Die Flügel ausbreiten: Pavillon mit selbstformendem Holztragwerk
In der Tradition der Stuttgarter 1:1 Forschungspavillons gibt es ein neues innovatives Projekt: HygroShell. Noch bis zum 31. Dezember 2023 kann die ultraleichte Schalenkonstruktion auf der Chicago Architecture Biennal besichtigt werden.

Materialeigenschaften zunutze gemacht: Das interdisziplinäre Projektteam um Prof. Achim Menges vom Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung und Prof. Jan Knippers vom Institut für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen der Universität Stuttgart hat eine Leichtbaukonstruktion entworfen und umgesetzt, die sich der hygroskopischen Eigenschaften von Holz bedient. Während Holz üblicherweise im getrockneten Zustand verbaut wird, um Ungenauigkeiten durch späteres Schwinden in Tragstrukturen oder Verkleidungen zu vermeiden, macht sich HygroShell genau dieses Merkmal zu eigen. Die Formveränderung im Laufe der Trocknung ist beim Entwurf und Produktionsprozess für den Pavillon einkalkuliert, unterstützt durch computerbasierte Modellierungs-, Simulations- und Fertigungsverfahren.

Selbstformung dank der hygromorphen Eigenschaften von Holz
Der Pavillon misst etwa fünf mal zehn Meter und besteht aus sich verschneidenden Flügelelementen, die den Raum in Längsrichtung überspannen. Jedes Element wird im Werk als zweischalige Platte mit kreuzweise verleimten Holzschichten unterschiedlichen Feuchtegehalts hergestellt. Aufgrund der flachen Geometrie können die Platten mit herkömmlichen Vorfertigungsmethoden zusammengesetzt und einfach transportiert werden. Vor Ort werden sie vertikal positioniert und biegen sich unter Lufteinfluss auf. Während der Trocknungsphase entsteht die gebogene Flügelform passiv ohne menschliches Zutun. Sobald sie ihre endgültige Geometrie erreicht haben, werden sie mit den benachbarten Elementen zu einer geschlossenen Überdachung verschraubt. Um weitere Formveränderungen zu verhindern, wird auf die Unterseite des Pavillons zudem eine dünne Sperrholzschicht laminiert. Das Ergebnis ist eine filigrane Schalenkonstruktion auf drei Stahlfüßen mit großer Spannweite bei gerade mal 28 mm starkem Brettsperrholzquerschnitt.

Neuartige Konstruktionsweise mit geringem Materialbedarf
Obwohl vor dem Hintergrund ökologischer Betrachtungen das Interesse an Holz als nachwachsendem Baustoff stark gestiegen ist, ist dessen Anwendung noch auf den klassischen Kanon der Konstruktionsmethoden beschränkt. HygroShell bricht mit den typischen statischen Typologien im Holzbau und verfolgt einen neuartigen Ansatz des materialgerechten, nachhaltigen Bauens. Die Leichtbauschale lässt sich dank des vertieften Materialverständnis und der digitalen Berechnungsmethoden als sehr schlanke Konstruktion mit geringem Materialbedarf realisieren. Zudem ermöglicht das digitale Datenmodell mit brettgenauen Informationen in Echtzeit und die strategische Planung der Verbindungsdetails einen verringerten Aufwand auf der Baustelle.

Forschung im Maßstab 1:1
HygroShell reiht sich in die Tradition der erfolgreichen 1:1 Forschungspavillons im experimentellen Leichtbau, die an der Universität Stuttgart entwickelt und umgesetzt wurden. Darunter der livMatS Pavillon im Botanischen Garten der Universität Freiburg, dessen tragende Struktur aus von Robotern gewickelten Flachsfasern besteht, und der BioMat Pavillon, bei dem Flachs- und Hanffasern in bambusartigen Profilen das Tragwerk bilden. Die Projekte entstehen in interdisziplinären Teams von Architekt*innen und Ingenieur*innen der Universität Stuttgart unter der Beteiligung von Studierenden. Mithilfe computerbasierter Verfahren werden materialoptimierte Entwurfsansätze ausgelotet und in neue Konstruktionsweisen überführt. Das aktuelle Projekt HygroShell kann noch bis zum 31. Dezember 2023 auf der Chicago Architecture Biennial besichtigt werden.
Ein Text von Uta Gelbke
