Spezialist*innen für das große Ganze: Oya Atalay Franck über Ausbildung und die Rolle von Architekt*innen
Die Architektin, Architekturhistorikerin und Pädagogin Prof. Oya Atalay Franck ist Professorin und Dekanin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) sowie Präsidentin der European Association for Architectural Education (EAAE). Wie sich die Architekturausbildung verändern muss und warum das Bild von Architekt*innen als Generalist*innen nach wie vor gültig ist, verriet sie uns im Gespräch.
Ihre Forschung und Arbeit konzentrieren sich stark auf die Architekturausbildung und die sich wandelnde Rolle von Architekt*innen. Welche Veränderungen haben Sie in diesem Bereich beobachtet und welche weiteren halten Sie für notwendig?
Oya Atalay Franck: Unsere Gesellschaften stehen vor kritischen Entwicklungen, die mit einer noch nie dagewesenen Beschleunigung des Wandels einhergehen. Zu den Hauptproblemen gehören Klima- und Umweltveränderungen, die Erschöpfung natürlicher Ressourcen, demografische Veränderungen, Konflikte und neue Technologien wie künstliche Intelligenz. Dies hat unweigerlich Auswirkungen auf die Architekturausbildung und -praxis. Die Studierenden von heute müssen andere Fähigkeiten erlernen und anderes Wissen erwerben als ihre Vorgänger*innen vor 50 oder 100 Jahren.
Das Bauwesen hat einen immensen Einfluss auf unsere sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Systeme und damit auf unser Leben. Architekturschulen tragen die Verantwortung, ihre Studierenden auf die Berufswelt von morgen vorzubereiten. Um die neue Generation von Fachleuten zu befähigen, diese Herausforderungen in nachhaltige Bauprogramme umzusetzen, muss eine radikale Neuausrichtung der Architekturausbildung erfolgen. Wir müssen die Lehrpläne reformieren und die Lehrmethoden überarbeiten – nicht nur, um sie auf dem neuesten Stand zu halten, sondern auch, um ihre Relevanz für Architekt*innen und Planer*innen zu sichern. Dies wirft auch Fragen über die Zukunft der Architektur als Beruf und die sich entwickelnde Rolle der Architekt*innen auf.
Viele der genannten Herausforderungen bieten auch Chancen, Dinge anders – und besser – zu machen. Sie sind eine Legitimation und ein Anstoß, über den Tellerrand hinauszuschauen, Risiken einzugehen und Innovation und Kreativität voranzutreiben – alles mit dem Ziel eines konstruktiven Wandels. Was aus meiner Sicht nach wie vor gültig ist, ist das Argument für die Rolle der Architekt*innen als Generalist*innen. Je komplexer die Herausforderungen werden, die wir zu bewältigen haben, desto größer ist auch der Bedarf an „Spezialist*innen für das große Ganze“.
Sie sind Präsidentin der European Association for Architectural Education (EAAE). Welches sind die wichtigsten Ziele der Organisation, um die Zukunft der Architekturausbildung zu gestalten?
Oya Atalay Franck: Die EAAE/AEEA fördert die Qualität der Architekturausbildung und -forschung und damit die Qualität der Architektur und der Baukultur insgesamt. Sie ist das führende Forum in Europa für die Generierung und Verbreitung von Wissen rund um die Architekturausbildung und -forschung. Dabei unterstützt sie die Interessen ihrer mehr als 150 Mitgliedsschulen und der Gesellschaft im Allgemeinen durch Veranstaltungen, Arbeitsgruppen und diverse Projekte. Um seine Reichweite zu vergrößern und ein besseres Verständnis der breiteren Situation zu erlangen, hat der Verband seine Zusammenarbeit mit ähnlichen Organisationen und Berufsverbänden sowie mit Regierungen auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene intensiviert. Durch diese Bemühungen trägt die EAAE zur Ausbildung und Befähigung künftiger Generationen von Architekt*innen, Designer*innen und Planer*innen bei und fördert deren Entwicklung zu kreativen, sozial verantwortlichen und kulturell engagierten Bürger*innen. Die Aktivitäten der EAAE bringen Personen aus Forschung, Pädagogik, Praxis und weitere Beteiligte zusammen, um Ideen auszutauschen, neues Wissen, Methoden und Strategien zu teilen und darüber nachzudenken.
In letzter Zeit lag unser Schwerpunkt auf der Architekturausbildung als Mittel des Wandels – in meinen Augen ein sehr aktuelles und wichtiges Thema. Veränderungen sind notwendig: in der Art und Weise, wie wir entwerfen und bauen, wie wir als Gesellschaft zusammenarbeiten und wie wir im Allgemeinen leben. Ein*e Akteur*in des Wandels zu sein bedeutet, sich zu kümmern – um andere, um unsere Gemeinschaften und um die Biosphäre. Es bedeutet auch, dass wir nicht nur um unserer selbst willen handeln, sondern um aller willen.
