Postkoloniale Stadtplanung in der Lehre: Ein paar Fragen an Fabienne Hoelzel

Fabienne Hoelzel ist Professorin für Entwerfen und Städtebau an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart (abk Stuttgart) und gründete 2013 FABULOUS URBAN, ein Think-Tank und Stadtplanungsbüro mit aktivistischem Entwurfsansatz in südlichen Regionen. 

Ihre Forschung konzentriert sich auf postkoloniale Aspekte der Stadtplanung, feministische Alltagspraktiken und poststrukturalistische Governance von Infrastrukturen. Können Sie diese Themenschwerpunkte näher erläutern?

Städte im Süden werden mindestens zur Hälfte von den Stadtbewohner*innen täglich hergestellt und betrieben. Das betrifft Wohnraum und städtische Dienstleistungen wie Wasserver- und entsorgung, Transport von Menschen und Gütern sowie Müllentsorgung gleichermaßen. Trotzdem gibt es dazu relativ wenig Forschung und fast überhaupt keine Anerkennung, weder in der Politik noch in der Planung. Es gilt nach wie vor der Grundsatz der klassischen Stadtplanung durch Instrumente wie Masterpläne, die auf zentral betriebene (Infra-)Strukturen abzielen. In diesem Rahmen wird sogenannte Informalität als Problem oder Versagen gesehen, dabei ist es eine Antwort auf existierende Probleme wie eben fehlender Wohnraum oder fehlende Wasserversorgung. Mich interessiert, diese Praktiken, Begegnungen und Systeme sichtbar zu machen, um dann in einem zweiten Schritt Ansatzpunkte für Verbesserungen auf der Basis der Alltagspraktiken zu finden. Viele dieser Alltagspraktiken werden von Frauen geschultert, weil es die patriarchalen Machtstrukturen so vorsehen. Auch das ist Teil meiner Forschung: Weil Menschen, hier Frauen, in Frieden leben wollen oder müssen, können sie gewisse Strukturen gar nicht infrage stellen.

Wie vermitteln Sie diese Inhalte an ihrem Lehrstuhl?

Im Städtebau geht es im Grundsatz immer um die Frage, wem der Boden gehört und/oder wer den Boden wann und wie nutzen kann oder darf. Das hat Auswirkungen auf die räumliche und soziale Gerechtigkeit, weil so entschieden wird, ob der Boden für Autos genutzt wird, den öffentlichen Verkehr oder welche Wohnungen wo gebaut werden. Diese Themen haben viel mit Chancen(un-)gleichheit zu tun. Aus der Forschung wissen wir, dass Benachteiligte oft mehrfach betroffen sind (Frauen, Arme, Personen mit Migrationshintergrund, Alleinerziehende). Das heißt, sie leben in Quartieren, die schlecht angebunden sind, über keine qualitativ hochstehenden Freiräume verfügen, im Sommer schlecht auskühlen, eine ungenügende oder keine Nahversorgung haben usw. Die Frage, die wir am Lehrstuhl stellen, ist: Wie schaffen wir eine Stadt für alle, die „Fair Shared City“? Je nach Format beantworten wir das konkret anhand eines Projektvorschlags für ein bestimmtes Gebiet (Rosensteinquartier in Stuttgart, Armenviertel in Lagos, arabisches Viertel in Ostjerusalem usw.) oder wir schauen uns das theoretisch-reflektierend an: Ist es vor diesem Hintergrund eigentlich in Ordnung, dass Boden in Privatbesitz ist?

Wie kooperieren Sie mit den entsprechenden Anwohner*innen- und Menschenrechtsorganisationen – und wie sind ihre Studierenden in die Projekte involviert?

Da wir in Lagos seit über zehn Jahren in vielen Armenvierteln aktiv sind, nehme ich ab und zu eine kleine Gruppe von Student*innen aus Stuttgart mit nach Lagos, um mit ihnen einer bestimmten Fragestellung an einem spezifischen Ort nachzugehen: Zum Beispiel, wie organisiert eine Frau, die mit ein bis zwei Dollars pro Tag auskommen muss, ihren Alltag – in einer Stadt wie Lagos, wo sich die Regierung nicht für die Menschen interessiert und nichts für sie tut? Die Student*innen begleiten dann eine Frau ein oder zwei Tage lang und tauchen so in ihren Alltag ein. Diese oft sehr aufwühlenden Erlebnisse auf der persönlichen Ebene versuchen wir dann im Städtebauentwurfsstudio zu systematisieren. Diese eine Frau steht stellvertretend für die Hälfte der Stadtbewohner*innen. Die Frauen, mit denen wir im Rahmen eines solchen Lehrstuhlprojekts arbeiten, sind in der Regel schon in ein Projekt von FABULOUS URBAN involviert. Wir beforschen nicht Menschen und machen uns im Anschluss auf Nimmerwiedersehen aus dem Staub, das wäre unfein und nicht korrekt.

Was würden Sie an der Art und Weise, wie Städtebau heute gelehrt und praktiziert wird, ändern? Was wünschen Sie sich in der Vermittlung zukünftig?

Als Städteplanerin habe ich oft mit Politiker*innen zu tun, von denen ich mir manchmal wünschen würde, dass sie mit mehr Mut zur Gestaltung vorangehen. Viele lassen sich von ihren Wähler*innen treiben und haben Angst, nicht wieder gewählt zu werden, wenn sie autofreie Innenstädte propagieren oder thematisieren, dass Leute mit hohem Einkommen den Raum und die Ressourcen überproportional und privilegiert nutzen. Ich würde mir wünschen, dass wir Herausforderungen benennen würden, auch wenn wir keine Lösung parat haben. 

In der Vermittlung würde ich mir aus demselben Grund mehr „Systemdenken“ wünschen. Das System ist beispielsweise der Boden – wem gehört er, wer nutzt ihn und was macht das mit unseren Städten? In dieses Thema passt alles: Bodenspekulation, Infrastrukturplanung, (günstiger) Wohnraum, Freiraum, Mobilität, Biodiversität, Entsiegelung, Hitzeinseln, etc. Das andere System, das mich sehr beschäftigt, ist (verdeckter) Rassismus und Sexismus, daher auch mein Engagement für feministische Stadtplanung, also eine Stadtplanung für alle: Alte, Junge, Menschen mit Einschränkungen und/oder „Migrationshintergrund“ usw. Das ist nicht getan mit behindertengerechten Toiletten. Wir denken hier sehr technisch und weniger auf der sozial-politischen Teilhabe auf Augenhöhe.