Öffnen ist eine architektonische Denkfigur: Theory of Architecture and Digital Culture

Was wäre, wenn ab morgen alle Daten über unsere gebaute Umwelt offen zur Verfügung stünden? Diese provokante Frage wirft Prof. Georg Vrachliotis an seinem neu geschaffenen Lehrstuhl „Theory of Architecture and Digital Culture“ an der TU Delft auf. Das von ihm initiierte Forschungsprojekt „The New Open“ versucht, das Verständnis von Architektur im Zeitalter von Künstlicher Intelligenz (KI) neu zu denken.

Um Architektur und Digitalisierung integral zusammen denken zu können, müssen die Architekt*innen aus der Komfortzone heraus, beides als getrennte Sphären zu betrachten. Das Digitale sollte im 21. Jahrhundert nicht nur als Werkzeug begriffen werden, um Bauten zu schaffen. Eine der aktuellen Aufgaben der Profession sei es, die abstrakte Welt der Daten durch Szenarien greifbar zu veranschaulichen, so Prof. Georg Vrachliotis. Darin liege die Kernkompetenz der Architekt*innen begründet. Er verweist auf die grundsätzliche Gestaltungsfähigkeit der Architekturschaffenden. Architektur an sich sei letztlich auch ein Medium der Vermittlung, das uns behilflich ist, rein operative Prozesse in unserem Alltag zu verdinglichen.

Kultur und Technologie eine Einheit

Historisch betrachtet gehören die Architekt*innen sogar zu den Pionier*innen der Digitalisierung. Sie nutzten mit als erste Computer, um ihre Zeichen- und Rechenprozesse zu optimieren. In der bisherigen Betrachtung stand immer das Ergebnis Architektur als hochkulturelles Gut im Mittelpunkt. Die neue Technologie hingegen, die bei der Schöpfung der solchen beteiligt war, fristete ein Schattendasein als mitgeschleppte Notwendigkeit. An der TU Delft denken die Beteiligten des Lehrstuhls und Forschungsprojektes Technologie und Kultur von Anfang an zusammen. Die Gesellschaft und damit unweigerlich die Kultur ist heutzutage viel zu digital, als dass man sie noch ohne diesen Faktor betrachten könne, konstatiert Vrachliotis. Aus diesem Grund trägt sein Lehrstuhl die „Digitale Kultur“ neben der Architekturtheorie im Namen. Ein weltweites Novum. 

Niederländische Offenheit

Dass der einzigartige Lehrstuhl 2020 in den Niederlanden entstand, kam nicht von ungefähr: Die niederländische Herangehensweise an die Forschung ist nach der Erfahrung von Prof. Vrachliotis von Zukunftsorientierung, Experimentierfreudigkeit und offenem Pragmatismus geprägt. Die Einsicht, dass sich die Architekt*innen aktiv in den KI-Diskurs einmischen sollten, kam hier schnell an – und Prof. Vrachliotis vom KIT in Karlsruhe nach, um die Stelle zu besetzen. Er hat sich zuvor schon mit Kybernetik und systemischen Fragen beschäftigt.

Open Data Society

Wer gestaltet, trägt Verantwortung. Das trifft auch auf die Gestaltung von digitalen Prozessen und den Umgang mit Daten zu. Prof. Vrachliotis möchte die Begriffe von „Daten-Ethik“ und „Design-Ethik“ schärfen und begreift beide als integralen Bestandteil seiner Forschung und Lehre. Doch was bedeutet das konkret? Das Forschungsprojekt „The New Open“ versucht, ein interdisziplinäres Forum zu schaffen, in dem sich Architekt*innen akademisch und praktizierend als auch Forscher*innen aus weiteren Bereichen mit dem Szenario einer „Open Data Society“ auseinandersetzen können – eben der Gestaltung eines neuen, kollaborativen Umgangs mit Daten.

 

„Das Öffnen ist eine architektonische Denkfigur, und die erlaubt es uns, die Daten und das Zeitalter der Daten ganz anders und neu zu denken.“ Prof. Georg Vrachliotis

Profis für das Unrealistische

Das Offene ist etwas inhärent Architektonisches. Offene Räume, offene Gesellschaften, offene Fassaden, offene Prozesse, all das sind traditionelle Denkfiguren der Architekt*innen. Im Zeitalter der Daten besteht nun die Notwendigkeit, diese Öffnungen neu zu denken, hält Prof. Vrachliotis fest. Die Öffnung, etwa ein Fenster, ist ein Medium, um Kontakt mit verschiedenen Welten aufzunehmen. Übertragen auf das Digitale kommen wir auf die Ausgangsfrage zurück: Welche Auswirkungen und Potenziale würde ein offener Zugang zu sämtlichen Daten, die unsere gebaute Umwelt betreffen, haben? Würden wir anders entwerfen? Wem gehören die Daten, und wie definiert sich Privatheit? Diesen Fragestellungen gehen die Expert*innen des Projektes in den nächsten Jahren nach. Dass diese Art zu denken visionären Charakter hat und sich somit auch angreifbar macht, ist Prof. Vrachliotis bewusst. Solchen Angriffen entgegnet er selbstbewusst: Als Architekt*innen sind wir Profis für das Unrealistische und für das Zeichnen von Zukunftsszenarien.