Die diesjährige EAAE-Konferenz in Münster steht unter dem Motto „Less is Must“. Wie interpretieren Sie dieses Thema hinsichtlich der aktuellen architektonischen Herausforderungen?
Oya Atalay Franck: Weniger Abfall, weniger Überfluss, weniger Nachlässigkeit gegenüber den Auswirkungen unseres Verhaltens. Vor dem Hintergrund der Herausforderungen, vor denen wir stehen, ist der Übergang von der linearen zu einer zirkulären Wirtschaft entscheidend. Dies muss die Grundlage sowohl für die Architekturlehre als auch für die Praxis werden. Das Thema der Konferenz ist eng mit diesem Schwerpunkt verknüpft: Reduzieren, Wiederverwenden, Recyceln, Reparieren – Suffizienz priorisieren.
Es wäre jedoch illusorisch und kontraproduktiv zu glauben, dass diese Ziele allein durch Verzicht oder Reduktion erreicht werden können. Neue Bauvorhaben wird und muss es immer geben. Der Schweizer Architekt Luigi Snozzi hat es so formuliert: „Welche Energieverschwendung, welch ein Aufwand, um zu lüften, zu heizen, zu beleuchten … wenn ein Fenster genügt!“ Der Innovation sind keine Grenzen gesetzt, doch Grenzen regen unsere Fantasie an. Als Architekt*innen, Planer*innen, Designer*innen, Pädagog*innen und Forscher*innen sind wir in der Position, bei allen relevanten Maßnahmen im Bereich der gebauten Umwelt eine Führungsrolle zu übernehmen. Im Rahmen der Konferenz an der Münster School of Architecture wollen wir uns intensiv mit dem auseinandersetzen, was wir diskutiert und getan haben sowie was wir weiterhin tun müssen, um eine nachhaltige und dennoch qualitativ herausragende Baukultur zu entwickeln.
Was sind aus Ihrer Sicht die drängendsten Probleme unserer Zeit, mit denen sich heutige und zukünftige Architekt*innen auseinandersetzen müssen? Wie können wir die kritischen Themen unserer Zeit effektiv in die Architekturausbildung integrieren?
Oya Atalay Franck: Ungewissheit und Wandel waren schon immer Teil der menschlichen Existenz. Als Architekturschulen müssen wir unsere Studierenden auf einen selbstbewussten und kreativen Umgang mit Veränderungen vorbereiten. Wir müssen sie mit dem Wissen, den Methoden und den Fähigkeiten ausstatten, die sie für die heutige und künftige Berufswelt benötigen – vor allem aber müssen wir ihre Neugierde wecken. Und nicht zuletzt müssen wir künftige Generationen befähigen, Herausforderungen in Chancen zu verwandeln.
Aber auch hier gilt: Wir sollten die Herausforderungen, vor denen wir stehen, als fruchtbaren Boden für unkonventionelle Ansätze erkennen. Dabei ist die Bildung von Allianzen und Förderung der Interdisziplinarität zur Entwicklung innovativer Methoden essenziell. Außerdem muss das systemische Denken gefördert werden, um Zusammenhänge zu verstehen und Synergien zu schaffen. Das kontinuierliche Lernen und der Erwerb neuer Fähigkeiten sollten auch nach dem Studium gefördert werden. Durch den sinnvollen Einsatz von Technologie und KI können zudem die menschlichen Fähigkeiten erweitert werden.
Wir leben in einer Zeit, in der sich die Wissensproduktion auf ein noch nie dagewesenes Tempo beschleunigt hat und nahezu unbegrenzt verfügbar ist. Gleichzeitig hat die Allgegenwart des Wissens die Welt vernetzter und komplexer gemacht. Um diese Komplexität in den Bereichen Bildung und Bauforschung wirksam zu bewältigen, brauchen wir gezielte Innovation und spezifisches Wissen. Wir brauchen kritisches Denken und vor allem die Fähigkeit, das „große Ganze“ zu sehen und zu verstehen und nicht nur seine vielen und zunehmend winzigen Teile. Was auch immer wir als Akademiker*innen und Fachleute tun, wir müssen uns immer bewusst sein, dass wir für die Verbesserung unserer Gesellschaften arbeiten. Wir müssen zuversichtlich und bescheiden zugleich sein und uns stets der Verantwortung bewusst sein, die wir bei der Nutzung und dem Schutz der uns zur Verfügung stehenden Ressourcen tragen.
Wir begeben uns ständig auf eine neue diskursive Reise in der Architekturausbildung und erforschen, wie Lehrende und Forscher*innen nicht nur in ihren Institutionen, sondern auch in einer Welt, die sich schnell verändert und vor immensen Herausforderungen steht, etwas bewirken können. Architektur, Ingenieurwesen, Planung und Design sind Disziplinen mit einer enormen – und äußerst lohnenden – Verantwortung für die Ökologie unserer Gesellschaft. Dafür müssen wir uns unermüdlich vernetzen, mitgestalten und verändern!