Der Aal, die Mitgift und das Nähmädchen: Über die unsichtbaren Orte der Textilproduktion
Anhand einer fiktiven Cyborgfigur thematisierte Bianca Zucchelli in ihrer preisgekrönten Masterarbeit das Leben der Näherinnen in Norditalien, die die wirtschaftliche und städtebauliche Entwicklung ihres Heimatdorfes prägten.
Bianca Zucchelli recherchierte die Geschichte der Kleinstadt ihrer Großmutter, Comacchio, die ein Jahrhundert lang als eine scheinbar grenzenlosen Textilfabrik unter freiem Himmel fungierte. Die von Frauen betriebenen Produktionsstätten verbargen sich hinter alltäglichen Typologien wie Häusern, Straßen und Klostern. Eine historisch-poetische Rekonstruktion eines komplexen sozialen und urbanen Gefüges, das von einer fiktiven Figur zum Leben erweckt wird: Biancas Abschlussarbeit, die Edwina Attlee an der Bartlett School of Architecture (UCL) betreute, erhielt den RIBA President’s Dissertation Award 2024 und den Dissertation Prize from the Society of Architectural Historians of Great Britain.
In der kleinen norditalienischen Stadt Comacchio drehen sich die traditionellen Erzählungen oft um die Lagune und die Fischer, die sich in die Gewässer und das hohe Gras wagten. Doch hinter dieser bekannten Erzählung verbirgt sich die kaum beachtete Arbeit der Frauen und ihre tiefgreifenden Auswirkungen auf die Wirtschaft und das soziale Gefüge der Stadt. Im frühen 20. Jahrhundert, als Armut und Isolation das Leben in Comacchio bestimmten, hielten die Frauen im Stillen eine florierende Textilindustrie aufrecht. Durch kleine Geldbeträge im Austausch gegen „Akkordarbeit“ sicherten sie den Lebensunterhalt ihrer Familien. Diese Arbeit, die aus der Mitgiftproduktion entstand, prägte auch den städtischen Raum, in dem sie lebten und arbeiteten.
Anders als in Städten mit zentralisierten Fabriken, war die Textilproduktion in Comacchio über zahlreiche Häuser, Straßen, Klöster und Labore verstreut. Mit seinen informellen und flexiblen Arbeitsplätzen zeugt das städtische Gefüge von der Kreativität und Widerstandsfähigkeit der Frauen, die Comacchio in eine Textilfabrik unter freiem Himmel verwandelten. Diese Industrie beeinflusste ihr Leben von Kindheit an. Die Mädchen lernten in Klöstern und Familien, kunstvolle Mitgift zu fertigen, was ihnen die Werte einer guten Hausfrau vermitteln sollte. Dieser Brauch symbolisierte mehr als nur häusliche Vorbereitung; er spiegelte gesellschaftliche Erwartungen, wirtschaftliches Kapital und die räumlichen Beschränkungen wider, die Frauen auferlegt wurden.
Durch kreatives Schreiben, das den Prinzipien des kritischen Fabulierens folgt, wird das Leben einer Näherin neu erfunden. Anna-Aal, ein Cyborg, der halb Mädchen und halb Aal ist, symbolisiert die verflochtenen menschlichen und nicht-menschlichen Elemente von Comacchios Identität. Die fiktionale Figur schließt Archivlücken, um die Arbeit, Widerstandsfähigkeit und Zwänge der Frauen anschaulich darzustellen. Diese fantasievolle Erzählung rekonstruiert ihre täglichen Bewegungen und Aktivitäten und bietet Einblick in das breitere Zusammenspiel von Arbeit, Raum und sozialen Erwartungen.
Die Arbeit kombiniert Interviews, Archivquellen und theoretische Argumente. Die Ergebnisse werden in den breiteren sozio-politischen Kontext der Industrialisierung und Lohnarbeit eingeordnet, die als Katalysatoren für die räumlichen und finanziellen Beschränkungen der weiblichen Arbeitskräfte in Comacchio wirkten.
„The Eel, the Dowry, and the Seamstress“ (Der Aal, die Mitgift und die Näherin) hinterfragt die traditionelle Erzählung über Comacchio und behauptet, dass die Geschichte der Stadt unvollständig bleibt, wenn man die zentrale Rolle der Frauenarbeit nicht anerkennt. Ihre oft übersehene Arbeit prägte das sozioökonomische Gefüge der Stadt und offenbarte die Wechselwirkung zwischen Geschlecht, Arbeit und Raum. Indem sie diese verborgenen Geschichten beleuchtet, sorgt die Thesis dafür, dass die Stimmen und Beiträge der Frauen von Comacchio nicht länger an den Rand gedrängt, sondern als entscheidend für die Geschichte der Stadt anerkannt werden. So wird die Geschichte einer Stadt zurückgewonnen, die nicht nur von den Männern geprägt wurde, die in ihren Gewässern fischten, sondern auch von den Frauen, die ihre Identität ausmachten.
Bianca Zucchelli verfasste den Originaltext auf Englisch, der maschinell übersetzt und von BauNetz CAMPUS redaktionell geprüft wurde.