„Die Bauwende kann nur gelingen, wenn wir sie als gemeinsame Aufgabe eines Teams verstehen, zu dem alle am Bau Beteiligten gehören. Wir sollten gemeinsam lehren, aber auch forschen, entwickeln und umsetzen.“

Aktivismus und Lehre vereint – Elisabeth Broermann und Adrian Nägel teilen in dem Interview, das die beiden in Vertretung des Vereins Architecs for Future berufenen Professor*innen an der TU Berlin mit uns geführt haben, ihre prägnante Haltung. Denn unabhängig davon, ob es sich um Politik, Wirtschaft oder Lehre handelt, das Ziel ist das gleiche: die Bauwende zu schaffen. Es muss gehandelt werden – jetzt!

Erstmalig wird eine Gastprofessur mit Vertreter*innen eines Vereins besetzt. Inwiefern finden sich die Anforderungen und Ziele der Vereins A4F in Ihrer Lehre wieder?

Mit der Idee, uns als aktive Mitglieder von A4F (Architects for Future) für eine Gastprofessur an die TU Berlin zu holen, setzt das IfA (Institut für Architektur) ein weiteres deutliches Zeichen Richtung Bauwende. Wir verstehen den Auftrag als große Chance, uns mit den Studierenden möglichst umfassend mit dem dringend erforderlichen sozial und ökologisch nachhaltigen Wandel der Baubranche auseinanderzusetzen. Die Herausforderungen, die vor uns liegen, sind so groß und betreffen so viele Bereiche, dass sie nicht von Einzelnen bewältigt werden können. Als offenes Netzwerk aller am Bau Beteiligter versammelt  A4 die verschiedensten Expert*innen zusammen, um gemeinsam die notwendige Bauwende zu gestalten. Dies möchten wir an die Hochschule bringen. Uns ist es deshalb wichtig, die neue Aufgabe im Team zu gestalten, den Studierenden auf Augenhöhe zu begegnen und in unseren Angeboten möglichst viele unserer Mitstreiter*innen einzubinden, um das breite A4F-Wissen zu teilen. Die neu aktualisierten zehn Forderungen des Vereins stellen die Grundlage unserer Lehre dar. 

Die Aufgaben, die vor uns liegen, sind nicht mehr spektakuläre Entwürfe, sondern komplexe Eingriffe im verdichteten Bestand, für die nur noch begrenzte Ressourcen zur Verfügung stehen. Neben Fragen der Materialität und Konstruktion wollen wir auch die sozialen und politischen Rahmenbedingungen der Bauwende mit den Studierenden diskutieren und sie hierfür sensibilisieren und aktivieren. Sie sind dabei wichtige Multiplikator*innen, die die Bauwende nicht nur in die Planungsbüros, sondern auch in die Breite der Gesellschaft tragen und damit das Umdenken vorantreiben.

Wie vermitteln Sie die politischen Rahmenbedingungen, die für die Bauwende unabdingbar sind, in Ihrer Lehre?

Wir sind davon überzeugt, dass die Herausforderungen, die durch Klimakrise, Artensterben und Umweltzerstörung vor uns liegen, vor allem politisch gelöst werden müssen. Seit Jahrzehnten wird versucht, die Verantwortung auf die einzelnen Menschen abzuwälzen. Die großen Stellschrauben liegen letztendlich in der Politik und Wirtschaft. Hier muss endlich entsprechend der Krisensituation, in der wir uns befinden, mutig gehandelt werden und darf sich nicht länger vor der vermeintlich unliebsamen Aufgabe gedrückt werden. Es braucht allgemeingültige, verlässliche Rahmenbedingungen, die uns und den folgenden Generationen eine lebenswerte Zukunft sichern. Seit Jahrzehnten warnt die Wissenschaft (spätestens seit dem Club of Rome 1972) vor den Folgen einer Lebensweise, die die Grenzen der natürlichen Ressourcen missachtet. Heute sehen wir schon dramatische Auswirkungen, und diese werden in den nächsten Jahren massiv zunehmen. Es reicht nicht mehr, dass Einzelne das Auto stehen lassen oder den Fleischkonsum reduzieren. Wir brauchen ein schnelles Umlenken der gesamten Gesellschaft, und dies kann nur durch die Politik erreicht werden. 

