Eine neue Genealogie der Stadt: Die Nebelivka Hypothese
In einer Kollaboration zwischen der Londoner Rechercheagentur Forensic Architecture und dem Archäologen David Wengrow entstand ein Forschungsprojekt, das gängige Narrative unserer urbanen und gesellschaftlichen Ursprünge hinterfragt.
In unserer Geschichtsschreibung ist die Entstehung von Städten untrennbar mit der Entwicklung moderner Gesellschaften verknüpft. Das antike Uruk, das gemeinhin als erste Stadt der Welt gilt und vor rund 6000 Jahren in Mesopotamien existierte, diente Wissenschaftler*innen als Grundlage für die Definition einer Stadt. Demnach bedarf jede größere Ansiedlung an Menschen einer hierarchischen Organisation, die sich wiederum in monumentalen, eine herrschende Klasse beherbergenden Architekturen widerspiegeln würde.
Die interdisziplinäre Forschungsgruppe Forensic Architecture ist am Goldsmiths College der University of London angesiedelt. Für gewöhnlich klärt sie mithilfe von Raumanalysen, 3D-Modellierungen und weiteren innovativen Methoden Menschenrechtsverletzungen und Gewaltverbrechen auf, die von Staaten, Polizeikräften, Militärs oder Unternehmen begangen wurden. Gemeinsam mit David Wengrow, Professor am Institut für Archäologie am University College London (UCL) und Coautor des Buches „The Dawn of Everything: A New History of Humanity“, brach Forensic Architecture in neue Gewässer auf. Das Projekt „Die Nebelivka Hypothese“ wirft einen Blick zurück in die entfernte Vergangenheit der Menschheit. Dabei stellt es die Annahme von hierarchischen Städten und Staaten als Höhepunkt und Ziel der menschlichen Entwicklung infrage.
Egalität statt Hierarchie
Mitten in der fruchtbaren Steppenlandschaft der Zentral-Ukraine fanden Archäologen Spuren menschlicher Siedlungen, die so groß und so alt waren wie Uruk, sich in ihrer Struktur jedoch grundsätzlich von der mesopotamischen Stadt unterschieden. Eine dieser Siedlungen war die antike Stadt Nebelivka. Sie besaß weder Tempel und Paläste, noch eine zentrale Administration. Lediglich Wohnhäuser in gleicher Größe waren konzentrisch um eine leere Mitte herum organisiert. Die Forschenden fanden keine Spuren zentralisierter Kontrolle oder sozialer Schichten – die Organisation Nebelivkas wies auf eine egalitäre Gesellschaftsform hin. Deshalb stellten sie sich die Frage, inwiefern die Entdeckung von Nebelivka die übliche Definition einer Stadt herausfordert.
Archäologische Methoden
Von Nebelivka existieren keine Überreste von Mauern oder Fundamenten – nur Töpfe und Figuren aus Ton fanden Archäolog*innen bei Ausgrabungen. Die Spuren der antiken Stadt sind als schwache topografische Unregelmäßigkeiten auf Luft- und Satellitenbildern zu erkennen. Forensic Architecture und David Wengrow griffen deshalb auch auf nicht-extraktive Methoden wie Simulationen, Fotogrammetrie oder Fernerkundung zurück, bei denen Erkenntnisse gewonnen werden können, ohne den Boden öffnen zu müssen. Mit einem Magnetometer, einem Gerät zur Messung von Magnetfeldern, konnten beispielsweise winzige Unterschiede in der Bodendichte und im Magnetismusgrad ermittelt werden.
Der Erdboden als Artefakt
Die Wissenschaftler*innen betrachteten den Erdboden, auf dem Nebelivka stand, nicht nur als Ort für Ausgrabungen, sondern als eigenständiges archäologisches Artefakt. Der besonders fruchtbare Boden in der Zentral-Ukraine wird als Tschernosem oder Schwarzerde bezeichnet. Bodenanalysen offenbarten, dass die Bewohner*innen der antiken Stadt einen besonders geringen ökologischen Fußabdruck hinterließen. Nicht nur das – Untersuchungen deuteten darauf hin, dass die Anbaumethoden der Siedler*innen womöglich die Entstehung von Tschernosem begünstigten oder sogar stimulierten.
Die Nebelivka Hypothese besagt folglich, dass in der Vergangenheit egalitäre Gesellschaften in städtischen Strukturen lebten, dass diese sanft mit ihrer Umwelt umgingen oder sie sogar bereicherten. Wenn wir die Definition einer Stadt anpassen und Nebelivka als eine solche bezeichnen würden, müsste sich folglich die Genealogie der Stadt – die auf Hierarchie und Extraktivismus beruht – verändern. Eine Ausstellung zur Nebelivka Hypothese kann noch bis zum 26. November 2023 im Arsenale der 18. Architekturbiennale in Venedig besucht werden.