lehrpraktiken an. So auch im Sommersemester 2022: Begleitet von den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Ayat Tarik und Licia Soldavini und Filmemacher Jan-Holger Hennies erkundeten zwölf Studierende den Braunschweiger Stadtteil Schwarzer Berg. Im Seminar „Wenn Wände reden könnten …“ ging es für die Studierenden darum, ihre analytischen Fähigkeiten durch Beobachten und Zuhören zu schärfen und mit erzählerisch-filmischen Mitteln Geschichten zu produzieren.

Der Schwarze Berg – ein weißer Fleck?

Das Seminar ist Teil der Reihe „Institut für öffentliche Angelegenheiten“, kurz IfoeA. Seit dem Sommersemester 2020 gibt es die Reihe, in der die Architekturstudierenden aufgefordert sind, sich raus aus der Universität und rein in den Stadtraum zu ziehen und sich mit den alltäglichen Anliegen der Bewohner*innen Braunschweigs auseinanderzusetzen. Selbst für viele Menschen aus Braunschweig ist der Schwarze Berg eher unbekanntes Terrain. Das Viertel liegt hinter einer Hochhausscheibe am Stadion und dem umwaldeten Ölper See versteckt. Manche kennen das gut besuchte Eiscafé Dolomiti in der zentralen Ladenstraße des Viertels. Einige der dortigen Lokale stehen jedoch leer. Bevor sie wissenschaftliche Mitarbeiterin wurde, ergriff Ayat Tarik die Initiative und ging auf die Bewohner*innen zu. Schließlich stand das Viertel im Fokus ihrer Master-Arbeit, an deren Ende sie die Initiative Quartier:PLUS ins Leben rief und das Quartier:Haus in einem der Leerstände eröffnete. Drinnen und draußen geben seitdem Aktionen Gelegenheit zum Treffen, Plaudern und Mitmachen: Kochen und Speisen, Spaziergänge, Flohmärkte und vieles mehr. „Gemeinsam Ideen entwickeln, um das Quartier lebendiger zu gestalten“ – dazu lädt Ayat Tarik ein. Das Quartier:Haus wurde auch zur Basis für die Seminarsitzungen. Bei einem der ersten Termine startete von hier aus ein Stadtspaziergang, der die Studierenden mit Orten und Menschen am Schwarzen Berg in Kontakt brachte. 

Annäherung an Orte und Filmpraktiken

Bevor die Studierenden mit dem Dreh des eigentlichen Films begannen, bekamen sie zwei Aufgaben, die sie alleine beziehungsweise nach Einteilung der Gruppen bearbeiten sollten. Die Ergebnisse aus beiden Übungen wurden gemeinsam mit dem Lehr-Team im Seminar angeschaut und diskutiert. Mithilfe der Vorübung sollten die Studierenden einerseits beginnen, ein Gefühl und eine kritische Haltung für die eigene Bildproduktion zu entwickeln. Genauso sollten sie dabei bereits erste Ideen sammeln für die anschließenden Filmprojekte.

In der ersten Übung sollten die Studierenden einen Ort am Schwarzen Berg detailliert beobachten und anschließend diesen anhand dreier Motive vorstellen. In der zweiten waren die frisch gebildeten Dreiergruppen aufgefordert, das Einkaufszentrum zu einer bestimmten Uhrzeit zu besuchen. Dort sollten sie ihren Blick auf das Einkaufszentrum und die Potenziale, Probleme und Menschen vor Ort aufzeichnen und eventuell sogar ein kurzes Interview führen.

Das Seminar-Team hat den Studierenden zudem eine Auswahl von Filmen als Inspiration gezeigt. Darunter waren „Foreign Parts“ von Véréna Paravel und John Paul Sniadecki – als Beispiel für einen Film im Stile des Observational Documentary – und „The Gleaners and I“ von Agnès Varda – als Beispiel für einen essayistischen Film. Auch ein Gastvortrag der in Mexiko lebenden Sozialwissenschaftlerin und experimentellen Filmemacherin Christiane Burkhardt über ihre video-essayistische Arbeit war Teil des Seminarprogramms. Die drei Lehrenden selbst trugen mit ihren unterschiedlichen Perspektiven aus Filmpraxis, Soziologie, Stadtforschung, Architektur und gemeinwohlorientierter Stadtentwicklung bei.

