Architektur als Verantwortung: Zwei Jahre Entwurfsforschung zu Immobilien der ETH Zürich
Was passiert, wenn Studierende das Immobilienportfolio ihrer eigenen Universität neu denken? Über mehrere Semester hinweg entwickelten Studierende alternative Zukunftsszenarien für die Gebäude der ETH Zürich – zwischen Klimazielen, Leerstand und institutioneller Verantwortung.

Seit Herbst 2023 erforschen Studierende und Lehrende des Chair of Affective Architectures unter der Leitung von Prof. An Fonteyne die räumlichen Strategien der Gebäude, die die ETH Zürich besitzt. Während der zweijährigen Zusammenarbeit mit der ETH Real Estate hinterfragten sie kritisch das Portfolio und die Strategien der eigenen Universität. Das Ziel: Die Immobilien der Hochschule nicht nur als technisches oder wirtschaftliches Konstrukt zu betrachten, sondern als politisch, sozial und kulturell gestaltbare Realität.
In drei aufeinanderfolgenden Semestern und einem laufenden Studio analysierten die Studierenden Flächenbedarf, Nutzung, Leerstand, Wachstum und Klimaziele. Sie zeichneten Entscheidungsprozesse nach, erarbeiteten Fallstudien und entwarfen alternative Zukünfte jenseits neoliberaler Denkmuster. So entstanden über 80 Entwurfsarbeiten, die als Referenz für künftige Projekte dienen könnten.
Vom Kompetenzzentrum zur räumlichen Intervention
In Zürich besitzt die ETH 211 Gebäude im Wert von fünf Milliarden Franken – ein Einfluss, der Stadt, Region und Land prägt. Das Herbstsemester 2023 begann mit einer Bestandsaufnahme der Gebäude, Campusareale, öffentlichen Räume und Landschaften unter dem Titel „Inconvenience“. Um die Perspektive der Institution einzunehmen, gründete das Studio das fiktive Competence Center for Spatial Politics (ETH-SP). Fünf selbstorganisierte Teams untersuchten strukturelle, politische und ökonomische Aspekte der ETH-Immobilienstrategie. Sie kartierten über 200 Gebäude, analysierten Leerstände, Finanzierungssysteme und Steuerungsinstrumente. In Rollenspielen vertraten sie die Perspektiven institutioneller Akteur*innen, um Entscheidungsprozesse nachzuvollziehen.
Erste Fallstudien hinterfragten Wachstumslogiken und zeigten räumliche und programmatische Potenziale des Bestands: Trotz steigender Studierendenzahlen stehen bis zu 40 Prozent der Flächen wegen ineffizienter Nutzung leer. Das ETH-SP forderte daher einen kritischen Umgang mit Raum: programmatische Verdichtung, ökologische Prinzipien und flexible Nutzungsmodelle.

Im Frühlingssemester 2024 stand die Transformation im Mittelpunkt. Unter dem Leitthema „Courage“ untersuchten die Studierenden sechs ETH-Gebäude im Stadtzentrum. Statt klassisch zu entwerfen, sollten sie zunächst dekonstruieren: Sie entfernten bauliche Überlagerungen, analysierten historische Strukturen, und suchten gezielt nach räumlicher Qualität. Es galt, öffentliche Räume neu zu definieren, informelle Nutzungen zu integrieren und die Qualitäten der bestehenden Architektur zu stärken. So entstand ein neues Verständnis von „Wachstum“ – nicht durch mehr Raum, sondern durch bessere Nutzung. Die Entwürfe verbanden architektonische Räume mit institutionellen Zukunftsvisionen.

Campus Hönggerberg und die verdrängten Orte
Im Herbstsemester 2024 teilte sich das Projekt in zwei thematische Schwerpunkte – „Curiosity“ und „Outcasts“ – auf. Der Studioteil „Curiosity“ fokussierte sich auf den Campus Hönggerberg, den künftigen Expansionsort der ETH. Die zentrale Frage lautete: Braucht räumliches Wachstum neue Gebäude? Die Teilnehmenden analysierten das bestehende Campusgefüge vom Hochbau bis zur Tiefgarage. Mithilfe großmaßstäblicher Modelle und auf Basis von Interviews mit Nutzer*innen entwickelten sie präzise Eingriffe, die soziale Interaktion fördern, Komfort neu definieren und ökologische Verantwortung mitgestalten. Die Vorschläge reichten von programmatischen Überlagerungen bis zur Reaktivierung vernachlässigter Räume. Bemerkenswert: Viele Ideen stimmten mit Überlegungen der ETH-Immobilienabteilung überein, mit der ein regelmäßiger Dialog stattfand.

Parallel dazu widmeten sich Diplomstudierende den „Outcasts“ – den „ausgestoßenen“ Gebäuden im Portfolio. Wohnbauten, die nicht mehr zu den institutionellen Kernzielen zählen, stehen vor dem Verkauf. Die Studierenden entwickelten Strategien zur Sicherung öffentlicher Räume: Re-Use-Konzepte, energetische Nachrüstungen, neue Governance-Modelle. Besonders stark war die politische Dimension der Arbeiten: Die Projekte verknüpften gestalterische Ansätze mit gesellschaftlichen Forderungen, etwa nach gerechter Stadtentwicklung und Ressourcenschonung. Architektur wurde als Instrument institutioneller Verantwortung verstanden.

Haus als Erzählung und die Suche nach Zukunft
Alle Studios etablierten den intensiven Austausch zwischen Forschung, Entwurf und Realität. Ein methodischer Erkenntnisgewinn kristallisierte sich heraus: Wandel gelingt durch architektonische Haltung, nicht allein durch institutionelle Nähe. Die Projekte sollen ETH Real Estate als Referenz dienen. Ob sie umgesetzt werden, bleibt offen – doch die gestellten Fragen bleiben relevant.
Und jetzt? Im Frühlingssemester 2025 steht ein Perspektivwechsel an. Unter dem Titel „House as a Story – Story as House“ und im Diplom „The Highest Bidder“ rücken kleinere ETH-Gebäude in den Fokus, etwa das Atelier Gisel. Diese oft übersehenen historischen Wohnhäuser dienen als Ausgangspunkt für narrative Entwürfe.
