#ToBeContinued: Zwischen sozialtheoretischen Diskursen und architektonischer Praxis

In ihrer Diplomarbeit „Living Within" beschäftigte sich Andrea Giger mit dem sensiblen Thema Flüchtlingsunterkunft und hinterfragte dabei kritisch ihre Rolle als Architektin. #ToBeContinued ist von Beginn ihrer Analyse bis zur architektonischen Ausarbeitung und wissenschaftlichen Weiterarbeit mit dabei.

Bevor sie sich der Architektur widmete, studierte Andrea Giger Soziologie und Kunstgeschichte. Ihre dort erworbenen sozialwissenschaftlichen Fähigkeiten konnte sie in ihrer Masterthesis am Chair of Affective Architectures an der ETH Zürich mit ihrem entwerferischen Können verbinden. Im Züricher Stadtteil Oerlikon stieß sie auf das Durchgangszentrum, eine temporäre Unterkunft für Asylsuchende, das zum Gegenstand ihrer Arbeit wurde. Nach einer tiefgreifenden Untersuchung entwickelte sie neue Wohnkonzepte für geflüchtete Menschen. Heute befasst sich Andrea als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department of the Ongoing weiterhin mit sozialtheoretischen Themen, die bereits in ihrer Diplomarbeit Relevanz zeigten. Daneben fand sie mit einem Umbauprojekt den Weg in die eigene Praxis.

#ToBeContinued präsentiert Abschlussprojekte, die eine Geschichte erzählen: Konzepte, die weiterentwickelt und umgesetzt wurden und den Absolvent*innen einen erfolgreichen Berufseinstieg ermöglicht haben.

Am Rande der Gesellschaft

Andreas Arbeit war Teil des Masterthemas „Beyond Type (#2) – The Zürich Undercommons“, das von Prof. An Fonteyne betreut wurde. Die Studierenden sollten sich mit Orten beschäftigen, die entscheidend für das Funktionieren der Stadt sind, aber dennoch oft in die Peripherie verdrängt werden: Frauenhäuser, Waschsalons für Hotelwäsche, provisorische Unterkünfte für Bauarbeiter*innen, Großküchen, Asylzentren. Das Fachgebiet bezeichnet die Praktiken, die an diesen Orten stattfinden, als „Undercommons“ – ein Begriff, der der gleichnamigen Publikation von Stefano Harney und Fred Moten entlehnt ist. In der intensiven Betrachtung der „Undercommons“ läge die Chance, Anhaltspunkte für eine vielschichtigere und inklusivere Architektur zu finden, die generische Typen überwindet.

Sensible Untersuchung

Aus Gesprächen mit Asylsuchenden und politischen Akteuren, präzisen Beobachtungen und ausführlichen Recherchen über das Durchgangszentrum entwickelte Andrea einerseits einen Audiowalk. Dieser machte die Diskrepanz zwischen den tatsächlichen Bedürfnissen der Geflüchteten und der räumlichen Realität des Durchgangszentrums hör- und sichtbar. Andererseits stellte sie in einer Zeitung philosophische Grundgedanken der vorherrschenden Flüchtlingspolitik gegenüber. Eindrückliche Zeichnungen machten die konkreten räumlichen Konditionen des Asylzentrums greifbar.

Verbinden statt trennen

Andrea erkannte in der Gestaltung des Durchgangszentrums ein weiteres Indiz für eine Flüchtlingspolitik, die auf Isolation anstatt auf Integration setzt. Daraufhin entwarf sie für die alten Industriehallen der Maschinenfabrik Oerlikon (MFO) eine Vision für eine Nachnutzung als Wohnort für Asylsuchende. Von kleinen, privaten Zimmern, über den „extended room“, bis hin zu einer Wohngasse nahm der Öffentlichkeitsgrad der Räume progressiv zu. Ein besonderes Augenmerk in der Gestaltung legte sie dabei auf die Schwellenräume, die nun nicht mehr trennen, sondern verbinden sollen - insbesondere mit der lokalen Bevölkerung.

Die Frage nach der Verantwortung

Über ihre Diplomarbeit hinweg begleitete Andrea stets die Frage nach der Verantwortung von Architekturschaffenden. Wenn sich politische Absichten in räumlichen Strukturen zeigen, kann man dann mit Architektur versuchen, diese zu verändern?

„Ich bin bis heute in dem Spannungsfeld einer eher diskursorientierten, philosophisch-historischen Disziplin, was meine Erstausbildung ist, und einer Disziplin des Intuitiven und des Entwerfens, was einen anderen Aspekt des Handelns und Denkens für mich beinhaltet.“ Andrea Giger

Inzwischen setzt sich Andrea im Rahmen einer wissenschaftlichen Assistenz am Department of the Ongoing mit der Erarbeitung einer Publikation auseinander. Auf der Basis von weiteren Lehrveranstaltungen des Fachgebiets, die wie Andreas Diplomarbeit die Veröffentlichung „The Undercommons: Black Study and Fugitive Planning“ (2013) behandelten,  soll das geplante Buch ein Licht auf die vernachlässigten Praktiken der „Undercommons“ werfen. Diese sollen dabei helfen, über eine alternative räumliche Praxis zu spekulieren. Andrea sieht sich in einer Vermittlerrolle – sowohl in ihrer wissenschaftlichen als auch in ihrer planerischen Arbeit. Ihren Prinzipien will sie genauso in der Praxis treu bleiben: Aktuell ist sie mit einem Umbauprojekt beschäftigt. Eine Vertiefung der Themen ermöglicht ihr auch das Reisestipendium des HOTZ Förderpreises, den sie für ihre Masterthesis gewonnen hat. Die vielseitigen Interessen, die sich in Andreas Masterdiplom abzeichneten, kann sie damit auch nach ihrem Abschluss einbringen.