Freiluftbibliothek schafft Gemeinschaft: Ein Miniaturfreiraum in Hongkong

Eine Holztribüne mit Regalen verwandelt eine enge Straßennische in einen soliden öffentlichen Raum. Die Struktur ist das Ergebnis eines Forschungsprojekts zur Aufwertung von Restflächen unter Einbeziehung lokaler Akteur*innen.

Mit über sieben Millionen Einwohner*innen ist Hongkong eine der am dichtesten bebauten und bewohnten Metropolen der Welt. Infolgedessen besteht ein gravierender Mangel an öffentlichen Freiräumen, insbesondere in der Altstadt. Assoc. Prof. Francesco Rossini von der Chinese University of Hong Kong (CUHK) hat sich vorgenommen, dieses Problem anzugehen. Eines der Ziele seines dreijährigen Forschungsprojektes war es, die lokale Gemeinschaft durch temporäre städtebauliche Interventionen in die Umgestaltung ihrer Umgebung einzubeziehen. Dazu konzipierte er das Pilotprojekt „CWLane Reading Space“, eine Freiluftbibliothek, die eine urbane Nische rot leuchten lässt.

Räumliche Qualität auf engstem Raum

Hongkong verkörpert den vertikalen Urbanismus. Aufgrund ihrer begrenzten Fläche hat sich die asiatische Metropole in die Höhe entwickelt. Die steile Hochhäuserlandschaft konkurriert mit der Topografie der umliegenden Wälder. Der Top-Down-Urbanismus und die aggressive Baukultur der letzten Jahrzehnte haben dazu geführt, dass sich der öffentliche Raum größtenteils aus winzigen Restflächen zusammensetzt, denen es an Aufenthaltsqualität und Attraktivität mangelt. Bekannt ist die Typologie der Pocket-Parks – gestaltete Miniaturfreiräume, die in einem klaustrophobischen Stadtgefüge eine kurze Atempause bieten. Rossinis Pilotprojekt zielt auf die Aufwertung von übersehenen Straßennischen ab und setzt auf die Partizipation der Bevölkerung, um die Aneignung der Räume zu beschleunigen.

Klein, auffällig und wirkungsvoll – Leseecke und Kommunikationsfläche zugleich

Seit Oktober 2023 bietet eine tribünenartige Holzkonstruktion mit Sitzgelegenheiten und Bücherregalen eine neue öffentliche Fläche zum Verweilen in Hongkongs Distrikt Central. Auffällig sind die Gestaltung und die leuchtend rote Farbe, die den „CWLane Reading Space“ von seiner Umgebung – hohen, grauen Mauern – deutlich abheben. Volumetrisch leitet sich die Freiluftbibliothek von den umgebenden Straßenverläufen mit Treppen ab, die einen wichtigen Teil des kulturellen Erbes von Hongkong ausmachen. 

Die Struktur hat das Team innerhalb von drei Tagen gemeinsam mit Student*innen und Freiwilligen aufgebaut. Dank einer Spende der CUHK-Bibliothek füllen über 350 Bücher zu Themen wie Architektur, Geschichte, Philosophie und Kinderliteratur die Regale. Das Angebot der selbstverwalteten Gemeinschaftsbibliothek richtet sich somit an alle Interessens- und Altersgruppen. Darüber hinaus finden auf der roten Tribüne gelegentlich Vortrags- und Diskussionsrunden statt. Die beste Gelegenheit, den Architekturdiskurs auf die Straße zu bringen. 

Weitere Orte für soziale Interaktion

Das Forschungsvorhaben sieht vor, bis Juni 2024 zwei weitere Pilotprojekte umzusetzen. Die Auswirkung dieser städtebaulichen Interventionen im Kleinstmaßstab misst Assoc. Prof. Francesco Rossini mithilfe empirischer Methoden. Dafür wird er Daten vergleichen, die er vor, während und nach der Realisierung jedes Projekts sammelt. Die Beteiligung der örtlichen Gemeinschaft ist für den Erfolg des Projektes ausschlaggebend und liefert Hinweise über die Bedürfnisse der Bevölkerung.

Mit Aussicht auf dauerhaft

Die Implementierung dieser temporären Strukturen sind nur die erste Phase des Projektes. Im nächsten Schritt sollen die gewonnenen Erkenntnisse das öffentliche Interesse wecken und mittelfristig – in sechs bis 18 Monaten – den Bau von semipermanenten Interventionen zulassen. Diese zweite Phase ermöglicht dem Planungsamt in Hongkong außerdem das Aufsetzen eines gesetzlichen Rahmens für räumliche und programmatische Veränderungen, bevor eine dauerhafte Aufwertung der öffentlichen Flächen umgesetzt wird. Dieser schrittweise Prozess hat einen Welleneffekt: Das Schaffen von Bewusstsein generiert Nachfrage und führt anschließend zur Erkenntnis, dass der Aufbau von Gemeinschaftsbeziehungen durch räumliche Interventionen möglich ist.