Heteronormativität durchbrechen: Der Chair of Unlearning

Im Rahmen ihrer Bachelorarbeit setzen sich drei Studentinnen mithilfe eines eigens gegründeten Lehrstuhls für einen anti-rassistischen, feministischen und intersektionalen Diskurs in der Architekturdisziplin ein.

Unsere Gesellschaft ist von einem patriarchalen System geprägt, das auch vor der Architekturdisziplin keinen Halt macht. Während soziale Bewegungen wie #MeToo oder Black Lives Matter Fahrt aufnehmen, gehören Rassismus und Sexismus in der Architekturlehre und –praxis häufig noch zum Alltag. Diese Erfahrung machten auch Elena Spatz, Lisa André und Marie Gnesda, als sie ihr Architekturstudium an der Technische Universität München (TUM) begannen. Nach und nach wuchs in ihnen deshalb der Wunsch, Veränderungen anzustoßen, woraufhin sie sich die „Interventionsklasse“ der Professur für Urban Design als Hebel zu Nutze machten. Das von Prof. Benedikt Boucsein und Matthias Faul geleitete Format erlaubt es Studierenden, das Thema ihrer Bachelorarbeit frei zu wählen. Im Sommersemester 2022 riefen die drei Studentinnen den Chair of Unlearning ins Leben: den ersten studentisch gegründeten Lehrstuhl der TUM. Mit verschiedenen räumlichen Interventionen, einer Ausstellung, Vorträgen oder  Seminaren engagieren sie sich seitdem für eine Architekturlehre abseits von heteronormativen Vorbildern.

#ToBeContinued präsentiert Abschlussprojekte, die eine Geschichte erzählen: Konzepte, die weiterentwickelt und umgesetzt wurden und den Absolvent*innen einen erfolgreichen Berufseinstieg ermöglicht haben.

Egalität statt Diskriminierung

Im Sinne der Gleichberechtigung sind den Studierenden viele Baustellen an der Universität aufgefallen. Große Namen wie Adolf Loos, Richard Meier, Philip Johnson in der Architekturgeschichte sind nämlich nicht nur hauptsächlich weiß, männlich und cisgender, sie haben oft auch einen problematischen Ruf. Dennoch werden ihre Werke in den Hörsälen nicht selten unreflektiert vermittelt. Die Lehre fokussiert sich außerdem weitgehend auf die westliche Welt – Lehrinhalte über die Architektur Afrikas oder Asiens gehören nicht zum Standard. Doch nicht nur in der Architekturgeschichte, auch in den Unis selbst fühlen sich viele angehende Architekt*innen oftmals nicht ausreichend repräsentiert, denn auch die Lehrpersonen spiegeln die Normativität der Disziplin wider. Dazu kommt, dass die Architekturausbildung neoliberale Selbstausbeutung akzeptiert oder sogar aktiv fördert. Nachtschichten und Wochenendarbeit gehören zum guten Ton – vereinbar mit einer Familie ist das nicht. Erklärtes Ziel des Chair of Unlearning ist es aus diesem Grund, diskriminierende Schein-Selbstverständlichkeiten zu verlernen und stattdessen neue Praktiken in der Lehre zu verankern, die egalitäre Strukturen ermöglichen.

Ablenken, verlernen, neu lernen

Neben einer intensiven theoretischen Auseinandersetzung, einem Manifest und konkreten Forderungen an die Uni setzte sich Elenas, Lisas und Maries Bachelorthesis aus drei Teilen zusammen: distract, unlearn und relearn. Mit den „COU Papers“ und „COU Stickers“ lenkten sie vom gewohnten status quo ab. Plakate und Aufkleber auf Toiletten und Gängen provozierten mit Aussagen wie „form follows white privilege“ und sollten Mitstudierende und Lehrende zum Nachdenken anregen. Im nächsten Schritt schufen die drei Studentinnen mit einem kollektiven Mittagessen und einem Linoldruckworkshop auf dem Campus Räume für einen Diskurs, der höchstwahrscheinlich, in den gewohnten universitären Strukturen so nicht möglich gewesen wäre. Mit Vorlesungscrashs unterbrachen sie den universitären Alltag und klärten über die Missstände in der Architektur auf. Zuletzt entwarfen sie diskriminierungsfreie räumliche Strukturen: Beispielsweise sollte ein hierarchieloser Sitzkreis eine Zwischenkritik ermöglichen, bei der der Fokus auf Erzählen und Zuhören, nicht auf Präsentieren und Kritisieren liegt. Die Aktionen kulminierten in dem Seminar „empowering student postions. Wie könnte eine Lehre für alle aussehen?“, das sie im Wintersemester 2022/23 am Lehrstuhl für Architekturgeschichte und kuratorische Praxis von Prof. Andres Lepik hielten und mit der Ausstellung „Architektur diskriminiert“ abschlossen.

Unterstützung in Netzwerken

Unterstützung bekamen die drei Studentinnen von Expert*innen für Soziologie und Gender Studies innerhalb des Unikontextes, mit denen sie aktiv das Gespräch suchten. Weitere Kontakte entstanden durch das Parity Board, das Gleichstellung am Department for Architecture der TUM dient und an dem Elena angestellt ist. Außerdem schloss sich der Chair of Unlearning mit anderen Architekturstudent*innen, die dieselben Themen beschäftigen, zum Kollektiv „SOFT - School of Transformation“ zusammen, das auch heute noch an der Uni aktiv ist. Das entstandene Netzwerk verhalf den drei Absolventinnen beispielsweise auch zur Einladung zu einem Urban Talk an der Floating University in Berlin oder zur Konferenz „New European Bauhaus: Upskilling X (Education+Practice)“ des ACE (Architects‘ Council of Europe) und der EAAE (European Association for Architectural Education) in Brüssel. Heute agieren Elena, Marie und Lisa über drei Standorte verteilt - München, Zürich und Wien - und setzen sich beispielsweise als Teil der Urbanen Liga für einen multiperspektivischen Blick auf Stadtplanung ein.