Notre-Dame im Kleinformat: Europas einziges Stereotomie-Labor

Ein Pariser Wahrzeichen in Cottbus erforschen? Das geht! Im Stereotomie-Labor der BTU Cottbus-Senftenberg baute ein Team um Prof. David Wendland das Gewölbe der Notre-Dame im Maßstab 1:3 nach.

Vor sechs Jahren hielten Bilder des brennenden Dachstuhls der Pariser Kathedrale Notre-Dame die Welt in Atem. Die Hitze ließ Steine schrumpfen, schmolz das Metallgerüst der Baustelle und brachte den Spitzturm zum Einsturz. Nachdem die Flammen gelöscht waren, blieb die Frage: Wie lässt sich das zerstörte Wahrzeichen möglichst originalgetreu rekonstruieren? Der Wiederaufbau dauerte insgesamt fünf Jahre, im Dezember 2024 wurde die Kathedrale wiedereröffnet. Eine besondere Herausforderung lag darin, dass die Bauweisen, mit denen das frühgotische Bauwerk errichtet wurde, heute nicht mehr bekannt sind. Hier setzte die Arbeit eines Forschungsteams der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg (BTU) an. Prof. David Wendland und sein Team erforschen am Fachgebiet Bautechnikgeschichte historische Werksteinkonstruktionen, um die Planung und Restaurierung solcher Gebäude zu unterstützen.

Die Lehre vom Steinschnitt: Stereotomie als Schlüssel

Stereotomie hat nichts mit Musikanlagen zu tun. Es handelt sich um die Lehre vom Steinschnitt. In historischen Bauwerken wie beispielsweise Kathedralen wurden Steine nach geometrischen Regeln in Form geschnitten, um sie zu komplexen Strukturen wie Bögen, Pfeiler und Gewölbe zusammenzusetzen. Dabei bedarf es einer enormen Präzision. Besonders anspruchsvoll ist etwa das Einsetzen des Schlusssteins. Dieser muss in schwindelerregender Höhe präzise eingepasst werden, damit das Gewölbe nicht in sich zusammenfällt.

Wie gelang es Baumeistern vor 800 Jahren, solche komplexen Techniken ohne digitale Hilfsmittel anzuwenden – etwa bei Notre-Dame oder noch früher? Um die Bauweise des Notre-Dame-Gewölbes besser zu verstehen, bauten Prof. Wendland und sein Team es im Maßstab 1:3 nach. Die Forschung im Stereotomie-Labor kombinierte die Analyse historischer Quellen mit experimenteller Architektur, um nachzuvollziehen, wie Baumeister des Mittelalters gearbeitet haben.

Rekonstruktion historischer Bauweisen

Die Lehrbücher, die heute in der Restaurierung als Quellen für historische Arbeitsweisen herangezogen werden, stammen meist aus dem 19. Jahrhundert. Frühere Methoden werden darin kaum thematisiert und sind auch bei Planer*innen weitgehend unbekannt. Die Stereotomie wurde bereits zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert in Lehrwerken beschrieben, doch viele dieser Quellen sind noch unerschlossen. Das möchten die Forschenden des Stereotomie-Labors ändern. Durch Quellenarbeit und praktischen Experimenten untersuchen sie die geometrischen Verfahren. 

Das Labor verfügt beispielsweise über einen sogenannten Reißboden – ein Werkzeug, bei dem die Umrisse der Bauteile in Originalgröße auf eine große Fläche aufgetragen werden. Dieser Reißboden dient als eine Art 1:1-Bauplan und findet heute kaum noch Verwendung. Im Stereotomie-Labor wird er jedoch regelmäßig eingesetzt, etwa beim Nachbau des Notre-Dame-Gewölbes. 

Wissenschaftliche Erkenntnisse für die Denkmalpflege

Die Arbeit des Forschungsteams bietet wertvolle Erkenntnisse für die Restaurierung historischer Bauwerke. Am 11. Februar 2025 besuchte Pascal Prunet, einer der leitenden Notre-Dame-Restauratoren, die BTU Cottbus-Senftenberg. In einem Vortrag schilderte er die herausfordernde Gewölbesanierung und hob die Bedeutung der wissenschaftlichen Forschung für den Wiederaufbau hervor. Die Erkenntnisse aus Cottbus könnten zukünftig für weitere Bauwerke mit komplexen Werksteinkonstruktionen relevant sein. Denn Notre-Dame ist nicht das einzige historische Denkmal, das mit dem Verfall kämpft – und das Wissen über traditionelle Bautechniken könnte bei zukünftigen Restaurierungen eine entscheidende Rolle spielen.

Vortrag von Pascal Prunet an der BTU Cottbus-Senftenberg