Tankstellen, Nichtlösungen und Poesie: Das sind die Lieblingsbücher der Verlage
Jedes Jahr erscheinen zahlreiche neue Fachbücher für Architektur und verwandte Themen. Wir haben sechs Verlage nach ihren Highlights des Jahres 2024 gefragt. In diesem #BookChat präsentieren wir euch ihre Auswahl.
Bei der großen Auswahl an Fachbüchern, die Jahr für Jahr erscheinen, können Leser*innen schnell den Überblick verlieren. Zum Jahresende haben wir für euch an der Quelle nachgefragt. Sechs Fachverlage haben uns jeweils ihr Highlight des Jahres 2024 verraten. Von heiterer Architektur aus Turin über Tankstellen in der Schweiz bis hin zu kuriosen Fehlplanungen in der Landschaftsarchitektur – die Bandbreite der Themen ist groß.
Jaretti & Luzi
In nur zwei Jahrzehnten schufen die Turiner Architekten Sergio Jaretti und Elio Luzi ein verspieltes Werk voller Details, das dem Rationalismus der italienischen Moderne und dem standardisierten Massenwohnungsbau der Nachkriegszeit ein Pendant entgegensetzt. Zwischen 1954 und 1974 realisierte ihr Büro über 20 Bauwerke in und um Turin, vorwiegend Wohngebäude. Die Herausgeber Bernd Schmutz und Dominik Fiederling würdigen in der Monografie „Jaretti & Luzi – Wohnbauten in Turin 1954–1974“ erstmals das vielschichtige Gesamtwerk der bisher wenig bekannten Architekten. Interviews und Gespräche mit Sergio Jaretti, der Familie, dem Bauunternehmer, Statiker*innen, Historiker*innen und Freund*innen bilden die Grundlage der Publikation. Im Mittelpunkt stehen die atmosphärischen Bildessays des Fotografenkollektivs The Pk. Odessa Co.
Domenica Schulz und Lara Kroha vom Verlag Park Books sagen dazu: „Jaretti & Luzi. Wohnbauten in Turin 1954–1974 ist dieses Jahr wohl unser Hero – weil es, salopp gesagt, einfach geile Architektur zeigt. Ein farbenfrohes, großartig illustriertes Buch, das uns im Büro immer wieder schmunzeln lässt.“
Filling Stations
Auch wenn das Ideal der autogerechten Stadt überholt ist, bleiben die Relikte dieses Traums vielerorts sichtbar. Eines davon ist ein engmaschiges Tankstellennetz. Dem Gebäudetyp Tankstelle hat das Laboratory of Elementary Architecture and Studies of Types (Laboratory EAST) der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) ein Buch gewidmet, das bereits durch seinen waldgrünen Leineneinband mit leuchtend roter Typografie ins Auge fällt. Die Publikation beleuchtet die architektonische Entwicklung von Tankstellen, beeinflusst von Mobilität, Konsumverhalten, ökologischem Bewusstsein und dem ästhetischen Zeitgeist. Außerdem zeigen die Herausgeber*innen ihr Potenzial für neue Nutzungen auf. Im ersten Teil geht es um die Entwicklung der architektonischen Form dieses Bautyps, seinen Beitrag zum sogenannten „Petroleumscape“ und die Auswirkungen alternativer Kraftstoffe auf die zukünftige Gestaltung von Tankstellengebäuden. Im zweiten Teil analysieren Studierende des Designstudios EAST ausgewählte Tankstellen in der Region rund um den Genfer See.
„Filling Stations liefert einen Beitrag zur Neudefinition einer Typologie, die wir alle kennen und deren Um- und Weiternutzung ungewöhnliche Konzepte und neue typologische Strategien aufzeigt“, begründet Andrea Woods vom Triest Verlag die Wahl ihres Highlights des Jahres. Damit spiegele das Buch die zentralen Themen des Architekturprogramms von Triest: die Transformation des Gebäudebestands und ein neuer Blick auf das Bestehende.