Filmvorführung im Ladenlokal

Am 28. Juli 2022 war es dann soweit: Die wenige Minuten langen Filmstücke wurden im Einkaufszentrum am Schwarzen Berg präsentiert. Anwesend waren nicht nur die Studierende und Lehrenden, sondern viele Freund*innen und zahlreiche Menschen aus dem Viertel und der weiteren Stadt. Der Abend begann mit dem Film „Gegenwart und Vergangenheit“ von Feyza Arkun, Lars Malte Justi und Felix Luther. Zeitzeuge Hans Lohmann erzählt darin von der Zeit, als er und der Stadtteil in den 1960er-Jahren noch jung waren. Für ihren Film „Ankommen. Begegnen. Bleiben.“ hielten Ahmad Al Kadri, Philipp Bestehorn und Jonas Halbrügge Alltag und Stimmen von Mitarbeiter*innen der Eisdiele und des syrischen Supermarkts sowie einiger Anwohner*innen fest. Julius Brandis, Alexandra Dücker und Sophie Knaus erkundeten für ihren Film „Liebenswerte Leere“, wer sonst im Einkaufszentrum am Schwarzen Berg einkauft und arbeitet, wer sich kennt und schätzt. Sie vergleichen den Ort anhand der Schloss Arcaden in Braunschweigs Innenstadt mit großen Shopping Centern. Ganz ohne Interviewstimmen nahmen Antonia Cordes, Lotta Theuerkauf und Victoria Walter die Zuschauer*innen mit auf eine Tagesreise durchs Viertel – von „Fünf bis Elf“. Wann öffnen die ersten Geschäfte? Wo ist es noch erlaubt, auf dem Rasen zu sitzen? Was machen hier Kinder nach Schulschluss? Im fünften Film, „Bunter Berg“ zeigten Alwin Foerstner, Hans Kwyan Lat und Lennard Schmuck, wie sie durch eine Aktion vor dem Quartier:Haus mit vielen Bewohner*innen ins Gespräch kamen und von ihren Wünschen und Visionen erfuhren.

Das Erlernte in die Welt tragen

Im Laufe des Abends hatte das Publikum mehrfach Gelegenheit, mit den Studierenden über ihre Filmprojekte zu sprechen. Manche erkannten sich in den Aufnahmen wieder. Andere knüpften an die Geschichten der Filme an, und regten dazu an, sich noch mehr mit den Hintergründen und Verflechtungen zu beschäftigen. In der Regel bleiben die unzähligen Pläne und Modelle, die Ideen und Konzepte, an denen Architekturstudierende tage- und nächtelang arbeiten, einem breiten Publikum verborgen. Viele Projekte verschwänden im Architektur-Pavillon, bemerkte Tatjana Schneider, Professorin des GTAS, am Ende der Filmvorführungen. Obwohl öffentlich zugänglich, verirren sich nur selten Leute außerhalb der Universitätskreise zu den Abschlusspräsentationen in das versteckte Hinterhofgebäude. Für die Filmvorführung hat das GTAS-Team einen anderen Ort gewählt: Ein leerstehendes Ladenlokal gegenüber des Quartier:Hauses wurde kurzerhand zu einem kleinen Kinosaal umfunktioniert.

Was bleibt vom Engagement der Studierenden? Auch diese Frage tauchte am Ende der Filmvorführung auf. Einige wünschten, dass sich mehr junge Menschen ins Braunschweiger Stadtleben einbringen, besonders an Orten wie dem Schwarzen Berg. Was die Seminarteilnehmer*innen schon jetzt erreicht haben: Sie haben Geschichten und Wünsche dokumentiert, haben Probleme, Potenziale und buchstäblich Freiräume sichtbar gemacht – sie sind hineingeraten in den Austausch mit den Bewohner*innen. Wenn nicht in dieser Stadt, dann tragen die Erfahrungen, die die Studierenden im Laufe des Filmprojekts sammelten, vielleicht an anderen Orten Früchte.