Wir möchten die Studierenden ertüchtigen, die richtigen Fragen zu stellen, die Zusammenhänge zu begreifen und sich als Expert:innen einzubringen, einzumischen und selbst aktiv zu werden. Demokratie und Teilhabe beginnt hier und jede*r ist aufgefordert, mitzumachen und die Zukunft mitzugestalten. Beispielsweise werden besonders im politischen Umfeld in den nächsten Jahren viele Berater*innen gebraucht, um die beschriebenen Herausforderungen zu realisieren. Dieses Feld dürfen wir nicht weiter nur Lobbyist*innen der fossilen Industrie und kapitalistischen Wirtschaft überlassen.

Mit welchen kritischen Fragen setzen sich Ihre Studierenden auseinander?

Dieses Semester haben wir unter anderem den bezahlbaren, sozialgerechten Wohnungsbau in Wien untersucht. Darüber hinaus arbeiteten wir in dem Seminar „Bauwende Jetzt“ mit den Studierenden an den Schlüsselthemen zum nachhaltigen Planen und Bauen. Dabei geht es um übergeordnete Themen wie Ökobilanzierung, Bodenpolitik oder nachhaltige Stadtplanung, aber auch um spezifische Themen wie Lehm oder Stroh als Baustoff. Eingeladene Expert*innen aus dem A4F-Netzwerk ergänzen dabei unsere Expertise. Die Studierenden erstellen anschließend Factsheets, um das erarbeitete Wissen auch Fachfremden zur Verfügung stellen zu können und die Stellschrauben der Bauwende verständlich zu machen. 

Unter dem Motto „Wenn gestern die Zukunft sein soll … was ist dann morgen?“ beschäftigen wir uns im Entwurf mit der Berliner Bauakademie. Hier haben wir uns zunächst mit den Zukunftsbildern der Studierenden auseinandergesetzt. Wie stellt sich denn die nächste Generation das Wohnen, das Arbeiten, die Lehre, das Bauen der Zukunft vor? Und wie lassen sich diese Wünsche auf das Grundstück in der historischen Mitte Berlins übertragen? Ist der 1:1-Schinkel noch die passende Antwort auf die Herausforderungen dieser Zeit, und was können wir von Schinkel lernen? Grundlage waren hier die Impulse und der Ergebnisberichte des Thinktanks u. a. mit den fünf erarbeiteten Szenarien, Presseartikel und die zehn Forderungen von A4F, an denen sich die Vorschläge messen müssen. Wir wollen dabei nicht den Wettbewerb vorwegnehmen, sondern Denkanstöße, von den Personen, deren Zukunft unmittelbar davon betroffen ist, in die aktuell recht eindimensional und wenig kreativ geführte Diskussion geben. Als Ergänzung zum Entwurf führen die Studierenden auch kritische Interviews mit verschiedenen Akteuren*innen der Debatte.

Was ist Ihre Haltung zum Projekt der Bauakademie und wie spiegelt sich diese in der Entwurfsarbeit der Studierenden wider?

Wir betrachten mit Verwunderung, wie in Berlin und auch darüber hinaus über die Bauakademie – oder auch vergleichbare Rekonstruktionsvorhaben – diskutiert wird. Wir befürchten, dass Berlin hier wieder wie beispielsweise am Molkenmarkt eine Chance verpasst, als Vorbild zu glänzen.

Bei dieser Diskussion wird jedoch so getan, als handle es sich bei der Bauakademie um einen bestehenden Bau, der nur saniert werden müsse. Das Gebäude ist jedoch vollständig zerstört, und es entstünde somit ein Neubau.

Wenn wir uns in Zeiten der Klimakrise und der Ressourcenknappheit noch erlauben, neu zu bauen, dann muss dieses Gebäude diese dringenden Anforderungen als Grundlage sehen und diesen in allen Punkten Stand halten. Erst recht, wenn es sich um ein öffentliches, vom Bund finanziertes Projekt handelt.