Elegies
Ein ungewöhnliches Buch, das die Voluptas Professur von François Charbonnet und Patrick Heiz an der ETH Zürich herausgab, hat der Verlag M BOOKS zu seinem Highlight des Jahres erkoren. Der Titel „Elegies“ leitet sich aus dem Buch „Histoire(s) du Cinéma“ ab, das 1998 nach der Fertigstellung von Jean-Luc Godards gleichnamigen experimentellem Videoprojekt erschienen ist. „Histoire(s) du cinéma“ besteht fast ausschließlich aus visuellen, textlichen und auditiven Zitaten. Auf poetische Art und Weise wird in dem achtteiligen Videoprojekt der Verlauf des 20. Jahrhunderts mit der Geschichte der Filmindustrie verwoben. In „Elegies“ werden ausgewählte Abschnitte oder Verse der „Histoire(s) du cinéma“ einer eklektischen Bildauswahl gegenübergestellt. Besonders sind dabei der Aufbau und die Bindung des Buches: Es handelt sich um eine sogenannte Altarfalz, auf deren linken Seite die Textfragmente und auf deren rechten die Bilder angeordnet sind. Eine Seitenzahlangabe am unteren Seitenrand verweist auf das korrespondierende Pendant. So steht beispielsweise auf der ersten Seite „don't show // every side of things“. Eines der zugeordneten Bilder ist das bekannte Gemälde „L'origine du monde“ von Gustave Courbet.
Michael Kraus vom Verlag begründet seine Entscheidung folgendermaßen: „Das Buch entwickelt seinen Reiz aus der Überzeugung, dass den Bildern, die wir wahrnehmen und konsumieren, immer auch ein Diskurswert immanent ist, sie daher die Kraft haben, ein generatives Moment für den architektonischen Entwurf zu setzen.“
Nonsolution
Bei der Suche nach Lösungen etwa für ökologische, soziale und politische Krisen unserer Zeit werden die dahinterliegenden Probleme oftmals nicht richtig erkannt und adressiert. Dadurch werden problematische Strukturen verstärkt, statt aufgehoben. Gabu Heindl und Drehli Robnik veranschaulichen dieses Phänomen am Beispiel der Wohnungsnot, dem in der Regel durch Neubau begegnet wird. Von dieser Lösung profitieren in erster Linie Investor*innen. Die Autor*innen schlagen mit „Nonsolution“ einen radikaldemokratisch politisierten Ansatz zum Problem der Lösung vor. Mit Blick auf den Wohn- und Städtebau kritisieren sie die unhinterfragte Suche nach Lösungen und fordern, Probleme zu redefinieren.
Heterogeneous Constructions
Trotz der Beton-Stahl-Monokultur der Moderne gibt es weltweit eine reiche Tradition an Bauweisen, die auf einer Materialheterogenität basieren. In unserer Focus-Ausgabe „Bauaufnahme heute“ stellten wir euch das Projekt „Sticks and Stones“ der Architekt*innen Aaron Forrest, Yasmin Vobis und des Bauingenieurs Brett Schneider vor. In dem Projekt untersuchten sie die Möglichkeiten und Herausforderungen des Materialmix in der Architektur. Entstanden sind unter anderem eindrucksvolle, farbkodierte Zeichnungen exemplarischer Bauwerke, die in dem Buch „Heterogeneous Constructions“ neben Fotografien und kurzen erläuternden Texten versammelt sind. Darüber hinaus enthält die im Birkhäuser Verlag erschienene Publikation ausführliche Essays zu den technischen, kulturellen und ökologischen Implikationen heterogener Bauweisen. „Besonders begeistert hat mich die hochwertige Gestaltung: Die farbkodierten Zeichnungen und der Druck mit sieben Sonderfarben machen das Buch zu einem echten Erlebnis. Ein Werk, das Inhalte und Design auf außergewöhnliche Weise vereint!“, findet Nicole Schwarz vom Verlag.
Sh*tscapes
Ein kleines, humorvolles Büchlein erreichte uns aus dem JOVIS Verlag. Im Gegensatz zu den scheinbar makellosen Darstellungen perfekter Projekte, die uns täglich in der Medienlandschaft und auf Social Media begegnen, zeigt „Sh*tscapes“ die Fehlgriffe der Landschaftsarchitektur. Anhand von 100 missglückten Beispielen zeigen die Autoren Vladimir Guculak und Paul Bourel mit einem Augenzwinkern Fehler auf und liefern gleichzeitig praktische Lösungen, wie diese vermieden werden können. „Es erinnert uns daran, dass wir aus Missgriffen lernen können und sie mit einem Schmunzeln als Teil des Prozesses akzeptieren sollten. Ein wirklich inspirierendes und unterhaltsames Werk!“, lautet das Fazit des Verlags.