Kunst der irritierenden Ordnung: Urban Cosmetics

Das Berliner Künstlerkollektiv SONDER hat mit seinem Projekt „Urban Cosmetics“ in Stuttgart-Bad Cannstatt die Grenzen zwischen Ordnung und Chaos spielerisch neu definiert. 

Das Berliner Künstlerkollektiv SONDER, gegründet 2009 von Peter Behrbohm und Anton Steenbock, verbindet Kunst und Architektur. Ihre Werke verschmelzen Gegensätze wie Chaos und Ordnung oder Vergangenheit und Zukunft zu Interventionen im öffentlichen Raum. Statt Konflikte zu lösen, bringen sie diese auf den Punkt, um Normalität kritisch zu hinterfragen. Mit ihrem Projekt Urban Cosmetics räumten die zwei Künstler im September 2023 Stuttgart-Bad Cannstatt auf und entwickelten dafür einen SONDER-Ordnungskatalog. Mit einem Augenzwinkern versprechen sie, die Straßen des Stadtbezirks durch bewusste Pflege stadträumlicher Konflikte neu zu gestalten. Ihr Ziel: den öffentlichen Raum bunter, lebendiger und diskussionswürdiger zu machen.

Urban Cosmetics: Unordnung in die Ordnung bringen

In Stuttgart-Bad Cannstatt, einem Stadtbezirk mit scheinbar gewöhnlicher Alltagsästhetik, sieht das Kollektiv großes Potenzial. Die Normalität hier, geprägt von der Nähe zur Automobilindustrie und den eng verflochtenen Strukturen von Wohnen und Arbeit, bot eine ideale Bühne für SONDERs Kehrwoche. Statt das Chaos zu beseitigen, pflegten die zwei Künstler das konfliktreiche Gleichgewicht zwischen Ordnung und Unordnung im urbanen Kontext. Mit gezielten Eingriffen, wie der Inszenierung irritierender Sauberkeit und der bewussten Einbringung künstlicher Unordnung, provozierten sie Debatten über den Umgang mit dem öffentlichen Raum. Inspiriert vom japanischen Konzept des Sharawadgi – einer Ästhetik, die harmonisches Ungleichgewicht betont – spielten sie mit Kontrasten, um das Alltägliche neu zu interpretieren. Dabei kamen eigens entwickelte Geräte wie das emissionsfreie Stadtmassagegerät StaMaG67 und Methoden wie alarmgesicherte Unratpflege oder Vandalismusrepliken zum Einsatz. Humorvolle Interventionen wie Müllattrappen und Unkrautreplika wurden gemäß einem präzisen Lageplan in das Stadtbild integriert, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. So verschmolzen Kunst und Architektur zu einer provokativen Performance, die den Alltag der Bewohner*innen auf den Kopf stellte.

Zwischen DDR-Cowboys und digitaler Unsterblichkeit

Was gilt im öffentlichen Raum als normal? Für SONDER ist diese Frage eine Verhandlungssache. Besonders in Deutschland, wo Ordnung als nahezu unverrückbares Ideal betrachtet wird, hinterfragen sie die Normen des urbanen Raums. Je gewöhnlicher ein Ort scheint, desto mehr verborgenes Potenzial liegt darunter – vieles, was buchstäblich „unter den Teppich gekehrt“ wurde. Somit sorgt SONDER mit provokanten Projekten immer wieder für Aufsehen. „Hunt for the Great Bear“ inszenierte überlebensgroße DDR-Spielzeugcowboys als nostalgische Hommage an die Western Romane und Filme der DDR, um die politisch aufgeladene Ikonografie des Wilden Westens im Kommunismus kritisch zu beleuchten. Mit der Performance „Habbakuk“ verwandelte SONDER eine vermeintlich harmlose Doppelgarage in eine dystopische Überwachungsstation, die die Militarisierung und Kontrolle im Alltag thematisiert. Das futuristische Projekt „Total Earth“, ausgestellt an der Universität der Künste in Berlin, verspricht digitale Unsterblichkeit, indem es persönliche Daten in einem kollektiven Gedächtnis sichert und die Idee einer gerechteren Gesellschaft erforscht. Ob Nostalgie, Überwachung oder digitale Zukunft – mit ihren Interventionen beweist SONDER, dass es keinen Bereich gibt, der sich nicht durch Kunst und Kreativität umgestalten lässt.