Von Kakteen inspiriert: „livMatS Pavillon“ aus robotisch gewickelten Flachsfasern

An einer nachhaltigen, ressourceneffizienten Alternative zu konventionellen Bauweisen forscht ein interdisziplinäres Team der Universitäten Stuttgart und Freiburg. Das Ergebnis der Zusammenarbeit ist der „livMatS Pavillon“ im Botanischen Garten der Universität Freiburg, dessen tragende Struktur aus von Robotern gewickelten Flachsfasern besteht.

Außen spiegelglatt, innen ein komplexes Geflecht aus rauen Fasern – Umgeben von viel Grün erhebt sich auf einem kreisrunden Grundstück im Botanischen Garten der Universität Freiburg ein Pavillon mit einer netzartigen Konstruktion. Die tragende Struktur des „livMatS Pavillons“ besteht ausschließlich aus Flachsfasern, die von Robotern in Form gelegt wurden. Das Bauwerk ist das Ergebnis der erfolgreichen Zusammenarbeit  eines interdisziplinären Teams von Architekt*innen und Ingenieur*innen des Masterstudiengangs „Integrative Technologies & Architectural Design Research“ (ITECH) am Exzellenzcluster „Integrative Computational Design and Construction for Architecture“ (IntCDC) der Universität Stuttgart und Biolog*innen des Exzellenzclusters „Living, Adaptive and Energy-autonomous Material Systems“ (livMatS) an der Universität Freiburg. Der Pavillon zeigt auf eindrückliche Weise das Potenzial einer Verknüpfung von Naturwerkstoffen mit modernen digitalen Technologien. 

Die Natur zum Vorbild

Das filigrane Erscheinungsbild der konstruktiven Elemente lässt einerseits an traditionelle Flechtwerke und andererseits an biologische Strukturen denken. Dies liegt daran, dass zwei Kateenarten, die sich durch ihre besondere Holzstruktur auszeichnen, als Vorbild für den Pavillon dienten. Ähnlich wie die Flachsfaserelemente des Pavillons besteht der Saguro-Kaktus aus einem zylinderförmigen Holzkörper mit netzartiger Struktur, der innen hohl und dadurch besonders leicht ist. Das Gewebe der abgeflachten Seitentriebe des Feigenkaktus durchziehen ebenfalls netzartige Holzfaserbündel, die in Schichten angeordnet und miteinander verbunden sind, wodurch es besonders belastbar ist. Die gesamte Faserkonstruktion wiegt bei einer Gesamtfläche von 46 Quadratmetern nur 1,5 Tonnen und ist für die vollen Schnee- und Windlasten der gültigen Bauvorschriften ausgelegt.

Flachs statt Synthetik

Flachsfasern wurden seit Jahrtausenden für die Herstellung von Textilien verwendet, bis sie ab dem 18. Jahrhundert durch Baumwolle ersetzt wurden. In ihren mechanischen Eigenschaften sind sie mit synthetischen Glasfasern vergleichbar, jedoch steckt in ihnen viel weniger graue Energie. Die natürlichen Fasern sind in Mitteleuropa regional verfügbar, wachsen in jährlichen Erntezyklen und sind vollständig erneuerbar und biologisch abbaubar. Das Team von Architekt*innen und Ingenieur*innen des Instituts für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung (ICD) und des Instituts für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen (ITKE) der Universität Stuttgart hat das Potenzial von Naturfasern, insbesondere Flachsfasern, als vielversprechende und nachhaltige Alternative zu synthetisch hergestellten Fasern im Bauwesen eingehend untersucht. Die Forscher*innen kamen zu dem Schluss, dass natürliche Faserverbundstoffe, wie sie in dem Pavillon in Freiburg verbaut wurden, eine hervorragende Grundlage für die Entwicklung innovativer, ressourcenschonender Bauanwendungen bieten.

Robotergesteuerte Fertigung

Die tragenden Bauelemente des Pavillons wurden mit einem von ICD und ITKE entwickelten kernlosen Wickelverfahren hergestellt. In einem additiven Fertigungsverfahren legen Roboter Faserbündel präzise auf einen Wickelrahmen. Wie beim biologischen Vorbild können die Orientierung, Ausrichtung und die Dichte der Fasern gezielt gesteuert werden. So können in demselben modularen Wickelrahmen passgenau unterschiedliche Arten von Bauteilen gefertigt werden, ohne dass es eines zusätzlichen Formenbaus oder Kerns erfordert. Insgesamt wurden für den Pavillon fünfzehn Flachsfaserelemente produziert, die in ihrer Länge zwischen 4,5 und 5,5 Metern variieren und im Durchschnitt 105 Kilogramm wiegen.

Ursprünglich wurden die Arbeitsabläufe der robotischen Fertigung für synthetische, homogene Materialien entwickelt. Aus diesem Grund mussten die Prozesse an die heterogenen Materialeigenschaften der Flachsfasern angepasst werden. Da das natürliche Material generell nicht so resistent gegen Umwelteinflüsse ist wie synthetische Werkstoffe, wurde der Pavillon mit einer wasserdichten Haut aus Polycarbonat versehen. Diese schützt nicht nur die Besucher*innen, sondern auch die Faserkomponenten vor direkter UV-Strahlung und Niederschlag.

 

Ein Rückblick auf die Forschungspavillons

Der livMatS Pavillon ist der neunte gebaute Forschungsdemonstrator der IDC und ITKE. Was vor über einem Jahrzehnt als eine institutsübergreifende Entwurfsaufgabe anfing, entwickelte sich dank dem zunehmenden Interesse der Studierenden zu einem internationalen forschungsorientierten Studiengang. Das seit 2012 laufende ITECH Masterprogramm ermöglichte das Skalieren der iterativen Aufgabenstellung des Forschungspavillons über die ursprüngliche Zielsetzung in der Lehre hinaus. Studierende der Architektur, des Bauingenieurwesens und verwandter Ingenieurwissenschaften, der Informatik und Naturwissenschaften werden jedes Mal gefordert, alle Projektphasen – Forschung, Planung, Ausführung und Abbau – zu steuern. Die Teams wurden immer vielfältiger und überzeugten vermehrt weitere Forschungsinstitutionen, Bauherren und Partner aus der Industrie. Die Geschichte, der theoretische Überbau und die ausführlichen Projektdetails dieser erfolgreichen Forschungskooperation werden in der Publikation „Architektur Forschung Bauen: ICD/ITKE 2010-2020“ (Birkhäuser Verlag, 2020) illustriert. 

Transferleistung für die Baupraxis

Kleine, überschaubare Bauten mit großer medialer Wirkung: Die IDC/ITKE Forschungspavillons sind ein Schaufenster für ambitionierte Forschungsansätze und experimentelle Technologien. Sie vereinen Lehre und Forschung in einem pädagogischen Experiment. Das umfangreiche Forschungsteam definiert jedes Mal den Status Quo der Forschung neu. Aber noch wichtiger als die bauliche Verwirklichung jedes einzelnen Pavillons ist die Botschaft, die sie tragen. Mit einer kritisch-proaktiven Haltung zeigen sie, so Achim Menges und Jan Knippers, das gesamte Potenzial digitaler Technologien auf, mit dem Ziel den Plan- und Bauprozess durch wegweisende Innovation grundsätzlich zu verändern.