Protestcamps in der Nussschale: Studierende bauen hochdetaillierte Dioramen

So unterschiedlich die Ziele von Protesten sind, so divers ist auch ihre Architektur. Das Deutsche Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt am Main zeigt unter anderem feinteilig ausgearbeitete Modelle von Studierenden, die bekannte Protestcamps en détail abbilden.

In einem Artikel, der in der Wochenzeitung „Die Zeit“ erschienen ist, bezeichnet Prof. Dr. Friedrich von Borries die aktuelle Exposition „Protest/Architektur. Barrikaden, Camps, Sekundenkleber“ im Deutschen Architekturmuseum (DAM) als „eine der aufregendsten Ausstellungen des Jahres“. Entwickelt wurde sie vom DAM in Zusammenarbeit mit dem Wiener Museum für angewandte Kunst (MAK) und beschäftigt sich mit den räumlichen Aspekten von Protestbewegungen. Gezeigt werden neben Fotos, Texten, Zeichnungen, künstlerischen Arbeiten und Fragmenten von Originalobjekten Arbeiten von Studierenden der TU München und Hochschule für Technik (HFT) Stuttgart. Unter der Leitung von Prof. Andreas Kretzer fertigten die Studierenden neun detailreiche Dioramen an, die ausgewählte Protestcamps im Maßstab 1:10 abbilden. 


Arbeitsleistung Exponat

Anlass der beiden Lehrveranstaltungen, die im Wintersemester 2022/23 als Seminar an der TU München und im Sommersemester 2023 als Entwurfsstudio an der HFT Stuttgart abgehalten wurden, war von vornherein die Ausstellung. Das DAM-Kurator*innenteam begleitete die Lehrveranstaltungen von Anfang an, gab den Studierenden eine Einführung in die Thematik, wählte die relevanten Protestcamps aus, die bearbeitet werden sollten, und nahm an Zwischenkritiken teil. Die Aufgabenstellung war eine Untersuchung und visuelle Aufbereitung baulicher Strukturen, in denen sich Protest räumlich manifestiert. Beide Formate wurden in englischer Sprache abgehalten, sodass Studierende aus verschiedenen Ländern daran teilnehmen konnten.


Auf Spurensuche

Die Untersuchungen erwiesen sich schnell als Detektivarbeit, da die Dokumentationslage zu den Camps teilweise sehr spärlich ist. Die Studierenden waren dazu angehalten, nichts dazu zu erfinden, sondern die Protestcamps möglichst originalgetreu in den Modellmaßstab zu übersetzen. Als Vorbild dienten ihnen die sogenannten „Nutshell Studies of Unexplained Death“ von Frances Glessner Lee, einer Pionierin der Forensik. Dabei handelt es sich um eine Serie von neunzehn aufwendig gestalteten Dioramen im Puppenhausstil, die Tatorte im Maßstab 1:12 detailliert darstellen. Glessner Lee nutzte diese Modelle für ein methodisches Studium von Tatorten und Schlussfolgerungen basierend auf visuellen Beweisen. Analog zu Glessner Lee übersetzten die Studierenden die Protestcamps in Dioramen von extrem hohem Detailgrad.


Pars pro toto als Lehrmethode

Die Transferleistung der Protestarchitekturen, die zu einem Großteil nicht mehr existieren, in den Modellmaßstab ist in diesem Fall der Entwurf. Dabei mussten die Studierenden wie bei klassischen Entwürfen eine Reihe von Entscheidungen treffen. Welcher Zeitpunkt wird in dem Modell eingefangen? Die bauliche Struktur der Camps hat sich im Verlauf der Proteste verändert und es kann immer nur eine Momentaufnahme gezeigt werden, die es auszuwählen gilt. Außerdem mussten die Studierenden den Ausschnitt bestimmen, den sie in ihrem Diorama darstellen wollen. Dabei wendeten sie unter anderem szenografische Methoden an: Der gezeigte Ausschnitt wird zur Bühne, die mit Requisiten und Spuren menschlicher Handlungen ausstaffiert wird. Auch Korrosion, Patina und Schmutz gilt es im kleinen Maßstab nachzuahmen, sodass die Modelle der Realität so nah wie möglich kommen.


Ausstellung und Publikation

Bis zum 14. Januar 2024 sind die Dioramen in der Ausstellung in Frankfurt zu sehen. Anhand von 13 internationalen Fallstudien wird gezeigt, wie Architektur im Rahmen von Protestbewegungen zum Ausdruck und Katalysator gesellschaftspolitischer Konflikte werden kann. Thematisiert werden Proteste zwischen 1968 und 2023 aus Ägypten, Brasilien, Deutschland, Hongkong, Indien, Österreich, Spanien, der Ukraine und den USA. Vom 14. Februar bis 25. August 2024 wird die Ausstellung im Wiener MAK zu sehen sein. Begleitend zur Schau ist außerdem ein Katalog in Form eines Lexikons erschienen. Die Publikation mit dem Titel „Protestarchitektur. Barrikaden, Camps, raumgreifende Taktiken 1830–2023“ ist im Verlag Park Books erhältlich.