Also: Wie kann die Bundesstiftung Bauakademie nicht nur mit ihren Inhalten zum Multiplikator für nachhaltiges, zukunftsfähiges, sozial- und klimagerechtes Bauen werden, sondern wie kann auch das Gebäude dieses Programm abbilden und selbst zu Lernplattform und Vorbildbau werden? Was die beste Lösung für dieses besondere Grundstück im Zentrum Berlins und für die Bundesstiftung Bauakademie ist, sollte deshalb ein ergebnisoffener und niederschwelliger Wettbewerb „im Geiste Schinkels“ zeigen. Die heutigen Planer*innen haben sicherlich passende Antworten auf diese Aufgabe. Wir stellen die These auf, dass auch Schinkel, wäre er heute an diesem Wettbewerb beteiligt, ein anderes Gebäude entwickeln und sich mit seinem Innovationsgeist den Herausforderungen der Zeit stellen würde, statt zurückzublicken.

Als Architects for Future haben wir übrigens den Vorschlag für Szenario 4 und 5 in die Diskussion des Thinktanks gebracht: temporärer Bau oder Nicht-Bau (siehe Ergebnisbericht des ThinkTank BSBA). Rundherum steht so viel Bürofläche leer. Auch wenn die Bauakademie ein Sonderbau mit Multiplikationsfaktor und Vorbildfunktion sein soll, wie wäre es, darüber nachzudenken, die für die Bauakademie notwendigen Räume im umliegenden leerstehenden Bestand zu schaffen? So könnte das Grundstück radikal entsiegelt und zur Vegetationszone im Sinn der Schwammstadt umgenutzt oder mit einem temporären Leichtbau bespielt werden. Das wäre mal ein Zeichen!

Den Studierenden haben wir eine ergebnisoffene Aufgabe gestellt – ohne Raumprogramm, ohne Bedingungen. Sie sollten selbst analysieren, was vor Ort sinnvoll sein kann, und sich eine Bauakademie der Zukunft vorstellen. Wir haben ihnen Presseberichte unterschiedlicher Haltungen zur Debatte gezeigt und den bisherigen Prozess in Gänze dargestellt. Natürlich haben wir versucht, sie für die Herausforderungen der Zeit zu sensibilisieren und ihnen dahingehend kritische Fragen zu ihren Vorschlägen gestellt.

Inwieweit müsste sich die Architekturlehre verändern, um den aktuellen Herausforderungen der angestrebten Bauwende gerecht zu werden?

Neubau muss in Zukunft zur Ausnahme werden und so sollte sich auch die Lehre auf die Gestaltung des Bauens im Bestand konzentrieren. Dafür müssen bestehende Baustoffe wiederverwendet werden, die kreislaufgerecht sind und aus nachwachsenden Rohstoffen bestehen. In diesen Bereichen besteht erheblicher Forschungsbedarf und es fehlen ausgebildete Fachkräfte. Hier liegen große Aufgaben vor den Architekturfakultäten, welche finanzielle Ressourcen und menschliche Expertise benötigen. Die gebaute Umwelt, von Stadt- und Regionalplanung über Gebäudeentwurf und -konstruktion bis zu Materialkunde, ist hochkomplex und sollte unbedingt von Beginn an interdisziplinär gedacht werden. Dies findet aktuell noch viel zu wenig statt und hier müssen auch die Hochschulen umdenken. Die Bauwende kann nur gelingen, wenn wir sie als gemeinsame Aufgabe eines Teams verstehen, zu dem alle am Bau Beteiligte gehören. Wir sollten gemeinsam lehren, aber auch forschen, entwickeln und umsetzen. Dies betrifft im Übrigen nicht nur die Hochschulen, sondern genauso die Fortbildungsangebote der Architekt*innen- und Ingenieur*innenkammern, aber auch die Berufsschulen und Handwerkskammern. Wir brauchen das Handwerk auf Augenhöhe. Außerdem können wir nicht auf die nächste Generation von Planenden und Bauenden warten, um die Bauwende umzusetzen. Auch die Generation, die aktuell an den Entscheidungshebeln sitzt, muss sich der Bauwende annehmen. Jetzt.