Dekoloniale und feministische Praktiken im Urban Design: ein Blick auf Oworonshoki

Theorieseminar, Sommerschule, Entwurfsstudio und Ausstellung: Studierende der ABK Stuttgart und der University of Lagos entwickelten Strategien für den Städtebau in einem Viertel in Lagos, das anschließend der repressiven Stadtpolitik zum Opfer fiel.

Studierende der Klasse für Entwerfen + Städtebau, der Klasse Cluss an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart (abk) und der University of Lagos aus dem Department of Architecture erkundeten im Sommersemester 2023 gemeinsam das Stadtquartier Oworonshoki in Lagos, Nigeria. Unter der Leitung von Prof. Fabienne HoelzelLisa Dautel und Antonia Dürig vom Lehrstuhl für Entwerfen und Städtebau setzten sich die Teilnehmenden mit historischen und gegenwärtigen Machtstrukturen auseinander. Das Ergebnis waren feministische und dekoloniale Strategien für den Städtebau vor Ort. In der anschließenden Ausstellung kam zudem die Dringlichkeit, marginalisierten Gemeinschaften eine Stimme zu geben, zum Ausdruck.

Eine vielschichtige Herangehensweise

Das Projekt fand im Rahmen eines Theorie- und Leseseminars, einer Sommerschule in Oworonshoki und eines städtebaulichen Entwurfsstudios statt. Den Auftakt machte die intensive Auseinandersetzung mit den literarischen Werken von Tsitsi DangarembgaAchille MbembeFelwine Sarr und Lilian Thuram. Die Studierenden sollten die komplexen Zusammenhänge von Kolonialismus, Feminismus und Urban Design ergründen. Dabei wurden Themen wie die Kolonialgeschichte, Unterdrückung während und nach der Kolonisierung, Rassismus, Sexismus, Schwarzer Feminismus und Traditionen im heutigen Sub-Sahara-Afrika behandelt.

Kartografie des Alltags

Der Höhepunkt des Semesters war die Sommerschule in Nigeria, in der die Student*innen aus Stuttgart und Lagos gemeinsam das Stadtquartier Oworonshoki erkundeten. Mehrere Tage lang begleiteten sie sieben Frauen in ihren täglichen Routinen und dokumentierten dabei nicht nur visuelle Eindrücke in Form von Fotos und Videos, sondern führten auch Interviews, um persönliche Geschichten und Erfahrungen festzuhalten. Das Team wurde sich der sozialen und kulturellen Strukturen, aber auch der individuellen Kämpfe der Frauen bewusst. Mit Skizzen und Notizen kartierten die Student*innen auch den Alltag der Protagonistinnen und erfassten dadurch ihr Umfeld und die räumlichen Beziehungen im Quartier.

Die qualitative Auswertung der gesammelten Daten erfolgte in enger Zusammenarbeit mit den Frauen aus dem Stadtviertel. Diese ausführliche Kartierung führte dazu, komplexe Zusammenhänge im urbanen Raum und die Bedürfnisse der Bewohnerinnen verständlich zu machen.

Strategien für Oworonshoki

Am letzten Tag der Sommerschule präsentierten die Student*innen ihre aus der Forschung abgeleiteten Entwurfshypothesen. Der städtebauliche Entwurf baute auf drei Erkenntnissen auf: „People run the city“ (die Bewohner*innen gestalten die Stadt), „Women are strong but not powerful“ (Frauen sind stark, aber haben begrenzten Einfluss und Entscheidungsbefugnis) und „The local economy and the everyday practices are extremely vulnerable“ (die lokale Wirtschaft und alltägliche Praktiken sind äußerst anfällig und zerbrechlich). Schwerpunkte der Strategien lagen dabei auf der Stärkung der Frauen durch kollektiven Landbesitz, die Förderung von Bildung und Selbstentwicklung, sowie die Anerkennung und Nutzung informeller Allianzen und Netzwerke. Entscheidend für den Entwurf waren die Einführung von infrastrukturellen Knotenpunkten, Koch- und Verkaufseinrichtungen sowie die Lagerung von Lebensmitteln. Zudem berücksichtigten die Studierenden den für das Wassermanagement und das Recycling von Abfallstoffen zur Herstellung von Materialblöcken benötigten Raum.

Die Ausstellung

Im Rahmen des Rundgangs 2023 der Akademie der Bildenden Künste präsentierte das Team die Ergebnisse der Semesterarbeit. Eine detaillierte Timeline erklärte die Kolonialgeschichte von Westafrika, Nigeria und Lagos sowie die aktuelle Politik. Lebensgroße Porträts der sieben Frauen aus Oworonshoki, begleitet von Fotografien und Videos, vermittelten Einblicke in den Alltag des Stadtquartiers. Der städtebauliche Entwurf, der auf den Erkenntnissen der Sommerschule und dem Theorieseminar aufbaute, stellte eine kritische Alternative zu den vorherrschenden Stadtplanungsansätzen von Lagos dar, die hauptsächlich zugunsten einer kleinen wohlhabenden Elite ausgerichtet sind. Die tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Thema hat sich bewährt: Die Ausstellung und das dazugehörige Semesterprojekt wurden mit dem Akademiepreis der abk ausgezeichnet.

Zwangsräumung in Oworonshoki

Nur zwei Wochen nach der Ausstellung überschatteten die jüngsten Vorkommnisse in Oworonshoki, die Ansätze und Ergebnisse des Projekts. Unter der Leitung von Gouverneur Babajide Sanwo-Olu, wurden Teile des Stadtquartiers am 27. und 28. Juli 2023 durch die Regierung von Lagos zwangsgeräumt. Die Bewohner*innen, darunter fünf der sieben Frauen, die an dem Projekt teilnahmen, wurden obdachlos, als ihre Holzhäuser von Bulldozern zerstört und angezündet wurden. Durch diesen grausamen Akt wird die Brutalität deutlich, mit der die Stadtplanung in Lagos häufig auf Kosten marginalisierter Gemeinschaften durchgesetzt wird.

Die Zwangsräumung demonstriert die Aktualität des Themas und die Notwendigkeit, kontinuierlich für dekoloniale und feministische Praktiken im Städtebau zu kämpfen. Um insbesondere vulnerable Gemeinschaften zu schützen, sollten Bildung, Forschung und soziales Engagement ineinandergreifen, sodass Transformation und Solidarität Einzug in städtische Landschaften halten können. Vor allem aber verdeutlicht die jüngsten Vertreibungen in Oworonshoki, dass für eine sicherere und gerechtere Zukunft noch viele Stimmen gehört werden müssen.